Rotmilan schrieb:Daher frage ich mich oft, wie es kommt, dass es z. Bsp. Leute gibt, die wirklich locker 100 kg überschreiten. Und warum diese nicht vorher ihr Essverhalten etc. geändert haben, damit das (Über) Gewicht nicht zur Adipositas wird.
Siehe mein Beitrag oben ... du (also Betroffener) kannst das nicht kontrollieren - und je nachdem, wie weit dieser Kontrollverlust geht, wiegst du eben nachher 100kg, 120kg oder sogar mehr. Ich weiß nicht, wie ein "normales Verhältnis" von "normalen Menschen" Essen gegenüber ist. Aber ich stelle es mir vor wie ich und Alkohol: Ab und an trinke ich gerne - immer mit Freunden. Einen Aperol auf der Terasse einer Freundin, einen Cocktail in der Stadt, ich kann aber jederzeit problemlos mit Leuten zusammen sitzen und trinke als einzige nichts. Mir fehlt dann auch nichts.
Das Problem ist, dass Essen für dich in der Suchtstörung ein Suchtmittel ist. Du instrumentalisierst Essen, um deine Emotionen auszugleichen und Essen instrumentalisiert dich. Du hast so einen abartigen Suchtdruck - und schämst dich total dafür, wenn du nachgibst. Du agierst verborgen und es hat bei mir viele Jahre gedauert bis ich überhaupt einmal vor mir selbst zugeben konnte "ich habe ein Problem". Das Problem ist also der Kontrollverlust, den du erleidest. Ich habe es oben versucht zu erklären, wie das läuft.
Rotmilan schrieb:Sehr interessant zu lesen, vielen Dank für diese persönliche und ausführliche Schilderung. Wenn Du Dich aber nicht erbrichst, ist das ein sog. "Binge- Eating" Syndrom? Also einen Jieper auf was Ungesundes wie einen Burger vom Meckes, kenne ich auch. Nur kommt das bei mir nicht so oft vor und ich könnte dann auch zu Hause nicht noch ein normales Mittag oder Abendbrot hinterher essen.
Ja, das ist Binge - aber nicht nur. Ich bin sehr flexibel, was meine Essstörung angeht :-). Es gibt Zeiten, da ist Binge das vorherrschende Problem. Das ist dann ein eigener Teufelskreis. Du hast einen Anfall. Du fühlst dich absolut Scheiße danach. Wie gesagt, der positive Effekt ist, dass das, was den Anfall ausgelöst hat, hinterher für dich überhaupt nicht mehr relevant ist. Du fastest am nächsten Tag (irgendwie musst du die Scheißkalorien ja kompensieren). Du hast Hunger - das kann tatsächlich einen oder zwei Tage später den Folgebinge auslösen.
Gerade hat sich meine Essstörung verlagert. Ich war bei einem wirklich lächerlichen Gewicht angekommen. Ich fühlte mich Scheiße, passte in keine Klamotte mehr ein, kam keinen Hügel mehr hoch (ich bin ja ein Outdoormensch). Es ist nicht so, dass ich nicht schon 1000mal eine Diät versucht hatte (meistens ein paar Kilo abgenommen, einen Bingeanfall bekommen, alles wieder zugenommen - mein Körper ist absolut gnadenlos, was Gewichtszunahmen angeht). Ich kann mich aber auch nicht nach Gefühl ernähren. Ich habe kein Gefühl. Ich weiß nicht, wann ich satt bin. Ich esse mitunter ja auch nicht, wenn ich hungrig bin, oder weit über mein Sättigungsgefühl raus.
