Link: www.adhs.ch (extern) (Archiv-Version vom 16.03.2008)was genau tut dir da bei den Kindern Leid?
Und was meinst du treibt die Eltern?
Mach mal einen Vorschlag wie es ohne ´normalmachen´ gehen soll ohne die Kinder und erwachsene Betroffenen vor Überforderungen und den Folgen (Depression, Drogenabhängigkeit, Traumata, psychische Behinderung, Berufsunfähigkeit, ... ) zu schützen.
Auszug aus
Dumm, faul, unfähig....“: ADHS bei Jugendlichen und Erwachsenen" - Grundlagen, Erscheinungsformen, Psychologie der ADHS
von Piero Rossi:
Psychische Folgen der ADHS
In meiner Praxis werden vorwiegend Kinder, Jugendliche und erwachsene Personen mit Verdacht auf ADHS untersucht und behandelt. Ich durfte in meiner Untersuchungstätigkeit in den letzten Jahren rund 200 Frauen und Männer zwischen 18 und 63 kennen lernen, welche an ADHS leiden. Bei ihnen wurde die ADHS wenn überhaupt, dann nur bis zur Pubertät behandelt. Und mit der Pubertät haben sich bei meinen Patienten die ADHS-Symptome leider nicht ausgewachsen. Sie haben sich im Gegenteil nachhaltig und behindernd auf ihren ganzen Lebensvollzug ausgewirkt. Viele dieser erwachsenen, ADHS-betroffenen Frauen und Männer haben ein Leben lang gekämpft, nicht nur mit sich selbst, sondern vor allem mit ihrer Umwelt:
Viele sind gekennzeichnet von einem Schultrauma, einem Lerntrauma, einem Lehrertrauma, einem Geschwistertrauma, einem Familientrauma, einem Ausbildungstrauma, einem Arbeitsplatztrauma, Beziehungstrauma, einem Psychologentrauma, einem Kindertrauma, einem Ehemann- oder Ehefrautrauma usw.
Viele von ihnen hörten Dutzende und Aberdutzende von Malen, sie sollten sich mehr anstrengen, mehr Willen zeigen, sich endlich zusammenreissen, gefälligst innehalten und zuhören, wenn man mit ihnen redet und nicht immer zu spät zu kommen und versprochene Dinge endlich einhalten. Mit einem Wort: Sie sollten die Eltern, den Lehrer, den Partner die eigenen Kinder, einfach das Gegenüber endlich, endlich einmal ernst nehmen. Oder sie sollen bitte, bitte aufhören, Zugesagtes extra zu vergessen oder Sachen absichtlich fünfmal zu fragen, nur um andere zu provozieren.
Schon in der Schule bekundeten die meisten meiner erwachsenen ADHS-PatientInnen grosse Mühe, sich Dinge zu merken, der Lehrerin richtig zuzuhören, an einer angefangenen Sache in einem einigermassen vernünftigen Rahmen dranzubleiben und diese auch abzuschliessen. Der am Schulhaus mit dem Mofa vorbeifahrende Postbote, das eine etwas zu kurze Hosenbein des Lehrers oder das Zirpgeräusch beim Öffnen einer Tempo-Taschentuchpackung reichten, um die eigene Aufmerksamkeit vom gerade besprochenen Thema wegzulocken.
Lernen daheim war – wenn überhaupt Hausaufgaben erledigt wurden – ein ewiger Kampf: Und falls überhaupt für die Schule gelernt wurde, dann nur unter Bewachung der Mutter und in späteren Schuljahren entweder spät abends oder am Morgen im Zug. Auf jeden Fall aber immer auf den letzten Drücker. Entweder man kapierte etwas sofort, es wurde im Hirn quasi abfotografiert, oder man begriff es gar nicht oder nur sehr, sehr, sehr mühsam. Aber auch wenn zu Hause gelernt wurde: Viele meiner ADHS-Patienten berichteten mir von ihren leidhaften Erfahrung, wenn mühsam erworbenes Wissen beim Aufgerufenwerden in der Klasse oder bei Prüfungen, einfach nicht aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen war.
