filiz schrieb am 27.11.2019:Es war am Anfang ein sehr schönes Gefühl wenigstens gute Schweigereltern zu haben, die einen lieben wie die eigene Tochter. Aber in letzter Zeit kommt bei mir immer mehr der Gedanke, warum ich nicht so gute Eltern habe und was ich eventuell falsch gemacht habe (ich weiß klingt blöd). Ich muss auch sagen, dass oft so ein Gefühl aufkommt wie Neid.
Habt ihr vielleicht solche Erfahrungen und könnt sagen, wie ihr für euch ein Weg gefunden habt??
Ich kenne das zu gut. Fast alle um mich herum als ich klein war hatten tolle Eltern. Ein tolles Zuhause, Fürsorge, Liebe, Freundlichkeit.
Meine Eltern ließen sich scheiden als ich 2 Jahre war, meinen Stiefvater hasste ich und irgendwie war ich nie willkommen. Mit 5 hat mir jeder, wirklich JEDER gesagt "jetzt streiten die schon wieder wegen dir". Als ob ich mit 5 Jahren irgendeinen Streit hervorrufen könnte.
Als ich 8 war, kam meine kleine Schwester zur Welt. Der Sonnenschein. Mein Stiefvater konnte auf einmal liebenswürdig sein und ich wurde noch schlechter behandelt.
Insofern überhaupt möglich hatte ich noch mehr Schuld an allem.
Ich war es irgendwann leid mit meiner Mutter runter in den Keller zu schleichen und Klamotten aus den Spenden der Volkssolidarität zu klauen für mich. Ich sprach das Thema an. Warum muss ich zu kleine Schuhe tragen? Hosen die zu kurz sind? Warum muss ich mein Spielzeug teilweise selbst reparieren? Warum habe ich nie Geld für Wandertage? Immer nur gebrauchte und kaputte Schulsachen. Die Antwort meines Stiefvaters war recht eindeutig - "Ich bin teuer und die Miete muss bezahlt werden".
Falls man jetzt auf die Idee käme wir wären traurigerweise arm, dann stimmt das nur bedingt. Sie hatten ein Auto, Jobs, Kettenraucher, permanent gute Audiogeräte, Gitarren, der jährliche Urlaub, einen Garten und Essen im Kühlschrank. Und im Gegensatz zu mir kam meine Schwester in den Genuss neuer Sachen.
Ich habe recht oft bei meiner Oma gewohnt. Teilweise über ein Jahr. Immer noch mit gebrauchten Sachen, aber meine Ruhe. Mit 12 Jahren bin ich zurück gezogen. Dachte ich versuche mal wieder ein normales Leben zu führen bei meinen Eltern.
Das kannst du dir so vorstellen: Ich wahnsinnig schlimmes Mädchen, die irgendwie nie zuvor etwas Erwähnenswertes getan hat, musste nach Hause kommen und im Zimmer bleiben. Mein Stiefvater hat sich gemerkt - ER HAT SICH GEMERKT - wie alles in der Wohnung lag. Er hat sogar die Kabel aus der Anlage und dem Fernseher getan damit ich das nicht benutzen darf. Ich wurde also Meister der unerkannten Benutzung und hab mit 12 Jahren verstanden was ein optisches Kabel ist und wie man ne Stereoanlage richtig anschließt. Nicht zu vergessen die Fernbedienung immer wieder akkurat hinzulegen, Kissen ausschütteln, keine Krümel und ein warmer Fernseher ist verräterisch. Krank? JAAAA! Eindeutig!
Ich muss mal erwähnen, dass ich bis dato nie was kaputt gemacht habe, nicht in Bücher geschrieben, keine Wände bemalt, nicht mit Essen rumgesaut, kein Kassettenbandsalat verursacht, kein Alkohol - Nichts.
Mit 14 Jahren kam ich dann, mehr oder minder freiwillig, in ein Heim. Ich habe mich im Weg gefühlt. Falsch am Platz. Das ich da nicht hingehöre. Ich wollte diese Familie zu dritt eine Familie sein lassen, denn ich war kein Teil davon.
Und es war ok. Wirklich. Die Jugendlichen im Heim waren wie ich. Ich war endlich keine Außenseiterin mehr auf nem recht privilegiertem Gymnasium. Ich war nicht mehr die eine unter 2000 deren Probleme vom Vertrauenslehrer völlig ignoriert wurden, sondern ich war eine wie alle anderen.
