Das Interview mit Natascha Kampusch, einer starken Frau...
16.06.2008 um 06:51
Die letzten Stunden des Kampusch-Entführers
ER SCHRIEB SEINER MUTTER EINEN ABSCHIEDS-ZETTEL
VON BENGT PFLUGHAUPT UND UWE WOJTUSCHAK
Wird die Akte Natascha Kampusch wieder geöffnet?
Das jedenfalls fordert Ludwig Adamovich (72), Vorsitzender der Untersuchungskommission, die den Entführungsfall beleuchtete. Ergebnis des 58-seitigen Abschlussberichtes: Es gab Ermittlungsfehler, Vertuschungsversuche und möglicherweise war Kampusch-Entführer Wolfgang Priklopil († 44) kein Einzeltäter.Immer wieder im Fokus der
Ermittler: Sein bester Freund Ernst Holzapfel (44), Ingenieur und Geschäftspartner Priklopils. Mit ihm verbrachte der Kampusch-Entführer seine letzten Stunden.
Die Zeit zwischen Nataschas Flucht und dem Selbstmord ihres Peinigers. BILD am SONNTAG liegen die Aussagen (Aktenzeichen EGS 385/2006) vor. Die Vernehmung bei der Bundespolizeidirektion Wien beginnt noch in der Nacht, genau um 0.35 Uhr.
Rückblende:
Es ist Mittwoch, der 23. August 2006. Natascha Kampusch ist nach über acht Jahren Gefangenschaft in Priklopils Keller die Flucht zu einer Nachbarin gelungen.
Die Frau ruft sofort die Polizei.
Priklopil flieht in seinem roten BMW, liefert sich mit der Polizei sogar eine wilde Verfolgungsjagd – und entkommt. Nataschas Peiniger versteckt sein Auto in der Garage des Donauzentrums. Eine Überwachungskamera filmt ihn in der Einkaufspassage.
Gegen 14 Uhr klingelt das Telefon von Ernst Holzapfel.
Am anderen Ende ist Priklopil. Er spricht von einem Notfall, bittet seinen Freund, ihn sofort am Donauzentrum beim ehemaligen Postamt abzuholen. Den Ermittlern erzählt Holzapfel später, Priklopil habe auf ihn extrem aufgeregt und fahrig gewirkt.
Etwa zehn Minuten später ist Holzapfel am Treffpunkt, Priklopil steigt zu ihm in den grünen KIA.
NATASCHA KAMPUSCH PERFEKT! SCHULABSCHLUSSMIT EINS
Er zittert am ganzen Körper und ist nervös. Seinem Freund sagt er, dass er ihn schnell wegbringen und nur Nebenstraßen benutzen soll. Als Holzapfel nach dem Grund fragt, erfährt er von Priklopil, dass die Polizei hinter ihm her sei, weiteres wolle er ihm später sagen.
Als die Polizei Priklopils Wagen schließlich findet, sitzt der Entführer schon im Auto seines Freundes. Doch dort fühlt er sich nicht sicher, schaut sich ständig nach Streifenwagen um. Als die Freunde an einem Polizisten vorbeifahren, versteckt Priklopil sein Gesicht hinter der Hand. Er bittet seinen Freund, in einer Nebenstraße zu halten.
Holzapfel muss sogar sein Handy abschalten – der Entführer hat Angst, geortet zu werden.
Etwa eine Stunde stehen sie dort und Priklopil tischt seinem Freund eine unglaubliche Geschichte auf:
Er sei angeblich zu schnell mit dem Auto unterwegs gewesen, und da er etwas getrunken habe, sei er vor einer Polizeistreife geflohen. Nun habe er Angst, seinen Führerschein zu verlieren und wolle untertauchen.
Er habe die Geschichte geglaubt, erzählt Holzapfel in der Vernehmung einige Stunden später.
Schließlich habe Priklopil so an seinem Führerschein gehangen. Oft habe er mit seinen schnellen Autos – die ihm die Mutter mitfinanzierte – Frauen beeindrucken wollen. Doch bei denen sei er nie gut angekommen. Sein Vater dagegen sei ein Frauenheld gewesen, habe viele Liebschaften gehabt. Priklopil habe den Papa deshalb angehimmelt, war selbst nach dessen Krebstod 1982 fast täglich an dessen Grab.
Holzapfel sei daher erstaunt gewesen, als ihn Priklopil vier Monate zuvor gefragt hatte, ob seine Frau eine Geburtstagstorte mit einer 18 für ein junges Mädchen backen könnte.
Angeblich für die nette Nachbarstochter. Doch dann kam Priklopil sogar mit einem jungen Mädchen zu ihm in die Firma, stellte sie ihm vor. Sie habe nett gegrüßt, auf ihn zart und glücklich gewirkt.
Die letzten Stunden des Kampusch-Entführers
DAS JUNGE MÄDCHEN – ES WAR NATASCHA KAMPUSCH!
Auf Fotos erkannte Holzapfel sie in seiner Vernehmung wieder. Doch von der Geiselhaft des Mädchens will er nichts gewusst haben.
Kann das sein?
Auf Priklopils Flucht wechseln die Männer immer wieder ihren Standort, wenn ein Streifenwagen auftaucht.
Die nächsten vier Stunden geht das so.
Holzapfel kauft an einer Tankstelle zwei Tafeln Schokolade und etwas zu trinken. Priklopil prahlt, dass er die Polizei im Rückwärtsgang durch eine McDonald’s-Filiale abgehängt hat, und dass er rückwärts schneller war als die Beamten beim Vorwärtsfahren.