Die Folgen dieser kleinen und grossen Traumata für alle ADHS-Betroffenen sind, dass sie nämlich rundherum in leibhaftigen und meist schmerzhaften Erfahrungen mehr oder weniger direkt zurückgespiegelt bekommen haben, dass sie auf eine offenbar unangenehme Art anders sind als die andern, ohne aber selbst wirklich zu verstehen, wie und warum das so ist. Dann hören, spüren und schlussfolgern sie manchmal schon nach der 2. Klasse, dass sie dumm sein müssen: Denn, wäre dem nicht so, müsste es ja besser gehen in der Schule, in der Ausbildung, in der Erziehung, bei der Organisation der Haushaltsführung oder im Berufsleben. Wenn sie nämlich intelligent genug wären, dann könnten sie Dinge besser planen, würden nicht immer wieder unüberlegte Spontanhandlungen begehen, könnten sich Sachen besser merken, würden mehr denken, bevor sie den Mund aufmachen und wären disziplinierter und viel weniger chaotisch. Mit Intelligenz würden sie sich auch weniger verzetteln oder nicht wie jetzt an unwichtigen Details hängen bleiben, würden die eigenen Kinder einigermassen normal erziehen können, auch einfache Dinge im Haushalt auf die Reihe kriegen und u.a. es auch im Beruf eindeutig weiter bringen.
Dann bekommen ADHS-Betroffene durch ihre Umwelterfahrungen mehr oder weniger direkt gespiegelt, dass sie faul sind: Menschen, die Vieles vor sich herschieben, die schnell ins Trödeln und Träumen kommen, die morgens nicht recht wach werden, denen schnell alles zuviel wird, die sich zurückziehen und z.B. das Arbeitspensum reduzieren müssen; Menschen, welche die Schul-, Alltags- aber auch ihre Lebensaufgaben nicht zeitig anpacken, den Startknopf nie recht finden und eine lange Leitung haben und Menschen, die schon in der Schule den Ruf hatten, Minimalisten zu sein.... Ja, das sind eben faule, und im Grunde genommen unfähige Menschen.
Schliesslich schlussfolgern ADHS-Betroffene durch ihre wiederholte Erfahrungen mit ihrer Umwelt, dass sie schlecht sind, denn sonst würden sie nicht immer wieder anecken, andere – weil sie sich einfach nicht genügend beherrschen können - verletzen und enttäuschen und sich in Auseinandersetzung verwickeln und Dinge sagen, die sie kurz danach wieder bereuen. Schlecht müssen sie wahrscheinlich auch deswegen sein, weil die andern ja im Grunde genommen recht haben, wenn sie einem Unzuverlässigkeit, Unfähigkeit, Gereiztheit oder Unbeherrschtheit vorwerfen. Schliesslich ist ein guter Mensch pünktlich, erinnert sich an Verabredungen, erledigt Versprochenes termingerecht, packt an, verlegt und vergisst nicht dauernd Sachen, lässt sich nicht gleich provozieren, flippt nicht immer gleich aus, verfügt über ein Mindestmass an Geduld und kann sich vor allem beherrschen.
Ein elfjähriger ADHS-Bub sagte mir kürzlich: „Gott hat mir schwarzes Blut gegeben, sonst wäre ich nicht so böse“. Ähnliches beichten mir Erwachsene von ihrer Kindheit – und zwar in einer Art und Betroffenheit, als wäre es erst gestern geschehen. Auch das, meine Damen und Herren, das kann nicht spurlos an der Seele eines Kindes, eines heranwachsenden oder eines erwachsenen Menschen vorbeigehen.
Wie fühlt man sich mit „schwarzem Blut“? Wer will schon die Erwartungen der Eltern oder des Partners enttäuschen? Wer will schon eigene Vorsätze nicht einhalten können? Und ADHS-Betroffene können das oft nicht und geraten in der Folge in eine Schuld sich selbst und eine Schuld den Erwartungen anderer gegenüber.
Von meinen ADHS-Patienten/Patientinnen weiss ich, dass sie auch als Erwachsene oft im Denken oder Handeln nicht rechtzeitig abbremsen können, sie können sich nicht konzentrieren, wenn etwas monoton und gleichförmig ist, können sich nicht an eigene Vorsätze halten, verpatzen Prüfungen, sie verlauern Dinge und enttäuschen den Lehrer, die Eltern, die Vorgesetzten, ihre Freunde und ihre Ehepartner, welche – die positiven Möglichkeiten und das Potential durchaus richtig erkennend – eigentlich mehr von einem erwarten.
