Es gibt gar keinen freien Willen?
24.05.2006 um 14:28
Der freie Unwille
EINE SEKUNDE ist eine lange Zeit. Eine zu lange, fandBenjamin Libet. Der amerikanische Hirnforscher hörte zum ersten Mal 1977 an einemWissenschaftskongress von dieser Sekunde, zwölf Jahre nachdem sie gemessen worden war.Eine Sekunde, das ist die Zeit, die bei einer willkürlichen Handbewegung verstreicht vonden ersten Vorbereitungen im Gehirn bis zur Ausführung der Bewegung, so hatten es HansKornhuber und Lüder Deecke 1965 publiziert. Die beiden deutschen Neurologen hatten dievor einer Handlung auftretenden elektrischen Veränderungen im Gehirn damals entdeckt undBereitschaftspotential getauft.
Dass das Bereitschaftspotential vor der Bewegungeinsetzt, ist keine Überraschung, schliesslich können Muskeln erst aktiv werden, nachdemsie vom Gehirn den Befehl dazu erhalten haben. Dennoch war das Resultat in einem gewissenSinn absurd.
Die Versuchspersonen durften selber entscheiden, wann sie ihre Handbewegten. Zwischen dem Zeitpunkt dieser freien Entscheidung und der Bewegung musste alsomindestens eine Sekunde liegen. Libet fiel sofort auf, dass das der Alltagserfahrungwidersprach: Eine Sekunde zwischen der Entscheidung, nach dem Bleistift zu greifen, unddem Griff danach - das war eindeutig zu lange.
Die ganzen Überlegungen basiertenauf einer Voraussetzung, die so selbstverständlich schien, dass niemand sich die Mühegemacht hatte, sie zu überprüfen: Der bewusste Entscheid für die Bewegung muss fallen,bevor das Gehirn die ersten Vorbereitungen dafür einleitet. Ursache vor Wirkung. Darankonnte niemand ernsthaft zweifeln - oder doch?
Libet wollte es genau wissen.«Das ganze nächste Jahr fragte ich mich, wie in aller Welt sich der Zeitpunkt derbewussten Entscheidung messen liesse.» Kornhuber und Deecke hatten ja nur den Moment desBereitschaftspotentials und der Bewegung erfasst, nicht aber den Zeitpunkt der bewusstenEntscheidung, denn der ist nur der Versuchsperson selbst zugänglich. Er lässt sich nichtobjektiv messen, nicht aus Hirnströmen lesen, also liessen die Forscher die Finger davon.Der freie Wille galt als wissenschaftlich nicht untersuchbar. «Ich glaube, die Leutehatten richtig Angst davor.»
Libet suchte nach einer Möglichkeit, wie dieVersuchspersonen ihm mitteilen könnten, wann ihre Entscheidung fiel, die Hand zu bewegen.Doch sie konnten weder etwas sagen noch ein Handzeichen geben: Diese Signale wären jaselbst mit der unbekannten Verzögerung einer willkürlichen Bewegung behaftet gewesen.
Dann hatte Libet die Idee mit der Uhr. Wenn die Versuchspersonen auf eineschnell gehende Uhr blicken und sich merken würden, wann sie den Entschluss für dieBewegung fassten, könnten sie diesen Wert nachher dem Versuchsleiter melden. Libetzweifelte zuerst an seinem Einfall: «Weil die Messung sehr genau sein musste, glaubte ichnicht daran, dass es funktionieren würde, doch ich beschloss, es zu versuchen.»
Keine Arbeit hat in den Neurowissenschaften mehr Kontroversen und unterschiedlicheInterpretationen hervorgebracht als diese Versuche, denn Libet fand heraus, dass es denfreien Willen möglicherweise gar nicht gibt.
Im März 1979 nahm die erste vonfünf Versuchspersonen, die Psychologiestudentin C. M., auf dem bequemen Lehnstuhl inLibets Labor am Mount-Zion-Spital in San Francisco Platz. Sie wurde am Kopf und amrechten Handgelenk mit Elektroden versehen und blickte auf einen kleinen Bildschirm inzwei Metern Entfernung. Dort kreiste ein grüner Punkt, der 2,56 Sekunden pro Umdrehungbenötigte: die Uhr. Libet forderte C. M. nun auf, zu einem frei gewählten Zeitpunkt dasrechte Handgelenk zu knicken. Den genauen Zeitpunkt der Bewegung verriet ihm dieSpannungsänderung der Elektrode am Handgelenk, das Bereitschaftspotential lieferten dieElektroden am Kopf, und den Zeitpunkt der bewussten Entscheidung erfuhr er nach jedemVersuch von C. M. selbst, die sich merkte, wo der kreisende Punkt gestanden hatte, alsihr Wille einsetzte.
«Die Versuchspersonen hatten keine Ahnung, worum es ging,und fanden das alles recht sonderbar», erinnert sich Libet. Aber für 25 Dollar proSitzung waren sie gerne bereit, ihr Handgelenk zu einem frei gewählten Zeitpunkt zubewegen.
«Ich merkte schon nach dem ersten Versuch, wie sonderbar das Resultatwar», sagt der heute 85-jährige Libet, wie er die alten Labornotizen aus einer Schubladezieht. Ein Stapel Papiere, unordentlich mit Zahlen übersät, dazwischen Fotos vonBildschirmkurven: die Bereitschaftspotentiale.
