Interested schrieb: Also, Deine Eltern haben einfach nur nen Vollschaden, wenn ich das mal so sagen darf. Und bei Deiner Schwester scheint das ja zu klappen und zu funktionieren, mit ihr was "anfangen" zu können. -.-
Mein Bruder und ich haben lange gerätselt, was bei uns anders war als bei meiner Schwester - wir waren geplant, sie nicht ... und dennoch hat sich da ein sehr herzliches Eltern-Kind-Verhältnis aufgebaut, was wir nicht haben.
Interested schrieb:Mir Dir ist alles in Ordnung. Auch Dein Verhalten erklärt sich - damals, wie heute - und wie reflektiert Du das heute siehst. Aber Deine Eltern verhalten sich einfach nur schäbig Dir gegenüber.
Sie sind distanziert und sehr uninteressiert, d.h. sie zeigen kein "typisches Elternverhalten". Mit Abstand betrachtet - meiner Schwester gegenüber verhalten sie sich ganz anders. Mein Bruder und ich haben auch nichts getan, dass ein derartiges Verhalten irgendwie rechtfertigen würde. Mich persönlich würde interessieren, warum es so ist. Ich würde es gerne verstehen, weiß aber nicht, ob es einen rationalen Grund gibt?
Allerdings sind die Jahre, wo mich die Frage brennend interessierte und quälte vorbei. Heute ist es Interesse. Ich weiß aber, dass ich nie eine Antwort darauf bekommen werde. Damit kann ich heute Leben.
Interested schrieb:Das ist enfach so mies, da würde ich gar nicht mehr hinfahren! Auch wenn ich es absolut verstehe, wenn man es trotzdem tut, weil es hier um Emotionen geht, die Familie - sie verhalten sich aber wie Fremde!
Es ist ehrlich gesagt die pragmatischere Lösung. Wir leben im selben Ort, da trifft man sich zufällig - im Supermarkt, beim Bäcker, beim Zahnarzt. So wie andere Leute auch. Ich möchte mich da keinem Stress aussetzen - nicht reden, ignorieren, etc. wäre mehr Stress. Zumal wir ja auch Verwandte haben, wo wir sie wieder treffen.
Es ist ja nicht so, dass mich das Zeit "kostet" - oft trifft man sich auf der Straße, sagt Hallo, v.a. meine Mutter bleibt nie stehen, läuft weiter. Wenn ich meinen Vater alleine treffe, kann es sogar sein, dass er für ein, zwei Minuten stehen bleibt, etwas fragt, dann weitergeht. Ein Gespräch entsteht sehr selten. Daher wissen sie auch zu wenig.
Es ist tatsächlich eine Entfremdung spürbar - wenn man so viele Jahre so reduzierten Kontakt hat, dann weiß man viele Dinge nicht übereinander. Ich würde das Verhältnis wirklich mit dem zu entfernten Nachbarn vergleichen - man grüßt sie, mal wechselt man ein unverbindliches Wort, dann geht man weiter ...
Interested schrieb: Deine Schwester scheint nicht so reflektiert. Sie hätte z.B. darauf bestehen können, dass ihr auch kommt, zum Kaffee, zum Essen - an einem der Tage. Und der Geburtstag, ohne Worte! :palm:
Ich habe ein engeres Verhältnis zu meinem Bruder als zu meiner Schwester. Erst mal, weil wir unter den gleichen Voraussetzungen aufgewachsen sind. Dann ist unsere Schwester wesentlich jünger als wir - als ich auszog, ging sie noch in die Grundschule. Ich kenne sie praktisch nur als Grundschulkind ... dann haben wir uns 1-2x im Jahr gesehen. Sie bemüht sich um ein herzlicheres Verhältnis, ruft auch mal an, fragt nach ihren Nichten und Neffen, schaut, dass sich unsere Kinder, die ja Cousins sind, treffen.
Für meine Schwester ist das "Normalität", so, wie es ist. Sie lebte viele Jahre mit meinem Eltern alleine und hatte praktisch einen Einzelkindstatus, da sie unsere Eltern ja nicht teilen musste. So typische Dinge, wo Eltern sonst anwesend sind - Uniabschluss, Umzug, etc. ... da war bei uns ja niemand. Meine Eltern haben das auch nur einmal erlebt - bei meiner Schwester. Wir haben zwar eingeladen, aber sie kamen nicht. Ich habe mir mein Uniabschlusszeugnis zuschicken lassen (ärgert mich heute noch), bei meinem Bruder sind schon die jetzt Schwiegereltern mit und haben ihn kräftig gefeiert.
gruselich schrieb:in sehr toller, ergreifender Beitrag!