Weil ADHS-Kinder und ADHS-Erwachsene sich bei für sie interessanten Sachen sehr gut zu konzentrieren vermögen, hören sie immer wieder: „Siehst Du, wenn Du willst, dann kannst Du es auch. Also reiss Dich gefälligst auch dort und dort zusammen!“ Weil es bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS aber nicht am fehlenden Willen, sondern am Nicht-Können liegt, und weil das weder die Lehrer, noch Psychologen, noch die Eltern, noch man selbst begreift, bleiben meistens nur Erklärungen übrig, welche tiefe Wunden in der Seele hinterlassen können: „Ich kann mich nicht beherrschen, kann Versprechen und eigene Vorsätze nicht einhalten, also bin ich schlecht“.
Da diese Menschen selbst - aber natürlich auch die Personen in ihrer Umgebung - keine Worte, keine Sprache und kein Erklärungsmuster haben, um das eigene Verhalten begreifen, verstehen und schliesslich auch verarbeiten zu können, ja was bleibt da? Es ist das „schwarze Blut“, die eigene Schlechtigkeit: „Ja, da ist man wohl wirklich selber schuld“.
Die heute wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass in reizarmen, monotonen oder langweiligen Alltags- und Routinesituationen die Aufmerksamkeit, die Aufnahme- und Selbststeuerungsfähigkeiten von bei ADHS-Betroffenen aus hirnorganischen Gründen regelrecht einbrechen, bleibt – solange man die ADHS und ihre Ursachen nicht kennt – für alle Beteiligen unfassbar. In der Psychotherapie von Jugendlichen und Erwachsenen ist es deswegen zentral, dass die Patienten/Patientinnen verstehen lernen, wieso sie so sind, wie sie sind. Wissen und Sich-Verstehen sind wichtige Voraussetzungen, um sich akzeptieren zu können.
Die ADHS-Kernmerkmale werden mit fortschreitendem Alter immer mehr von Lebenserfahrungen und sekundären psychischen Symptomen überlagert. Je älter ADHS-Betroffene werden, umso mehr leiden sie zusätzlich zu den ADHS-Grundproblemen an den psychischen Folgen. Sie leiden also je länger um so mehr nicht nur an der ADHS-Problemen in ihrer Gegenwart, sondern auch an ihrer persönlichen Vergangenheit, die ihnen psychisch zu schaffen macht. So kommt immer wieder vor, dass auf der Alltagsoberfläche nur noch Schulverweigerung, Trotzverhalten, Depressionen, Suchterkrankungen, Angststörungen oder psychosomatische Erkrankungen sichtbar sind.
Da die ADHS erwiesenermassen zu Depressionen, Suchterkrankungen, Angst- oder Zwangsstörungen führen kann oder parallel zu diesen Krankheiten auftritt, so muss heute bei diesen Erkrankungen dann auch an ADHS gedacht werden, wenn die Patienten bei diesen psychischen Erkrankungen auf herkömmliche Therapien nicht reagieren. Das gilt auch für delinquente Jugendliche. Mich wundert es, dass die Jugendanwaltschaften (Jugendgerichte) die Informationen über ADHS noch nicht aufgearbeitet haben, denn es gilt als sicher, dass es unter den minderjährigen Straftätern viele ADHS-Betroffene gibt.
Es ist nachvollziehbar, wenn auch in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte, dass depressive Erkrankungen und Selbstzweifel mit zu den häufigsten Begleitstörungen der ADHS zählen. Und Schuldgefühle kennen wir schon bei ADHS-Kindern mit all ihren Folgen, welche sich schämen, wenn sie sich wieder nicht zusammenreissen konnten, wieder etwas umgestossen haben oder wieder eine schlechte Note heimbringen.
Und wie fühlt man sich, wenn man immer wieder beim plötzlichen Aufgerufenwerden in der Schule, bei einer Prüfung oder in einem Gespräch, wo schnelles Denken gefordert ist, etwas eben nicht schnell genug aus dem Langzeitgedächtnis abrufen kann? Wie fühlt man sich, wenn es stockt im Kopf? Und wenn es die andern merken, einen wartend ansehen und man – etwa im Schulunterricht – immer mehr Angst vor diesen Situationen bekommt? Nicht nur Depressionen und Selbstzweifel, nein, auch Prüfungsängste, Versagensängste, bei Erwachsenen Angststörungen überhaupt gehören zu den häufigen Begleitstörungen der ADHS.
