THX1138 schrieb: Niemand muss "Händeringend" jemanden suchen damit seine Arbeit erledigt wird. Es muss adequat bezahlt werden und die Bedingungen müssen passen, so einfach ist das.
Mein Mann arbeitet in der Event- und Gastrobranche und da war es schon immer schwieriger, Leute zu finden, auch wegen der ungünstigen Arbeitszeiten, daher war die Fluktuation schon immer größer. Die gesamte Branche sucht gerade wirklich "händeringend", obwohl Mindestlohn + Trinkgeld bezahlt wird. Das mit den "Bedingungen" ist schon schwieriger, das ist eben kein 8-16 Uhr Job mit freien Wochenenden. Und es gibt viele Branchen, wo das so ist. Mein Opa war in unserem Dorf der Bäcker, das war so die erste Branche, die wegen fehlendem Nachwuchs (mein Opa backte immer ab 2 Uhr morgens) große Probleme bekam.
Ich erinnere mich aber auch (bin ja ein Kinder der 1970er), dass man damals z.B. "händeringend" Ausbildungsstellen gesucht hat - und oft wurde man halt das, was man bekommen hat. Da ging auch viel über Vitamin B. Ich lebte im Studium in der Nähe eines Kauflands und hätte dort liebend gerne am Abend bzw. am Wochenende gejobbt - ich habe mich mehrfach beworben und bin nie genommen worden (die nahmen lieber Hausfrauen, da verlässlicher). Ich bin dann in der Gastro untergekommen, da gehörte aber z.B. plump angebaggert werden zum Tagesgeschäft und wurde noch nicht als "sexuelle Nötigung" angesehen.
THX1138 schrieb:Ich komme noch aus ner Zeit wo nur einer (der Vater) arbeiten ging, der konnte ne 5 köpfige Familie ernähren, im Jahr zwei Urlaube finanzieren und und und...
Ich auch, mein Vater (Akademiker) hat sogar mit seinem Job drei Kinder ernährt, der Vater meiner Freundin (Arbeiter) auch. Aber: Unser Lebensstandard war ein völlig anderer! Weder wir, noch sie fuhren zweimal im Jahr in die Arbeit. Überhaupt lebten wir auf einem bisschen besseren Standard, aber wesentlich einfacher.
Meine Eltern hatten ein (gebrauchtes, altes) Auto, in das wir uns irgendwie zwängten, meine Freundin hatte jahrelang gar kein Auto. Beide Familien lebten im Eigenheim, mein Vater hat mal kürzlich gezeigt, unseres war zu einem Kreditzins von 12% finanziert. Meine Freundin lebte zu fünft in einer Dreizimmerwohnung. Ihre Eltern schliefen, als die Kinder größer waren, im Wohnzimmer. Es gab: Küche, ein (enges) Bad, das Wohnzimmer und Kinderzimmer (nach Geschlecht getrennt), die waren aber sehr klein. Beliebt war auch das "1,5 Geschosshaus", ein Reihenhaus, wo unten ein Wohnzimmer und die Küche ist und oben dann schon die Dachschrägen waren. Ein eigenes Zimmer hatte kaum jemand, teilen mit Geschwistern mit Stockbett war normal. 75 qm für fünf Leute in Wohnungen war normal. Eine Mitschülerin musste nach der Scheidung ihrer Eltern wieder mit der Mutter auf den heimatlichen Bauernhof ziehen, den der Bruder übernommen hatte. Sie hatte ein eigenes Zimmer: Aber das war nicht geheizt! Im Sommer cool, im Winter ging sie nur zum Schlafen rein.
Klamotten bekamen wir von unseren Cousins, zum "Auftragen", weil die megateuer waren (bei meiner Freundin analog). Man hoffte immer, dass deren Kleidungsgeschmack nicht zu exotisch wurde oder dass sie nicht drastisch zu- oder abnahmen, damit das passte. Die Klamotten wurden dann weitergegeben, d.h., wenn wir aus der Schule kamen, dann zog man sich erst mal in schon abgetragenere Freizeitkleidung um.
Nahrungsmittel waren billiger, aber man produzierte auch selbst - meine Oma hatte unzählige Weckgläser, wo sie Sachen aus ihrem großen Keller einkochte. Wir hatten Johannis-, Him- und Erdbeeren im Garten und die wurden zu Marmeladen verarbeitet, was dann der Standardbrotaufstrich zum Frühstück war. Dann aßen wir viele Kartoffeln (selbst angepflanzt) und viele Familien auf dem Dorf hielten Hühner (meine Freundin heulte jedes Mal, wenn das Haustier dann wegen Legeschwäche gegessen wurde). Es gab viel weniger Fleisch. Bei meinen Großeltern in der Bäckerei war es völlig normal, um 18 Uhr "ausverkauft" zu sein, es gab auch keine Million Brotsorten.