Man spürt die Ambivalenz deiner Lage, aber dein Resümee ist irgendwo doch positiv und in dem Sinne, Danke dir für den Einblick.
Ich denke darüber nach, mir dieses Buch zu bestellen:
Adult Children of Emotionally Immature Parents: How to Heal from Distant, Rejecting, or Self-Involved Parents”, by Lindsay C. Gibson
Das Buch klingt interessant - als Kind und Jugendliche hätte es mir total geholfen zu wissen, dass es noch andere Menschen in der Situation gibt. Ich dachte wirklich immer, dass ich (und mein Bruder) die einzigen sind. Wir waren eben im Mikrokosmos unseres Dorfes und unseres Freundeskreises gefangen und da war es so, dass alle unsere Freunde zumindest ein sehr liebendes Elternteil hatten.
Klingt nun sehr doof, aber ich sehe sogar ein paar Vorteile darin: Ich habe keine emotionale Bindung mehr. Ich leide nicht mehr darunter, dass ich keine habe. Ich bin praktisch "frei". Meine Freunde sind nun in einem Alter, wo ihre Eltern vergreisen und sterben und sie verlieren liebe Menschen, die einen festen Platz in ihrem Leben haben - und sie leiden unter diesem Verlust. Ich überlege manchmal, ob ich traurig sein werde. Ich kann es nicht einschätzen.
FerneZukunft schrieb:Es ist schlimm, was Du erleben musstest!
Wichtig ist, dass ein Kind mindestens eine Bezugsperson hat, bei der es sich geborgen fühlt.
Das müssen aber nicht die eigenen Eltern sein.
Das stimmt - leider gab es die nicht so ... ich hatte einen sehr lieben Großvater, der aber früh verstorben ist. Klingt nun total doof: Ich habe viel über mich gelernt. Ich hatte echt doofe Momente, z.B. im Studium, wo es mir finanziell eine Strecke so schlecht ging, dass ich auch nicht genug zu essen hatte ... ich habe gelernt, mir da auch zu vertrauen. Ich war wirklich ab und an an der Grenze und habe auch eine Resilienz entwickelt. Wenn sich heute Arbeitskollegen über Kleinigkeiten aufregen, dann kann ich wirklich ziemlich cool bleiben.
Nursii schrieb:In manchen Teilen erkenne ich mein eigenes Leben wieder...
Allerdings bin ich zu kraftlos, um darüber zu schreiben.
Ich danke dir von Herzen für deinen sehr offenen Beitrag und wünsche dir und deiner wundervollen Familie von Herzen das allerbeste!
Danke, dir auch. Glaub an dich selbst - ich denke, dass Eltern im Idealfall Menschen sind, die einen eine Weile lang begleiten ... irgendwann hat man aber das Rüstzeug, sich loszulösen. Oft muss man das nicht zu Lebzeiten, weil die Eltern liebevoll sind, fürsorglich und weil man sich in der Kind-Eltern-Beziehung wohl fühlt. Dann kommt der Abschied spätestens mit dem Tod.
Ich habe aber festgestellt, dass der Abschied viel früher kommen kann. Ich hatte oft Abende, v.a. wenn ich dann mal daheim war, im Studium und es gleich am ersten Abend Knatsch gab oder ich eben die zwei Stunden am Bahnhof rumstand, wo ich mir so überflüssig vorkam und wo ich traurig war. Irgendwann war es nicht mehr so. Ich habe nichts mehr erwartet. Ich kam, blieb ein paar Tage, fuhr wieder und nichts konnte mich verletzten. Irgendwann habe ich verstanden: Das war der Abschied. Wenn mich meine Mutter heute auf der Straße kurz grüßt und dann mit einer Bekannten stundenlang an der Straßenecke quatscht, dann quält mich das nicht mehr.
Es hat mir wirklich geholfen zu akzeptieren, dass ich - aus welchen Gründen auch immer - keine Eltern in einer Elternfunktion in meinem Leben hatte. Ich hatte eine Mutter, die mich geboren hat. Menschen, bei denen ich eine Weile lebte, die meine Kleidung, meine Schulbildung, mein Essen finanziert haben. Die froh waren oder schienen, dass wir früh auszogen, die keinen Anteil an unserem Alltag genommen haben. Teile der Elternfunktion habe ich nie erlebt. Ich habe sie vermisst. Ich war traurig. Ich habe dann akzeptiert, dass es so war. Ich habe auch akzeptiert, dass es nicht an mir lag (wie ich so lange dachte).