Der Moment, den C. M. alsZeitpunkt ihres Entschlusses für die Bewegung angab, lag immer etwa 0,2 Sekunden vor derBewegung selbst. Das war ein vernünftiges Resultat, das mit der Erfahrung übereinstimmt.Das Bereitschaftspotential setzte aber mindestens 0,55 Sekunden, in manchen Fällen wiebei Kornhuber und Deecke sogar eine ganze Sekunde vor der Bewegung ein. Im Gehirn von C.M. wurde also eine Handlung eingeleitet, von der das Gehirn eigentlich noch gar nichtswissen konnte, weil sich C. M. ja erst eine Drittelsekunde später überhaupt dazuentschliessen würde. Bei den anderen Versuchspersonen war es nicht anders: Immer war dasBereitschaftspotential da, lange bevor der freie Wille einsetzte.
Auf den erstenBlick liess das Experiment nur eine Folgerung zu: Der freie Wille ist eine Illusion. DasHirn schickt das Bewusstsein als Strohmann vor, um uns vorzugaukeln, wir hätten die freieWahl. Doch in den Tiefen des Unterbewusstseins ist längst alles arrangiert. Wir tunnicht, was wir wollen, wir wollen, was wir tun.
Libet mag diese Interpretationnicht. «Wir wären im Wesentlichen raffinierte Automaten, unser Bewusstsein und unsereAbsichten eine angeheftete Begleiterscheinung ohne kausale Macht.» Das Experiment rütteltdamit an den Grundfesten unseres Rechtssystems. Darf ein Gericht jemanden für eine Tatbestrafen, die er nicht hätte nicht tun können?
Libet entwarf sofort eine neueTheorie: Zwar zeige sein Experiment tatsächlich, dass wir keine Macht hätten darüber,welche Absichten aus dem Unterbewussten als freier Wille getarnt auftauchten, doch wirkönnten dagegen intervenieren. Libet belegte in weiteren Experimenten, dass die zweiZehntelsekunden zwischen dem bewussten Entschluss und der Aktion ausreichten, das Vetodagegen einzulegen und die ganze Sache abzubrechen. Wenn wir schon keinen freien Willenhaben, dann doch wenigstens einen freien Unwillen.
Das sei auch inÜbereinstimmung mit religiösen und ethischen Regeln, die zur Selbstkontrolle mahnen, undmit den zehn Geboten, die oft mit «Du sollst nicht . . .» begännen. Seine Veto-Theorie,witzelt Libet, biete sogar eine «physiologische Erklärung der Erbsünde». «Wer bereits dieböse Absicht als sündhaft betrachtet, auch wenn sie zu keiner Handlung führt, macht alleMenschen zu Sündern.»
Doch die Veto-Theorie hat einen entscheidendenSchwachpunkt: Wenn einer bewussten Entscheidung eine unbewusste Hirnaktivität vorangeht,warum nicht auch Libets bewusstem Veto?
Einige Wissenschafter glauben, Libetwolle den freien Willen retten, weil er die Konsequenzen seines eigenen Experimentsfürchtet. Der Philosoph Thomas W. Clark schreibt: «Der unterschwellige Gedanke ist: Weiles undenkbar ist, dass wir keinen freien Willen haben (schliesslich wollen wir keineAutomaten sein, oder etwa nicht?), sollten wir uns schleunigst daranmachen, einen Beweisfür den freien Willen zu finden.» Diese Argumentation sei unwissenschaftlich.
Der Streit mündet immer in dieselbe Frage: Gibt es einen nichtmateriellen Geist, oderist das Bewusstsein allein das Resultat der chemischen und physikalischen Vorgänge imGehirn? Im zweiten Fall, den die Deterministen vertreten, verliert das Experiment vonLibet seine Merkwürdigkeit. Wenn der Geist auf materiellen Reaktionen beruht, die einenach der anderen im Gehirn ablaufen, dann muss der freie Willen von unbewussterHirnaktivität angestossen worden sein. Anders ist es gar nicht möglich. Jede Wirkung hateine Ursache.
In Libets Ergebnissen liegt so gesehen nichts Übernatürliches. Siewidersprechen bloss unserem persönlichen Empfinden. Wir fühlen, dass wir einen freienWillen haben, deshalb glauben wir es. Dieses Eindrucks können sich auch Hirnforschernicht erwehren. Zwar behaupten viele von ihnen, den Gedanken der persönlichen Schuld undSühne aufgegeben zu haben, müssen aber zugeben, dass es ihnen nicht gelingt, im täglichenLeben den Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und persönlichem Empfindenaufzulösen.
Obwohl er nicht an den freien Willen glaube, sagt der deutscheHirnforscher Wolf Singer, «gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafürverantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben, weil ich natürlichdavon ausgehe, dass sie auch anders hätten handeln können».
Wer aber daranglaubt, dass jede materielle Ursache eine materielle Wirkung hat, muss damit rechnen,dass seit dem Urknall alles vorherbestimmt ist. Auch dass ich diesen Artikel geschriebenhabe und Sie ihn jetzt kopfschüttelnd lesen.
Der Widerspruch liesse sich nurbeseitigen, wenn ein nichtmaterieller Geist über den freien Willen herrschen würde, derunbeeinflusst von den Gesetzen wirkt, die sonst für die Welt gelten, und dessen Existenzsich kaum beweisen liesse. Für die meisten Wissenschafter keine wirkliche Alternative.
Reto U. Schneider ist Redaktor bei NZZ Folio