Interested schrieb: Kann ich verstehen. Ich sage ja, Du bist sehr reflektiert und auch sehr, sehr ehrlich. Aber es gibt auch ein DU, was was wert ist. Ich weiß, hört sich an wie ne hohle Phrase - ist aber was dran. Die Ängste sind auch verständlich, aber Du bist auch ein wichtiger und wertvoller Mensch. Die Kindheit liegt hinter Dir - da konntest Du nicht ausbrechen und bekamst nicht die Anerkennung, Lob und wichtiger Liebe und Vertrauen. Heute kannst Du da raus. Sei wütend! Du hast jedes Recht dazu! Lass es raus und nicht immer nur rein.
Danke. Das mit dem Selbstbewusstsein ist nun nicht mehr schlimm ... es war in meinen Jugendjahren sehr schlimm, weil ich ja von meinen Eltern keine Bestätigung bekam und dazu noch von meinem Bruder gedisst wurde. Ich bin ja mit 16 daheim ausgezogen und habe z.B. fast durchgängig einen sehr stabilen, tollen Freundeskreis mit vielen langjährigen Freundschaften. Da hat sich dann auch das Selbstbewusstsein aufgebaut. Glücklicherweise hatte ich fast 10 Jahre lang eine Beziehung mit einem weitaus älteren Mann, die in mehreren Hinsichten sehr problematisch war - aber er hat mir z.B. geholfen, mein Abi nachzumachen (hätte ich mir sonst gar nicht zugetraut). Glücklicherweise hat sich das mit dem Selbstbewusstsein regeneriert, sozusagen.
Photographer73 schrieb:Danke für deinen sehr offenen und ehrlichen Bericht. Ich hoffe, daß du diese Essstörung irgendwann in den Griff bekommst, damit sie dein Leben nicht mehr so beeinflusst und dich fertigmacht.
Ich hätte eine Frage zu dem Szenario mit den Dönern, was du angesprochen hast. 2 Döner, danach das Mittagessen mit der Familie. Wie packt das der Magen ? Du sagtest ja, daß du nach dem ersten Döner eigentlich schon total satt wärst, irgendwann stellt sich ja auch Völlegefühl ein. Wenn dann weiter gegessen wird, müßte es nicht irgendwann zu erbrechen kommen ?
Ja, es ist schon grenzwertig. Ich denke, es ist Veranlagung, ob es zur Bulimie kommt oder nicht. Mitunter wäre es aber eine totale Erleichterung, das Essen wieder loszuwerden. In einem sehr harten Binge esse ich wirkich, bis mir extrem schlecht ist und ich kurz vorm Erbrechen bin. Du isst ja auch sehr hochkalorische Sachen in rauen Mengen, es fühlt sich danach über Stunden so an, als ob du einen Backstein verschluckt hast und belastet merklich den Körper - auch noch ein oder zwei Tage später. Mitunter bekommst du einfach Durchfall - der Körper versucht sich da selbst zu helfen. Andere kotzen. Warum der eine das macht und er andere nicht? Keine Ahnung. Der Mechanismus ist 100% der gleiche.
Ich praktiziere das ja seit Jahren - mein Magen hat sich größenmäßig vermutlich entsprechend angepasst. Bevor ich nun das Problem einigermaßen in Griff zu bekommen habe, war es auch so, dass ich nie satt war. Ich musste mir das Essen wirklich abwiegen -glücklicherweise ist Mr Mary ja nicht essgestört, kocht und schöpft mir praktisch eine vernünftige Portion und kocht auch vernünftige Sachen. Würde ich alleine leben, dann würde ich mich phasenweise nur von Fast Food ernähren. Oft habe ich an "normalen Tagen" wo ich so um die 1800kcal esse (was meinem Ideal entspricht) oft immer leicht Hunger, weil mein Magen für normale Mengen inzwischen zu groß ist. Inzwischen ist es besser, da ich viel seltener Binge - vermutlich hat sich da was zusammengezogen.