ADHS-Betroffene leben manchmal zeitlebens in einem chronischen psychischen Zweifelzustand: Sie wissen nicht, wer und wie sie wirklich sind. Haben die andern mit ihren vernichtenden Vorwürfen vielleicht doch recht? Eine innere Stimme sagt: „Ja, du bist im Grunde schlecht, faul und unfähig und alles ist nur Bluff“. Eine andere innere Stimme sagt: „Nein, das ist nicht logisch, das kann nicht sein“. Später, ab der Pubertät und im Erwachsenenalter, ist es dann eine innere Stimme, die einem ständig sagt: „Zusammenreissen, zusammenreissen!“ oder “Mach endlich!“ oder „Du solltest doch...!“.
ADHS-Betroffenen fehlt so etwas wie in sich stimmiges Ich-Gefühl und ein seelischer Gleichlauf oder eine seelische Balance: Ständig sind sie auf der Suche nach sich selbst. Ihre Schul- und Berufskarriere gleicht nicht selten einer Irrfahrt. Sie besuchen Esoterikkurse, betreiben Risikosportarten, versuchen sich im Glückspiel oder verbeissen sich in andere Tätigkeiten, sind süchtig nach Sex und Seitensprüngen oder sie trinken und trinken.
Ihr Leben verläuft innerlich und/oder äusserlich immer so, dass sie ständig Gegensteuer geben müssen, wie bei einem alten VW, der viel Lenkradspiel hat, man muss mit dem Lenkrad immer nach links und dann nach rechts korrigieren. Alles läuft in Extremen: Entweder ist die Stimmung oben oder sie ist im Keller, entweder ist Energie vorhanden oder sie fehlt.
Die meisten mir bekannten Menschen mit ADHS konnten ja ihre persönlichen Begabungen und ihr geistiges Potential gar nie richtig ausbilden: Lehren wurden abgebrochen, das Gymnasium – weil man trotz guter Intelligenz nicht lange stillsitzen und zuhören vermochte - gar nicht erst besucht, Beziehungen werden schnell langweilig oder man wird verlassen vom Partner. Wirklich klar ist diesen Menschen dann oft nur eins, dass nämlich etwas mit ihnen nicht stimmt. Und das soll aber möglichst niemand entdecken.
Sie suchen - oft mit erstaunlichen, leider aber zeitlich meist limitiertem Erfolg - ideologische Ersatzidentitäten oder klammern sich an Bildern fest, die nicht wirklich die ihren sind. Im Hintergrund oder im Unterbewusstein lauern tief sitzende Grundannahmen über sich selbst, die sich in erstaunlich vielen Fällen aus den Attributen: anders, dumm, faul, schlecht, schuldig und unfähig zusammensetzen lassen. Erstaunlich auch, wie viele der erwachsenen ADHS-Betroffen ein Leben lang meist unbewusst dagegen kämpfen, dass sich diese, tief im eigenen Ich sitzenden vermeintlichen Grundwahrheiten, nicht eines Tages doch entdeckt werden oder sich bewahrheiten könnten.
Es ist übrigens kein Zufall, dass unter den Workaholikern auch viele Männer mit dem ADHS-Syndrom zu finden sind: Sie schuften und krampfen bis zum Burnout, zum Magengeschwür, zur Ehescheidung oder zum Infarkt. In den Untersuchungsgesprächen und vor allem im Rahmen der Therapien höre ich von diesen Menschen häufig: „Ich habe nie etwas wirklich gut hingekriegt oder gekonnt, alles ist nur ermogelt oder durch Zufall zustande gekommen, bei mir ist alles nur Fassade und ich vor allem bin müde“. Selbst echte Erfolge – und ADHS-Betroffene können sehr leistungsfähig sein, wenn das Drumherum stimmt - werden nicht mehr richtig bewertet. Unheilvoll ist, dass durch die lebenslang anhaltenden Probleme meine ADHS-Patienten sich auch immer wieder Situationen erschaffen oder sich diese hineinmanövrieren, in denen diese Grundannahmen bestätigt werden.