Alkoholsucht und Lügen
09.04.2021 um 15:27
Wie ich bereits des Öfteren beschrieben habe, bin ich trockener Alkoholiker und deswegen sind hier einige Beiträge ganz ok, aber bei manchen rollt es mir die Fußnägel hoch.
Aussagen wie "man muss einen Alkoholiker erst mal tief fallen lassen" sind Ansätze von vor 40 Jahren, das wird heutzutage überhaupt nicht mehr propagiert. Auch ein Alkoholiker ist ein Mensch mit Gefühlen und ein komplettes Fallenlassen forciert die schwere Entwicklung mehr als das es irgendwie nützt.
Aber zum Anfang - die Entwicklung zum Alkoholiker ist so vielfältig wie man sich denken können. Die einen trinken aus Spaß, die nächsten aufgrund Problemen, andere wieder aufgrund gesellschaftlichem Anlässen. Der Unterschied zwischen den Normal-Trinkern und dem Alkoholiker ist das mit der Zeit bei einem Alkoholiker der Kontrollverlust einsetzt. Das bedeutet nicht automatisch, das er mehr trinkt als der "Normaltrinker" - sondern das er aus eigener Kraft Schwierigkeiten hat, die Menge und/oder den Zeitpunkt zu steuern. Dieser Prozess ist schleichend, dh man bemerkt den Kontrollverlust nicht sondern sieht sich auf der selben Schiene wie der "Normaltrinker". Alkohol ist - leider - ein normaler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und deswegen ist dieser Prozess auch so tückisch.
So, bis zur eigenen Erkenntnis das man ein Alkoholproblem hat und Hilfe braucht kommt der "Lügenbereich" eher dadurch zu Stande, dass man selber nicht wahrhaben will das man ein Problem hat, das man selber sich gegen die Erkenntnis sträubt, das es ein zukünftiges Leben nur ohne Alkohol geht, was ja nicht nur das Weglassen des Alkohols bedeutet, sondern eventuell seine ganze Lebensweise bedroht und sogar einen Wechsel der sozialen Kontakte (Freizeitkontakte) zur Folge haben könnte. Letztlich ist es mit einem "Sag Nein zu Alkohol" eben nicht getan. Dieser ganze Prozess zum Erkenntnisgewinn bereitet einem eine riesige Angst, es scheint ein unüberwindbare Berg, so das man sich selbst und natürlich somit auch Andere belügt.
Nachdem man die Erkenntnis gewonnen hat und sich Hilfe geholt, entzogen und therapiert hat, bedeutet es nicht, das der Kampf nun gewonnen ist. Der Kampf gegen den Alkohol, gegen das Verlangen, gegen eventuell alte Spaßmuster (weihnachten, Ostern, Familienfeiern, Firmenfeiern) ist ein täglicher Kampf, ein täglicher Struggle. Meistens gewinnt man den Kampf, aber es kommt immer wieder zu Situationen, da verliert man. Problematisch ist es, das jedoch das Umfeld den täglichen, gewonnen Kampf als normal sieht und nicht realisiert, wie schwer dieser täglicher Kampf ist. Solange der Alki trocken ist, wird der Kampf gar nicht mehr thematisiert, es kommt auch kein "Schön, das Du Dein Problem weiterhin so gut kontrollierst" oder ähnliches. Das Umfeld denkt, das man den Kampf in der Therapie gewonnen hat und das Ganze danach kein Problem mehr ist - und dem ist eben nicht so. Dieser Kampf wird tagtäglich neu ausgefochten, mal stärker, mal weniger stark. So, und dann gibt es eben die Tage an dem Du einen Haufen andere Belastungen hast, die alleine schon schwierig sind und dann meldet sich der Teufel von der rechten Schulter, verspricht Dir den Zaubertrank und Du bist in dem Moment durch die ganzen andere Probleme einfach nicht stark genug, dem Teufel zu widerstehen. Und bäm - Du trinkst Alkohol.
Aber - nur weil Du jetzt Alkohol getrunken hast, bist Du ja nicht dämlich. Du weißt was es mit Dir macht, Du kennst die Konsequenz, aber Du warst eben zu schwach. Nun schämst Du Dich für Deine Schwäche. Du denkst aber, ey, mit meinen ganzen Therapieerfahrungen bekomme ich das ganz fix wieder hin - und aus Scham gemischt mit der Zuversicht das es nur eine ganz kurze, temporäre Schwäche warst lügst Du wieder. Aus Selbstschutz, aus Scham, und aber auch um Dein Umfeld nicht wieder sofort zu belasten, denn:
Nach heutigem Stand unterscheidet man zwischen Vorfall und Rückfall. Bei einem Vorfall kann es sein, dass ich mal ein, zwei Tage was trinke, und es dann sofort wieder unter Kontrolle bekomme. Das passiert Alkoholikern übrigens häufiger, als zugegeben wird. Das ist in der Tat nicht wirklich problematisch, es sei denn diese Vorfälle passieren häufig oder regelmäßig. Aber wenn ich beispielsweise ein mal im Jahr so einen Vorfall habe, ist es schlecht, aber noch kein Grund zu übermäßiger Sorge.
Von einem Rückfall sprechen wir, wenn wir wieder in unsere Suchtbedingten Verhaltensmuster fallen, sprich wir verhalten uns wie wir uns untherapiert verhalten haben - alte Trinkmuster, alte trunkbedingte Reaktionen usw. Da muss man sofort einschreiten, und ja, da braucht der Alkoholiker Hilfe.
Im Übrigen ist es völlig ok und nachvollziehbar, wenn ein Partner den harten Weg des (trockenen) Alkoholikers nicht mitgehen will, aber gerade die Unehrlichkeit als Aufhänger dagegen zu nehmen ist nicht wirklich nachvollziehbar, da hier anders als bei vielen anderen Lügen oftmals keine böse Absicht dahinter steckt, sondern oftmals der Versuch andere zu schützen und die Hoffnung, selber Kontrolle zu erlangen, bevor es wieder ein Problem für Andere wird.
Keiner würde seinen Partner für die (eventuelle Lüge) "Schatz habe ich zugenommen" - "Ee, auf keinen Fall" verlassen, auch wenn es deutlich wäre das der Partner zugenommen hat, denn auch wenn es eine Lüge ist, will man hier den Partner nicht verletzen.