Eine die in einem Raum voller älterer Jugendlicher saß und gemerkt hat, dass die Welt groß ist, das Freunde zueinander stehen und das es tolle und beschissene Eltern gibt.
Im Laufe der Zeit schwankte meine Einstellung immer wieder. "Hauptsache irgendeine Familie" und "eine schlechte ist besser als keine". Oder "lieber bin ich alleine als mir diesen Scheiß anzutun".
filiz schrieb am 08.12.2019:Es war bei mir auch so, Gründe zu suche, warum die eigenen Eltern so waren oder sind, hilft absolut nichts.
Als ich studiert habe und in Wohnungsnot war, haben meine Eltern mich nicht aufgenommen, sondern mein bester Freund, der wie ein großer Bruder für mich und immer hinter mir stand. Solche Situationen zeigen mal wieder, dass "Blut ist dicker als Wasser" manchmal einfach nicht zutrifft.
Mein bester Freund, der hatte auch nicht die besten Eltern und daher hat er mich super verstanden. Es ist für viele Menschen, die in einer "heilgen Familie" aufgewachsen sind, schwer nachvollzuziehen, dass es auch wie bei uns ablaufen kann. Allerdings nervt mich es von Leuten zu hören, dass es immer noch Eltern bleiben, egal was sie einem angetan haben.NEIN bleiben sie nicht und in vielen Fällen waren es nie Eltern
Als ich irgendwann mit 18 dann in meine eigene Wohnung zog und man mir das Erwachsenwerden nicht mehr absprechen konnte, wurde ich tatsächlich um Rat gefragt. Meistens jedoch hat man meine Kenntnisse ausgenutzt. Denn im Gegensatz zu anderen, hatte ich recht viel Ahnung davon wie man aus schwierigen Situationen raus kommt.
Aber wenn ich selbst Hilfe brauchte, haben beide mich an ihre Bekannten verwiesen mit denen sie taggleich kurz telefoniert hatten und schlugen mir vor, dass ich mir wildfremde Menschen anrufe und um Hilfe bitte?! Beide waren nicht krank, hatten Zeit und das Auto war nicht kaputt.
Ich war es ihnen einfach nicht wert. Punkt. Mehr gibt es nicht zu sagen. Ich war es ihnen nicht wert in den Urlaub mitgenommen zu werden, ich war nicht wert mit irgendwas Neues zu kaufen das ich gebraucht hätte, ich war es auch nicht wert, dass man die eigenen Streitereien bei sich verortet.
Meine Mutter sagte mal ich hätte böses Blut in mir. Von der Familie meines Vaters - natürlich -_-
Ich durfte auch nicht alleine in den Garten gehen (auch nicht mit 20) und lustigerweise wurde ich sogar angeschnauzt wenn ich, recht mittellos während meiner Ausbildung, vorbeischaute und nicht vorher eingekauft hatte.
Während mein Stiefvater also für jeden Grillfleisch parat hatte und die Gäste verkostete, bekam ich nichts. Und im Garten gegenüber, wo meine Kumpels der Kindheit waren, haben die Eltern nie auch nur irgendwas verlangt.
Da sitzt man bei der eigenen verkommenen und unweit sitzt die vermeintlich perfekte Familie. So unterschiedlich kann Normalität sein.
Irgendwann hat es mein Vater geschafft seine Wohnung zu kündigen, weil er aufgrund von Schulden Geld sparen wollte, ist zu einem Bekannten gezogen, und nach 1,5 Jahren hatte der die Schnauze voll und warf ihn raus. Also hab ich ihn aufgenommen. In eine 3-Raum-Wohnung. Und weil er so ein aufmerksamer Mann ist, hat er auch gleich meine Regeln missachtet und seine Freundin permanent angeschleppt und mir gedroht nicht auszuziehen.
Meine Mutter und Stiefvater hatten in der Zeit krude Freundschaften. Ehemalige Freunde meines Partners. Sie kamen über Umwege an ein Jahrzehnte altes Bild meines Partners in einer sexuellen Situation welches sie freundlicherweise mir vorenthielten, meinen Partner damit erpressten und es anderen per WhatsApp schickten. Ach ja, und mein Stiefvater hat´s geschafft mit einer Bekannten meines Partners rumzumachen.
DAS war der Zeitpunkt in dem ich aus meiner echt verkackten Familie eine Solofamilie gemacht habe. Nämlich mich. Und nur mich. Und ich alleine.