Auch in der Freizeit: Wir hatten ein funktionierendes Fahrrad, Buskarten gab es nur im Winter, weil sie echt teuer waren. Wenn es im Sommer in Strömen regnete, radelten wir trotzdem in die Schule. Da war nichts mit "zwei Autos" und "Mamataxi". Es war klar, dass man die Freizeitangebote vor Ort nutzte, also bei uns: Fußballverein (nur Jungs, Mädchen durften nicht spielen), Landjugend, Ministranten ... Wir trafen uns abends immer im Dorf auf einem Spielplatz (Grundschule), oder im Wald (verstecken, Lager bauen, ...) oder später auf dem Sportplatz. Unsere Nachbarn hatten Monopoly, andere Freunde Scotland Yard. Das spielten wir unzählige Male.
Ein paar Dinge waren grundlegend anders. Tatsächlich gab es mehr Schwimmbäder: Jede große Schule hatte ein "Lehrschwimmbecken". Dass man nicht schwimmen konnte, gab es praktisch nicht. Allerdings war das superbeliebte öffentliche Hallenbad in der Stadt ein 25m Becken mit vier Bahnen. Da fuhren wir manchmal zum Schwimmen hin und freuten uns riesig. Im Sommer radelten wir zu einem See und schwammen da (ohne Aufsicht, hier im Schwarzwald keine reine Freude, da oft sehr kalt, damals lag ab und an im April noch Schnee). Wir Kinder waren viel autonomer. Ich hätte für mein Leben gerne Klavier gelernt - wir hatten weder Platz noch Geld für das Instrument. Aufs Gymnasium gingen nur die Superschlauen. Da wurde "unpädagogisch" sortiert. Wir nutzten alle die öffentliche Bibliothek und lasen sehr viel. Die flächendeckende Ärzteversorgung war besser, wenn wir Fieber hatten, kam der Kinderarzt auf Hausbesuch. Der medizinische Standard war jedoch wesentlich geringer, der große Bruder meiner Freundin starb z.B. nach Komplikationen bei einer Blindarm OP. Ein Cousin von mir war "übertragen" und starb dann bei der Geburt. Es wurden auch mal wegen Kinderlähmungsgefahr Veranstaltungen abgesagt, bevor es eine funktionierende Impfung gab. Man hatte riesig Angst davor. Im Dorf gab es mehrere Leute, die konkret mit Folgen von Kinderlähmung zu tun hatten - ein Mädchen hatte dadurch eine Gesichtslähmung (sie hat sie heute noch). Es gab mehrere Konterganfälle in unserem Dorf, die ein Jahrzehnt älter waren als wir.
Meine Großeltern und deren Geselle hatten normal eine sechs Tagewoche. Das hatten damals viele Leute, wir hatten auch noch jeden zweiten Samstag Schule. War mein Großvater krank (selten), riss der Geselle am Tag 14 Stunden runter, das war normal. Andererseits - als er Eheprobleme hatte, zog er dann für eine Weile zu meinen Großeltern. Er hatte mal kurz ein Alkoholproblem, da fuhr mein Opa immer hin, weckte ihn und sorgte dafür (gemeinsam mit der Frau), dass er wieder "einspurte".
Cachalot schrieb:Wie oben geschrieben. In den Aushängen steht oft beides. Was tatsächlich bei einem Gespräch rauskommt kann ich nicht sagen
Ich glaube, beliebt ist schon, 30 Stunden anzustellen und bei Bedarf Überstunden zu bezahlen, weil das die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall senkt und bei einigen AN die Zahl der Krankheitstage ein großes Problem sind.
Andante schrieb:Noch mal zur 4-Tage-Woche, hier an Schulen: Wenn man Schülern und Lehrern so etwas ermöglichen willen, müssen Lehrer und Schüler halt montags bis donnerstags mehr unterrichten bzw. Unterricht erhalten. Oder, wenn die Unterrichtskomprimierung dann für beide Teile für unzumutbar gehalten wird, wird halt der Unterrichtsstoff verkleinert - und die Schüler bleiben entsprechend dümmer. Aber manchen Lehrer würde die verringerte Arbeitszeit freuen, wie manchen Schüler weniger Unterricht auch. Doch ist das gesellschaftlich wirklich so erstrebenswert?
Ich bin ja Lehrerin. Von 4-Tagewoche für Lehrer ist glaube ich nicht die Rede: Bei uns ist der Unterrichtsausfall eklatant, da es zu wenig Lehrer gibt. Gedacht ist, dass die SuS vier Tage kommen, die Lehrer aber fünf unterrichten, damit der Ausfall besser kompensiert werden kann und über alle SuS gleichmäßig verteilt wird. Die Unterrichtsqualität sinkt stetig. Zumindest an unserer Schule. Die SuS bringen immer weniger mit, die Motivation sinkt, du hast immer wieder "Sonderaufgaben", die viel Unterrichtszeit fressen. Das ist auch ein großes großes Fass - es wird nur ignoriert.