Du darfst dir so einen Binge nicht wie ein genüssliches Essen vorstellen. Du isst extrem schnell und absolut zwanghaft. Das baut sich praktisch auf ... du erlebst irgendwas, das du nicht aus dem System bekommst. Es fängt an, in dir zu rumoren. Oft über mehrere Stunden, manchmal auch Tage. Es ist oft auch ein emotionaler Kampf - du weißt dann, du bist auf dem falschen Track, du weißt, was kommt, und manchmal kämpfst du massiv dagegen an. So ein Binge ist ja dann nur der traurige Höhepunkt des Ganzen. Das ist extrem kräfteraubend und du kommst dann in so einen Tunnel. Du kannst nur noch an Essen denken, gleichzeitig willst du nicht essen. Der Gedanken fängt aber an, dich zu kontrollieren. Gerade kann ich mir das auch nicht vorstellen, vermutlich muss man das erlebt haben, es ist ein temporärer Kontrollverlust. Irgendwann ist der Druck so riesig, der sich aufgebaut hat, dass du beschließt, ihm zu folgen. Es ist, wie wenn eine externe Macht die Kontrolle über dich und dein Handeln übernimmt. Du fühlst dich dabei absolut Scheiße.
Ich binge oft, wenn Mr. Mary nicht da ist (arbeitet Abends), die Kinder irgendwo unterwegs ist, damit es möglichst niemand mitbekommt. Mitunter stelle ich mir auch den Wecker und denke "ich versuche es noch 10 Minuten auszuhalten" und mache dann etwas anders. Manchmal klappt das auch. Manchmal rufe ich bewusst Leute an, lade sie ein, damit ich nicht in den Binge komme. Manchmal hilft das. Manchmal sitzen sie dann auf meiner Terasse und ich bin die ganze Zeit im Tunnel - ich weiß dann schon - wenn sie weg sind, dann geht es los. Manchmal habe ich danach keine Lust mehr. Ich habe aber den Mechanismus noch nicht durchschaut, warum sich dieser Suchtdruck -so nenne ich es mal- sich manchmal abbaut und manchmal nicht. Das würde mir schon sehr helfen, dagegen zu steuern.
Dann geht das ganz schnell - du wählst das, was am Unauffälligsten ist und wo du hinkommst (es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob du gerade Hunger hast oder was du essen möchtest). Fast Food Drive in mache ich super gerne, weil es ein Stück von daheim weg ist, die Leute dort mich nicht kennen und es keinen interessiert. Die Dönerläden sind praktisch, weil die genau auf meinem Heimweg liegen und ein Döner ja praktisch normal ist, falls mich jemand sieht. Alternativ bleibt der Supermarkt - der ist meine Stelle für den Süßigkeitenbinge. Der Ablauf ist immer gleich. Ich bestelle auch immer das gleiche. Du fährst hin, gibst die Bestellung auf und bist schon total angewidert. Du willst das ja nicht. Aber du kommst aus dem Handlungsablauf nicht mehr raus.
Einmal habe ich die gerade gekaufte Tüte im Fast Food Drive in an Ort und in Stelle im Mülleimer entsorgt, es ist nicht so, dass du nicht weißt, dass es pathologisch ist, was du tust. Du kannst es aber nicht mehr kontrollieren. Du kannst nicht sagen "ich esse das jetzt nicht". Obwohl du rational weißt, dass es Blödsinn ist. Ich hatte also noch einen Moment der Kontrolle, fahre durch den Fast Food Drive in, kaufe mein Binge Meal, fühle mich schon total Scheiße. So Scheiße, dass ich auf dem Parkplatz halte und es wegwerfe. Ich fahre heim. Der Druck ist riesig, ich überlege sogar, ob ich zurückfahre und es aus dem Müll fische, aber ich habe Angst, dass mich jemand sieht. Stattdessen habe ich dann die zwei Dönervariante gemacht - in zwei verschiedenen Dönerläden. Hingefahren, ins Auto gesetzt, den Döner innerhalb kürzester Zeit inhaliert, zum zweiten Dönerladen, genau das gleiche. Akribisch die Spuren beseitigt. Heimgefahren. Dein Körper meldet dir, dass du total satt bist, du musst dir das trotzdem reinstopfen, bis alles aufgegessen ist. Es ist sehr barbarisch.
