Blasphemer schrieb:Ich wünschte Lehrer könnten absolut neutral sein, aber das bleibt bei Menschen allgemein in der Regel Wunschdenken.
Ich bin Lehrerin und ich bin Mensch und schon deshalb nicht perfekt.
Und ich bin von berufs wegen nicht 100% neutral und das ist gut so. Ich erkläre das mal (behalte im Hinterkopf, ich arbeite an einer deutschen Brennpunktschule): Ich werde dafür bezahlt, dass ich junge Menschen unterrichte, habe einen Bildungsplan, den ich bestmöglist erfüllen soll, dass man irgendwann die Abschlussprüfung schafft. Beim Korrigieren ist es tatsächlich so, dass ich die Hefte erst mal bei der Arbeit aufschlage und gar nicht schaue, wen ich korrigiere - weniger aus Gründen der Neutralität, sondern, weil es meinen Korrekturfluss unterbricht, wenn ich ständig blättern muss. Ich schreibe mir auch auf die Lösung, wenn ich z.B. für eine nicht ganz korrekte Lösung noch 0,5 Punkte gebe, weil es durchaus sein kann, dass ich am nächsten Tag schärfer oder weniger scharf korrigiere. Allerdings haben viele meiner Klassenarbeiten 60 Punkte, da fällt 0,5 nicht ins Gewicht. Aber ich mache Fehler. Jedes Mal, wenn ich korrigiere. Das liegt daran, dass ich fünf Hauptfachaufträge habe und vor Weihnachten hatte ich 150 Klassenarbeiten da liegen. Quantität statt Qualität.
Ich unterrichte dieses Jahr vier verschiedene Klassen in mehreren Fächern. Jede Klasse ist mit +/-30 Schülerinnen und Schülern besetzt. Also habe ich es fast täglich mit 120 verschiedenen Heranwachsenden zu tun. Unser Tag besteht aus 3x90 Minuten mit zwei großen Pausen, das ist eine Taktung, die sich vielerorts durchgesetzt hat. Wenn ich nun also mit jedem Schüler außerhalb des Unterrichts zwei Minuten sprechen würde, dann wären das 240 Minuten pro Woche = vier Zeitstunden. Das schaffe ich zeitlich gar nicht - es ist aber nicht schlimm, da es Schülerinnen und Schüler gibt, die das gar nicht wollen. Unsere Schule ist katastrophal schlecht mit Lehrern besetzt, jetzt in der Grippewelle ist es oft so, dass du nebenher noch die Nachbarklasse 90 Minuten beaufsichtigst. Du versuchst also in einem Klassenzimmer zu unterrichten, während du nebenan 30 weitere Schülerinnen und Schüler bespaßt, die du aber teilweise gar nicht kennst.
Ich erfinde nun mal drei Schüler(innen), die es in der Form nicht gibt, aber in in anderer Form schon. Da gibt es Karl. Karl ist ein leistungsstarker Schüler, eigentlich mehr fürs Gymnasium geeignet, zuverlässig, macht immer Hausaufgaben und hat immer alles dabei. Karl unterhält mit mir eine Geschäftsbeziehung - er holt sich seinen Unterricht ab, grüßt, wenn er mich auf dem Gang sieht ... das war's aber. Ich weiß nichts über Karl. Er funktioniert einfach. Wenn ich will, dass eine richtige Antwort kommt, rufe ich ihn auf, er liefert ab. Dafür bekommt er mündlich eine 1, auch wenn er sich oft nicht meldet. Karls Mutter spricht nach dem Elternabend eine Minute mit mir, will wissen, ob alles gut ist, freut sich, wenn man Karl lobt. Rubrik "pflegeleicht".
Dann gibt es Anna. Anna drückt sich oft noch nach Unterrichtsschluss im Schulhaus herum. Anna ist ein Einzelkind mit ziemlich heftigem Schicksal. Annas alleinerziehende Mutter war an Krebs erkrankt und Anna hat den Verfall praktisch hautnah erlebt. Da die Mutter überzeugt war, dass sie die Krankheit überlebt, wurden überhaupt keine Vorkehrungen für den Tag X getroffen, der dann kam und auch Anna überrascht hat, da ihre Mutter ihr ja sagte, sie würde wieder gesund werden. Das war für Anna ein riesiger Schock. Vor Ort gab es gar keine Verwandten oder Strukturen, die Anna aufnehmen konnten, so kam sie erst mal in die Obhut des Jugendamtes. Dann war sie temporär bei einer Mitschülerin untergebracht. Es drohte eine dauerhafte Unterbringung im "Kinderheim", was Annas absoluter Horror war, da sie sich überhaupt nicht wohlfühlte. Der leibliche Vater von Anna, zu dem aber jahrelang überhaupt kein Kontakt bestand, erklärte sich daraufhin bereit, sich um Anna zu kümmern. Er zog sogar in die Wohnung, in der Anna lebt, um Anna ein Verbleiben in der gewohnten Gegend zu ermöglichen. Es gibt eine erkennbare Annährung, aber am Anfang hatte Anna das Gefühl, sie lebt nun mit einem Fremden zusammen und hatte panische Angst, der Vater könnte das Interesse verlieren und sie ins Kinderheim abgeben. Der Vater kommt oft erst gegen 18 Uhr von der Arbeit nach Hause. Anna vermeidet es, alleine in der Wohnung zu sein, sie bleibt dann lieber in der Schule. Sitze ich noch im Klassenzimmer, kommt sie vorbei und redet mit mir, oder bittet mich, dass sie einfach noch eine Stunde ihre Hausaufgaben erledigen kann, damit sie nicht alleine ist. Wenn sie eine Frage hat, fragt sie mich, weil sie ihren Vater nicht stressen will, vor lauter Angst, dass er das Interesse an der Vaterschaft verliert. Da mich Annas Schicksal mitnimmt, rede ich auch oft mit ihr über ihre Situation und nehme mir 15 Minuten Zeit, ihr mit den Hausaufgaben zu helfen. Als Annas Mutter so krank war, hatte sie nur die 67% Krankengeld. Da reichte das Geld oft nicht, die Mutter war aber zu krank, um Hilfen zu beantragen. Da haben wir oft heimlich Anna die Klassenfahrten privat bezahlt, weil wir der Meinung waren, dass es v.a. Anna gut tut, einmal was anderes zu erleben. Im Unterricht ist Anna sehr fleißig, aber nicht die hellste Kerze auf der Torte. Ich möchte aber ihren Arbeitseifer nicht bremsen, sie meldet sich auch 10x so oft wie Karl, nur sind ihre Antworten lange nicht so gut. Annas Mutter war sehr an Annas schulischem Erfolg interessiert, sie rief sehr oft an und ich habe mich mindestens ein - zwei Stunden im Monat unterhalten. Ich denke, sie hat ihre Krankheit völlig verdrängt und sich darauf konzentriert, bis zum Schluss eine gute und fürsorgliche Mutter zu sein.