Einige Polizisten hätten ihm sogar aus dem Weg springen müssen. Dann reden die beiden übers Geschäft. Seit Anfang der 90er-Jahre kaufen die beiden alte Häuser und Wohnungen, sanieren sie, verkaufen sie dann weiter.
Gegen 20 Uhr trennen sich die Männer.
Holzapfel sagt seinem Freund, dass er ihm nicht weiterhelfen kann.
Priklopil antwortet, dass es egal sei, und er schon irgendwo unterkomme.
Er steigt aus.
Und drückt Holzapfel noch einen Zettel in die Hand. Darauf steht „Mama“. Eigentlich will Priklopil noch mehr schreiben – doch dann lässt er es.
Er bittet den Freund nur:
„Falls mir etwas zustößt, gib den Zettel meiner Mutter.“ Und: „Du weißt schon, was zu tun ist.“
Eine Stunde später wirft sich Wolfgang Priklopil auf der Wiener Nordbahnstrecke vor die S-Bahn – und stirbt.
GAB ES KOMPLIZEN? WAR DIE EIGENE MUTTER VERSTRICKT?
Wird Fall Kampusch wieder aufgerollt?
WIENER STAATSANWALTSCHAFT DEMENTIERT
Der Fall Kampusch lässt die Österreicher nicht los.
Verfassungsrechtler Ludwig Adamovich (oben, Mitte) ist sich sicher: Bei den Ermittlungen wurde geschlampt. Nun hat ihn der österreichische Innenminister, Günther Platter, beauftragt, den Fall wieder aufzurollen, berichtet der „Stern“
Drei Gremien in Parlament und Ministerien beschäftigen sich laut „Stern“ mit den Pannen in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, einem möglichen Amtsmissbrauch und der Frage, ob
mit Rücksicht auf Schutz und auf die Vermarktung von Natascha Kampusch (20) Ermittlungen behindert wurden.
„Dass gebremst wurde, das ist evident“, sagt Adamovich dem „Stern“. „Die Frage ist: Warum? Und wie? Und von wem?”
Ermittlungsansätze hat der renommierte Verfassungsrechtler im Überfluss. Seine Vermutung: Priklopil war nicht allein!
Kampusch-Entführer Wolfgang Priklopil: War er nicht allein?
In diesem Haus wurde Natascha acht Jahre lang festgehalten
166 Aktenordner hat das Kriminologen-Team um den ehemaligen Präsidenten des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes bereits durchforstet, 25 Polizeibeamte befragt.
Das Ergebnis: Heiße Spuren wurden bei der Ermittlung nicht weiter verfolgt!
Wieder im Visier der Ermittler: Priklopil-Freund Ernst Holzapfel (oben rechts).
Der habe sich schon bei der ersten Befragung verdächtig gemacht.
„Wieso, hot er’s umbrocht?“,
war seine Reaktion auf die erste Frage der ermittelnden Beamtin. Kurz darauf gab er an,
Natascha nur ein einziges Mal zusammen mit Priklopil gesehen zu haben.
Weiterer Grund für den schweren Verdacht:
Eine Schulfreundin Nataschas hatte bei der Entführung zwei Männer beobachtet. Holzapfel konnte aber während der damaligen Befragungen alle Verdachtsmomente ausräumen und bestritt, regelmäßigen Kontakt zum Kampusch-Entführer gehabt zu haben.
Den Ermittlern hätte bei der Auswertung der Anruflisten Priklopils auffallen können, dass die eine andere Geschichte erzählen.
Auch der Verdacht, Nataschas Mutter hätte möglicherweise mit Priklopil unter einer Decke gesteckt, wird wieder aufgegriffen.
Ein Familienrichter behauptet:
Natascha hatte schon vor ihrer Entführung Kontakt mit Priklopil. Die Indizien: Kurz vor der Entführung hatte das Mädchen plötzlich erheblich an Gewicht zugelegt und wieder das Bett genässt.
Zudem wollen Ohrenzeugen gehört haben, wie Natascha zu ihrer Mutter sagte: „Mama, ich weiß, du hast das so nicht gewollt.“
Viele Nachfragen der damaligen Ermittler seien von den Anwälten Nataschas unterbunden worden – aus Rücksicht auf ihren seelischen Zustand.
Weitere These: Natascha wollte ihren Peiniger schützen.
In ihrer ersten Talk-Sendung beim österreichischen TV-Sender „Plus 4“ vertraute sie ihrem Gast, Rennfahrer-Legende Niki Lauda, an: „Ich wollte diesen Menschen nicht der Polizei ausliefern.“ Außerdem: Sie habe schon mit 12 Jahren die Idee gehabt, zu gehen. Sie hätte aber noch „stärker“ und „schneller“ werden wollen.
Ob die Fall Kampusch jemals zu den Akten gelegt werden kann, ist unklar. Chef-Ermittler Ludwig Adamovich will laut „Stern“ die neuen Ermittlungen mit aller Härte vorantreiben und einigen wichtigen Menschen schmerzhaft auf die Füße treten.
Allerdings: Die Staatsanwaltschaft Wien bestritt den „Stern“-Bericht, wonach die Polizei im Fall Kampusch neue Ermittlungen aufgenommen hat.
Oberstaatsanwältin Marie-Luise Nittlder sagte der Deutschen Presse-Agentur dpa: „Dazu ist es noch zu früh.
Zunächst müssen wir den Untersuchungsbericht genau studieren.
Danach sehen wir weiter, ob es überhaupt Gründe für weitere Ermittlungen gibt.“
Nach achteinhalb Jahren Gefangenschaft konnte sich die damals 18-jährige Natascha Kampusch am 23. August 2006 aus der Gewalt des Nachrichtentechnikers Wolfgang Priklopil befreien.
Quelle: Bild.de-online 15.06.2008