Und ich entscheide wer zu meiner Familie gehört und wer nicht. Ich entscheide wann ich Drama in meinem Leben haben will. Und ich würde jederzeit meine Eltern rausschmeißen. Denn jeder von uns hat das recht zu entscheiden was er erträgt und aushält und was man einfach nicht mehr mit sich machen lässt.
filiz schrieb am 18.12.2019:Ich kann dir absolut nicht widersprechen, so hart es auch alles klingen mag, was du geschrieben hast. Es ist aber oft schwer, wenn die Gedanken an die Vergangenheit kommen
Ich bin jetzt über 30 Jahre. Ich bin im Kinder- und Jugendheim aufgewachsen, hatte irgendwann große Schulprobleme. Es hat lange gedauert, aber ich habe Abschlüsse, ne Ausbildung, Fortbildung, hab für Banken gearbeitet, bin kurz vorm Abschluss meines Studiums, war in der Politik und besitze einen eigenen Garten und bin in der Anlage Vorsitzende. Ich habe einen Partner und meine Tochter ist 17 Monate alt.
Bin ich neidisch? Natürlich! Das ist normal. Verwechsel Neid nicht mit Missgunst. Neid bedeutet auch, dass du für dich das selbe wünscht was andere besitzen.
Klar hätte ich gerne ne schöne Kindheit. Nein, ich hätte in der Grundschule lieber Freunde als aufgrund meiner Second Hand Sachen gemobbt zu werden. Klar wäre ich sonntags lieber zum Essen eingeladen worden als in Berlin Wedding im Heim rumzusitzen. Und ja, diese Gedanken gehen auch niemals weg. Die Frage ist jedoch, was macht es mit dir? Macht es dich depressiv? Wirst du wehleidig? Oder kommst du damit klar ohne das es dich runterzieht?
Als meine Kleine damals alle paar Stunden nachts wach geworden ist und ich fast einem Monat am Stück nicht geschlafen habe, war ich wirklich fertig. Ich konnte nicht mehr. Ihr Papa ist selbstständig und arbeitet nachts.
Ich hatte wirklich schlimme Gedanken und war wütend. Ich hatte Angst zu werden wie die asozialen Eltern die ich hatte und auch von anderen kenne.
Und weißt du was? Ich habe mir Hilfe geholt. Ich war in Krankenhäusern und bei Ärzten und musste zugeben, dass ich vlt kurz davor war diesem unschuldigem Wesen was zu tun. Und glaube mir, das war alles andere als leicht.
Aber dieses bezaubernde Mädchen ist auf mich angewiesen. Auf MICH. Und sie wird auch in 10 Jahren auf mich angewiesen sein und in 20 Jahren und in 30 Jahren. Und es ist scheißegal was für Probleme ich habe. Sie hat es verdient, dass ihre Mutter ihr gibt was sie braucht um ein großartiger Mensch zu werden der überwiegend Liebe und Freunde kennt.
Genauso hätte ich es verdient und genauso hast du es verdient. Ich kenne den Text von damals nicht und dein Leben, aber Kindern kann es komplett egal sein was die Eltern für Baustellen haben.
Will ich einen Familienausflug und bin traurig, dass ich es früher nicht hatte, dann nehm ich meine Maus und Freund und wir fahren spontan in Urlaub.
Will ich ein sonntagliches Essen, dann geh ich Samstag einkaufen und mache ein Festessen.
Weihnachten war früher bescheiden? Ja. Aber jetzt zauber ich mit meiner kleinen Familie mir meine eigenen Festtage.
Die Familie meines Partners ist auch übertrieben lieb und fürsorglich. Bin ich neidisch, na klar... ABER... Ich habe bezaubernde Schwiegereltern, mein Partner hat erlebt wie schön es sein kann und meine Tochter hat die beste Oma und den besten Opa die ein Kleinkind sich wünschen kann.
Denke nicht an die Vergangenheit mit Kummer im Herzen. Du bist jetzt die Vergangenheit für andere. Du lehrst jetzt diese schönen Kindheitsgedanken und bereitest diese. Deine Rolle in der Geschichte war halt unschön, aber das war nur der erste Akt.
Weder ist es deine Schuld, noch Teilschuld, noch ist sowas vererbbar. Du bist der Mensch mit Verantwortung für sich und für deine Kinder.
Wenn du zurück blickst dann lächle und sag dir immer, dass du um Klassen besser bist und es niemals so schlecht machst wie sie. Und dann sei stolz auf dich.