So, wenn du nun die beiden Schüler fragst, dann beschwert sich Anna, weil Karl eine bessere mündliche Note hat, obwohl sie sich viel öfter meldet. Karl beschwert sich, dass Anna oft bei mir Hausaufgaben nach Schulschluss machen darf. Karls Mutter beschwert sich, wie es denn sein kann, dass Anna nicht für ihre Klassenfahrten bezahlt (wir machen das heimlich), sie hätten auch wenig Geld (Karls Mutter hat aber keine Ahnung, was Anna passiert ist und kann aus Datenschutzgründen nicht aufgeklärt werden, da Anna nicht wollte, dass der Tod ihrer Mutter in der Klasse thematisiert wird). Karls Mutter beschwert sich, dass ich so lange mit Annas Mutter gesprochen habe. War ich fair? Ich habe beide Schüler sehr unterschiedlich behandelt. Ich habe versucht, das Defizit auszugleichen, das Karl nicht hat.
Sind wir nun unfair? Lassen wir -aus Fairnessgründen- Anna beim nächsten Ausflug daheim? Weil wir Lehrer nicht 30x 20€ privat bezahlen? Geben wir Anna eine 1, weil sie sich so oft meldet, es aber nicht besser kann? Oder eine 3, weil ihre mündlichen Leistungen im Verhältnis zu Karl so viel schlechter sind? Oder bekommt Karl eine 3, weil er sich ja nicht immer am Unterricht beteiligt, obwohl er alles wüsste? Versauen wir ihm damit die Chance aufs Gymnasium oder eine gute Ausbildungsstelle, wo er -mit gesteigerten Anforderungen- sicher nochmal aufblüht?
Dann gibt es noch Berta. Bertas Mutter ist auch alleinerziehend. Die Familie scheint fianziell Schwierigkeiten zu haben - v.a. am Monatsende kommt Berta völlig ausgehungert in die Schule. Sozialarbeiter war eingeschaltet, Bertas Mutter (und Berta) haben den Vorwurf entrüstet zurückgewiesen. Jugendamt hat einen unangemeldeten Besuch gemacht, es war unauffällig. Mutter hat sogar freiwillig einen Kontoauszug gezeigt und hatte noch 50€ auf dem Konto. Die Mutter ist sonst engagiert.
Berta hat aber die letzte Woche im Monat immer noch nichts zu essen. Meine Kollegin hat Berta nun soweit, dass sie in der letzten Woche immer zwei Stullen mitbringt und Berta eine schenkt "Berta, ich habe zu viel dabei, das schaffe ich nicht ... willst du eine Stulle ...?". Die Mensafrau gibt Berta kostenlos ein Essen, es gibt ja immer Kinder, die sich nicht abmelden, wenn sie krank sind. Ich sorge dafür, dass Berta jeden Tag nach Unterrichtsschluss drei Pfandflaschen findet, dass das Geld für Nudeln reicht. Keine Ahnung, was der Grund ist, Familie mauert ...
Bin ich nun unfair? Höre ich auf, die Pfandflaschen so zu verstecken, dass Berta sie findet? Immerhin sind das 0,75€ jeden Tag - mindestens 5€ im Monat, die nur Berta hat. Hören wir auf, Berta ein Mittagessen zu organisieren, weil es unfair ist, dass sie als einzige nicht bezahlt? Hört meine Kollegin auf, eine doppelte Stulle zu schmieren, damit das Kind nicht hungert?
Verstehst du das Problem? Dann ist da noch Damian. Der ist ein Integrationskind mit einer grottenschlechten Alltagsbegleitung, die sehr viele Fehltage hat. Er ist aber so behindert, dass er es motorisch gar nicht schafft, seine Schulsachen aus der Tasche zu holen. Da muss ich ihm helfen ... 29 andere machen es alleine (und können das auch). Wenn Damian aufs Klo muss, macht das mein Kollege im Klassenzimmer nebenan, wenn die Begleitung nicht macht.
Dann sind da noch Emma, Felix, Guilia, ... Alle mit unterschiedlichen Bedürfnissen.