Also beschlossen - es muss sich was ändern. Zu einer Ernährungsberatung getrabt, Kalorienbedarf berechnen lassen, ich schmeiße seit Monaten alles auf die Waage, esse echt ziemlich "clean" und gesund - Obst, Gemüse, Eiweiß. Positiver Nebeneffekt: Ich habe über 20kg abgenommen, fühle mich gut, hatte in den vergangenen Monaten nur ein - zwei Fressanfälle. Ist die Sucht damit weg? Nein. Sie verlagert sich. Ich habe nun eine diebische Freude daran, meine Kalorien zu unterbieten. Ich fühle mich total gut, wenn ich einen Tag mit 800 kcal schaffe. Ich fühle mich total Mist, wenn ich mal einen Tag nicht aufhören kann bei den 1400kcal, die ich essen sollte. Essen kontrolliert mich weiterhin. Seit Wochen nehme ich auch nichts mehr ab, obwohl ich an den meisten Tagen 1200kcal esse - ich denke, mein Körper hat nun beschlossen, nach 20kg, es mir extrem schwer zu machen. (Und ich bin noch nicht mal bei Normalgewicht angekommen).
Rotmilan schrieb:Ich denke, am besten ist da eine Psychotherapie, nicht nur eine Ernährungsumstellung. Denn wie Du selbst schreibst, hängen Eßstörungen mit Problemen aus der Kindheit, Erziehung etc. zusammen.
Ja, das stimmt. Allerdings sind mir in meiner Kindheit/ Jugend noch ein paar Dinge passiert, die wie in einem Nebel liegen - ich weiß, dass sie passiert sind, sie sind aber soweit verdrängt, dass ich gut klar komme. Ich habe entsetzliche Angst, in diese Bereiche zu rühren, weil ich die Gefühle, dich ich damals erlebt habe, niemals niemals wieder durchleben möchte. Daher schrecke ich vor dem Punkt einfach auch zurück.
Rational weiß ich, es ist natürlich die einzige Lösung, eine Therapie zu machen. Emotional habe ich zu große Angst ...
Interested schrieb: Ich sag auch mal Danke, für diese ehrlichen Einblicke. Du brauchst Dich für nichts schämen. Du füllst damit nur die Leere, die Deine verdammten Eltern erzeugt haben. Ich bin echt wütend auf Deine Eltern. Wie kann man nur so gefühllos sein und nicht erkennen, was man seinen Kindern damit antut? Echt ätzend!
Danke. Es ist ganz schwer zu erklären, es ist wie Dr. Jekyl und Mr. Hyde. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass in mir zwei Personen leben - gerade ist alles ruhig, unter Kontrolle, rational weiß ich, dass ich mich nicht schämen muss. Die Person, die heimlich in den Supermarkt fährt, um dann 2000 kcal in wenigen Minuten in sich reinzustopfen, die Reste sorgsam entsorgt und dann mit 2l Milch heimkommt und freundlich zu dein Kindern sagt "Ich hab noch schnell Milch fürs Frühstück morgen geholt" ist mir selbst auch entsetzlich fremd. Ich kann ehrlich heute Abend nicht nachvollziehen, wie ich immer wieder an diese Punkte komme. Ich weiß aber, sie ist da und wenn sie getriggert ist, dann übernimmt sie von jetzt auf Nachher die Kontrolle.
Ich bin ein total kontrollierter Mensch - ich habe meinen Haushalt im Griff, meine Kinder sind ordentlich erzogen (und vermutlich etwas verwöhnt :-)), ich habe Hobbys, ich mache meine Arbeit gut, ich habe wie gesagt viele Freunde und vernünftige Beziehungen und ein gutes Umfeld - ich habe keine Ahnung, warum ich diesen einen verdammten Lebensbereich nicht dauerhaft unter Kontrolle bekomme. Finde ich eine Lösung, verlagert sich das Problem.
Interested schrieb:Musst Du nicht. Du reflektierst das alles ziemlich gut. Iss es einfach mit Genuss und ohne schlechtes Gewissen - denke, das funktioniert am Besten, dann hat der Mist, den Deine Eltern da verbockt haben, nicht mehr so die Macht über Dich. :/
Das ist nett von dir, aber so funktioniert Essstörung nicht - Essen ist nichts, was ich jemals genießen kann ... weil es gleichzeitig mein größtes Problem ist. Es ist nicht so, dass ich Essen per sé hasse. Es gibt schon Momente, wo ich echt gerne esse (z.B. liebe ich es auch, zusammen mit Freunden zu essen) - aber es ist ein riesiges Problem in meinem Leben.