Pinkas schrieb:Was mich nur wundert, dass es immer mehr Menschen mit Ad(h)s, Asperger etc. gibt. Was sind die Gründe dafür? Inwieweit spielt die Art wie wir leben dabei eine Rolle?
Gegeben dürfte es diese auch "früher" haben - nur undiagnostiziert.
Ich bin z.B. so jemand, Diagnose (Asperger) mit über 30 Jahren.
Kindheit:
Mir selbst fiel auf dass andere Kinder (für meinen auch damaligen Geschmack) laut, spontan sind, mit Interessen für die ich mich extrem begeistern konnte null anfangen konnten. Mir fiel auch auf dass Erwachsene andauernd Dinge von mir verlangten die ich sehr schwierig fand, gleichermaßen mich aber für Dinge lobten die ich selbst ganz einfach fand.
Erwachsenen fiel an mir auf dass ich nur schwer Kontakte knüpfte, dass meine Kontaktversuche unpassend wirkten, dass ich mir Gesichter nicht merken konnte aber ansonsten "alles mögliche" detailliert. Erwachsenen fiel auch auf dass mir Dinge die den meisten Kindern Spaß machten keinen Spaß machten (langweilten bis ängstigten), dass später in der Pubertät typisches Pubertätsverhalten mit typischen Interessen ausfiel (was meinen Eltern teils recht war, teils Sorge bereitete), und dass Erziehungstricks die auf "aber alle anderen" aufbauten nicht zogen.
Viele grobmotorische/ sportliche Dinge lernte ich trotz vieler sog. "Bewegungsanreize" nie. (Habe allerdings auch keine körperliche Behinderung, die sich allerdings im Kleinkind- bis Grundschulalter abschätzbar nicht stark ausgewirkt haben dürfte.) War so ein Kind das z.B. Fahrrad, Tretroller, Rollschuhe... einfach nicht unter Kontrolle bekommen hat, Sportnote war schon eine 4 in der Grundschule, und das Lehrer aufgrunddessen so einschätzten ein Stubenhocker zu sein (tatsächlich war das Gegenteil der Fall, war Typ "bewegungsfreudiger Wildfang vom Land").
Damaliges Vorgehen:
Schimpfen, Appelle ("reiß dich zusammen", "wer sich Insekten merken kann kann sich auch auch das [Gesichter etc.] merken") und so weiter.
Verstand ich etwas (soziale Zusammenhänge, Umgangssprache zu wortwörtlich genommen) nicht und fragte nach, wurde mir das oft als Unverschämtheit/ Frechsein ausgelegt.
Aufgewachsen übrigens ziemlich ruhig auf dem Land, Fernsehen gab es nur selten (wenn, dann Dokumentarfilme - waren mir auch lieber, verstand ich besser als Spielfilme oder laute Shows), Auffälligkeiten (s.o.) seit frühester Kindheit in der ich natürlich auch noch keinen Computer hatte.
Später stellte ich fest, dass ziemlich viele der wenigen Menschen mit denen ich gut klarkomme (auch) eine Autismusdiagnose haben... Unter Menschen mit Autismusdiagnose finde ich ungefähr so viel Anschluss wie die meisten Menschen im Alltag: Man freundet sich natürlich nicht mit jedem an, aber auf die "Quote" auf die andere oft kommen, z.B. sich in einer Gruppe von 10 - 20 Leuten mit einem sehr gut zu verstehen, komme ich dann auch.
Schaue ich mir heutige junge Autisten (Kindesalter) an: Mit den damaligen Auffälligkeiten würde man heutzutage diagnostiziert werden. Als ich so jung war, war "Asperger-Syndrom" hingegen weitestgehend unbekannt; wissbegierige Frühsprecher fielen nicht darunter. Bei den üblichen Untersuchungen in der Kindheit (U-Untersuchungen, Schuleingangsuntersuchung) galt ich als normgerecht entwickelt - ich lief und sprach ja, ich ging aufs Klo, und über mein Lieblingsthema "Insekten" hatte ich immer etwas zu erzählen. Aufgefallen muss aber durchaus etwas sein, da man meine Mutter oft damit vertröstete, dass ich dieses und jenes "bis ..." schon noch lernen würde ("Bis sie in die Schule kommt, wird das mit dem Radfahren schon", "In der Schule findet sie Freunde", "... in der weiterführenden Schule").
Übrigens: Mein Mann ist Legastheniker. Hat man nur in den 80er Jahren noch nicht diagnostiziert. Vorgehen war ähnlich wie bei mir - Schimpfen, Appelle an den "ansonsten so schlauen Jungen", unzutreffende Vermutungen (wie man bei mir vermutete, ein Stubenhocker zu sein, vermutete man bei ihm, im Elternhaus würde nicht vorgelesen und er würde nicht lesen (das Gegenteil war der Fall)).