War früher mehr Lametta? Werden Zeiten wirklich schlechter?
01.06.2020 um 09:39
Was ich mir gestern noch überlegt habe: Ich denke, wir erwarten das Maximum vom Leben. Wenn ich meine Großeltern so anschaue:
Großvater 1 - kurz vor 1900 geboren. Ärmliche Kindheit, früher Tod des Vaters. Finanzielle Armut. Ausbruch 1. Weltkrieg und Volljährigkeit auf dem Russlandfeldzug. Erzählte sein Leben lang vom Hunger und der Kälte und dem Tod. Bekam in Russland eine Mittelohrentzündung - beidseitig und verbrachte sein restliches Leben fast taub - was man ihm als körperlichen Makel ankreidete - er litt sehr unter der Behinderung, die ihm auch viele berufliche Wege versperrte. Lebte in permanenter Angst, das restliche Hörvermögen auch noch einzubüßen.
Kam heim, die Spanische Grippe war schon da (führte zu einigen Todesfällen in seinem Freundeskreis) und "war froh, Arbeit zu finden" - persönlicher Entscheidungsspielraum - 0. Sparte sich etwas zusammen, um zu heiraten und ein Haus zu kaufen - dann fraß die Inflation und die Weltwirtschaftskrise alles weg. Für sein Glück war er nun so versehrt, dass ihm der Zweite Weltkrieg erspart blieb. Heiratete und sparte wieder .... Mit meinem Großvater über den Friedhof zu laufen war ein besonderes Erlebnis - v.a. die Kriegsdenkmäler, wo er plastisch erzählen konnte, wen er alles kannte. War sein Leben lang auf einen neuen Krieg vorbereitet (Feuerholz, Lebensmittelvorräte, Gold, ...). Erzählte auch viel, wo man im Wald essbare Sachen findet ... Fazit: Glückliche Ehe und relativer Wohlstand durch fast krankhafte Sparsamkeit. Sonst wenig Lametta.
Großmutter 1 - um 1900 geboren. Kindheit ärmlich. Sehr gutaussehend. Verlobte sich vor dem Krieg, sozialer Aufstieg schien möglich - Verlobter starb im Krieg. Litt sehr, fand keine Arbeit, große Familie, die ihr signalisierte, sie müsse finanziell für sich selbst schauen. Heiratete dann meinen Großvater. Da die Inflation alles ersparte der Verlobungszeit auffraß, fing man immer wieder von vorne an. Heiratete, schob den Kinderwunsch auf - erlitt sieben Fehlgeburten und Totgeburten, bevor ein Kind überlebte. Starb sehr früh und sehr schlimm an Krebs (kaum Therapiemöglichkeiten). Fazit: Eigentlich kaum Lametta.
Großvater 2 - um 1910 auf einem großen Bauernhof in eine große Familie geboren. Alle älteren Brüder (bis auf den Hoferben) im 1. Weltkrieg gefallen. Riesiges Trauma in der Familie. Überlebender älterer Bruder Hoferbe - Großvater 2 ging leer aus, wurde mit 13 in eine Bäckerlehre geschickt - und dankbar für die Möglichkeit. War sehr unternehmungslustig und fuhr Sonntagmittags immer durchs Ländle, um einen geeigneten Standort für seine Bäckerei zu finden. Kaufte dann eine Bäckerei und hatte dank Inflation ziemlich Glück, was den Kredit anging. Systematische Brautschau in seiner Heimat "die ka schaffe" - meine Großmutter war auf dem Nachbarshof aufgewachsen.
Meldete sich dann freiwillig zum Krieg (2. Weltkrieg), weil er an einen Blitzkrieg glaubte und niemals mit einem Angriff von Hitler auf Russland rechnete - war einer der letzten, die nach fast 10 Jahren Kriegsgefangenschaft sehr traumatisiert heimkam. Alle nach ihm geborenen Brüder fielen. Zwei Schwestern starben in der Kriegszeit an Infektionskrankheiten. Familie danach ziemlich zerrüttet.
Hatte ein paar gute Jahrzehnte (finanziell), musste aber wirklich von Sonntagabendmitternacht - Samstagnachmittag in der Backstube stehen - er hatte bestimmt eine 70-80 Stundenwoche. Machte nebenher noch Partyservice mit dem örtlichen Metzger, Brötchenservice ... Hatte ein großes Problem, wieder in diese Rolle zu finden (kriegstraumatisiert, seine Kinder waren schon 10 Jahre alt, als endlich aus dem Krieg kam). Als örtlicher Bäcker eines Dorfes wurde auch dein Lebenswandel von der Erwartung der Kundschaft geprägt, z.B. regelmäßiger Kirchgang, obwohl er gar nicht gläubig war. Da war nicht viel mit Lametta. Bekam einen Tobsuchsanfall, als mein Onkel erwähnte, dass er eigentlich nicht Bäcker werden wollte. Großvater setzte sich durch - der Bub übernahm gezwungenermaßen die Bäckerei. Backte noch 20 Jahre nach Rentenantritt, da die Bäckerei nicht mehr genug Ertrag abwarf, um einen Gesellen zu bezahlen, wollte sein Lebenswerk nicht sterben sehen. Starb bei einem (doofen) Unfall.
Großmutter 2 war um 1920 geboren, auch auf einem großem Hof, nicht besonders hübsch (daher kaum Heiratschancen), aber sehr fleißig. Ihr blieben genau zwei Wahlmöglichkeiten: auf dem Hof bleiben (der dem älteren Bruder gehörte) oder zu heiraten. Sie hatte sich um Arbeit in der Fabrik bemüht - vergeblich. Mein Großvater war der einzige Interessent, so entschloss sie sich für Hochzeit und Wegzug. Kannte meinen Großvater bei der Verlobung eigentlich kaum.
War sehr heimatverbunden und litt sehr unter der Entfernung (Besuche in der Heimat gab es selten, auch, weil sich mein Großvater nicht mit den ganzen toten Brüdern konfrontieren wollte). War gerade Anfang 20, als mein Opa in den Krieg zog, schon schwanger, wurde im ersten Heimaturlaub wieder schwanger. Am Kriegsende vergewaltigt, zehn Jahre Ärger mit den Bäckergesellen nach dem Krieg, die sie nicht ernst nahmen, eröffnete die Bäckerei nach Kriegsende wieder und wartete auf die Rückkehr meines Großvaters. Im Krieg hatte sie es eines Nachts nicht mehr in den örtlichen Bunker geschafft und verschanzte sich im Keller - in der Nacht wurde der Bunker getroffen, Menschen verschüttet und man grub mit den Händen die toten Nachbarn und Freunde aus. Das hat sie auch nie verwunden, auch, dass ihr tiefer Schlaf ihr das Leben gerettet hat. Ihr Leben war Arbeit und Haushalt. Nach Ladenschluss kochte sie Obst ein oder strickte. Fiel eines Tages bei der Arbeit tot um (fast 90). Kein Lametta.
Da war nicht viel mit Lametta. Und das waren ziemlich typische Dorfbiografien.