Das Problem beim Binge ist, in dem Moment, wo du anfängst zu essen, löst sich die gesamte Spannung. Die gesamten negativen Gefühle, die du hattest, lösen sich auf. Du hast einfach Ruhe. Das hält nur für eine Minute an. Dann fängst du tierisch an, dich zu schämen. Du fühlst dich schlecht - körperlich und seelisch, weil du wieder nachgegeben hast. Aber der Druck ist weg. Du bist dann wieder ausgeglichen - mit extrem schlechten Gewissen zwar, aber ausgeglichen. Deshalb machst du das, um diesen Zustand zu erreichen.
Ich weiß, das muss entsetzlich irre klingen für jemand, der das nicht erlebt bzw. drin steckt.
Yooo schrieb: Und dann in 2 Monaten oder so, die ganze Sache noch einmal angehen und die nächste Schicht Hüftgold in Angriff zu nehmen. Sich die Zähne auszubeißen ist rein psychologisch gesehen langfristig bestimmt auch nicht gut. Hat man nichts von, wenn man sich so lange frustriert bis man überhaupt kein Bock mehr hat.
Das ist lieb, aber so haut das nicht hin. Ich habe in den ersten Jahren unserer Ehe einfach beschlossen, das in den Griff zu bekommen - das war das erste Mal, als ich es geschafft habe, die Situation über längere Zeit zu kontrollieren. Ich habe WWonline gemacht, in einem Jahr 30kg abgenommen und war im absoluten Normalgewicht. Alles war gut, ich fühlte mich super und habe in dem Jahr nur sehr selten Aussetzer gehabt, konnte aber am nächsten Tag ganz normal weitermachen.
Dann kam Weihnachten und es kamen ein paar Sachen zusammen: Die Feiertage haben meinen normal sehr strukturierten Alltag gestört, es gab nur Essen, was ich normalerweise nicht gegessen habe, aber sehr gerne esse und wir waren noch auf vielen Feiern eingeladen (Silvester, Geburtstag). Also alles Dinge, wo sich Leute treffen und gerne genüsslich zu viel essen - das war das Ende ... Ein Jahr später hatte ich die 30kg wieder zugenommen - es war nicht so, dass ich sagte "Scheiß drauf ....", es war so, dass ich es in dem Jahr nicht geschafft habe, dauerhaft Kontrolle über mein Essverhalten zu bekommen, egal, wie sehr ich es versucht habe.
Lotte49 schrieb:@MissMary: Vielen Dank für deine offenen Worte. Ich kann mich da auch in einigen Punkten wiedererkennen, über die ich so aus der Warte noch nie so richtig nachgedacht habe. Das war für mich auch eine sehr gute Anregung. Darum auch danke dafür.
Klar ... es muss nur sehr irre klingen ... :-). Das Umfeld spielt sicher auch eine Rolle. Ich habe wirklich einen großen Freundeskreis - und ein einziges Mal hat mich eine Freundin auf mein Gewicht abgesprochen - das war sehr mutig und sehr nett. Sie sagte "ich weiß, dass du vermutlich ein Problem hast - wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann rede mit mir. Ich kenne mich nicht aus, ich weiß nicht, was ich tun kann, aber ich tue es, wenn ich weiß was. Du weißt das jetzt, ich sage nichts mehr!". Ich habe ja nun auch 20kg abgenommen - da spricht auch niemand darüber, obwohl man es sieht.
Die gesamte Essstörung findet im Verborgenen statt - du isst ja auch heimlich. Ich habe total nette superschlanke Freunde, mit denen ich oft eintägige Wanderungen mache - die beiden essen extrem wenig und ich passe mich da völlig an. Es muss ihnen schon aufgegangen sein, dass irgendwas nicht stimmt, wenn ich 30kg mehr wiege als sie, aber auch mittags brav an einer Karotte kaue ... aber es wird nie thematisiert.
Somit ist die Essstörung auch dein geheimer Rückzugsort, an den dir deine Freunde nicht folgen.