Tussinelda schrieb:Nämlich dass diese Gesellschaft Gewalt durch Männer systematisch begünstigt.
Denn noch sind es mehr Männer in entsprechenden Machtpositionen und mehr Frauen, die von sexueller Gewalt betroffen sind.
Was nicht bedeutet, dass nicht auch Frauen Täter und Männer Opfer sein können, nur ist das Ausmaß ein anderes.
Und wenn dann Opfern nicht geglaubt wird, wenn das Mitteilen von sexualisierter Gewalt dann auch noch dazu führt, dass Männer keine "attraktiven" Frauen mehr einstellen, dass so getan wird, als sei quasi kein Kontakt mehr möglich, ohne dass Männer falsch beschuldigt würden, dann frage ich mich ganz ehrlich, warum macht man sich darum Sorgen, anstatt darum, dass Frauen kaum unbelästigt existieren können. Es ist doch Fakt, dass Frauen die höchste Opferrate haben sexualisierte Gewalt betreffend.
Warum kommt dann nicht die Reaktion, ach Du liebe Güte, das ist ja furchtbar, daran müssen wir etwas ändern, sondern: Männer werden auch belästigt. Frauen sind auch Täter. Männer werden falsch beschuldigt. Das werde ich nie begreifen, nie.
Und noch etwas. Wenn Frauen einen # ins Leben rufen, wo es um sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen (vordringlich) geht, es haben sich ja Männer zu Wort gemeldet, so isses nicht, warum machen Männer nicht einfach das Gleiche?
Du hast hier sehr vieles angeschnitten. Ich möchte versuchen, dazu zumindest ansatzweise Stellung zu nehmen, ohne den Rahmen zu sprengen und mit der Gefahr, missverstanden zu werden.
Dass körperliche Gewalt durch Männer zumindest in der westlichen Gesellschaft systematisch begünstigt werde, halte ich für eine äußerst gewagte Aussage. Unser Gesetz und die westlichen Werte sprechen sich dezidiert dagegen aus. Ich behaupte, den meisten Jungen ist die Einschärfung bekannt: "Wer ein Mädchen schlägt, ist ein furchtbarer Feigling!" Ich habe vor einigen Monaten im Zuge eines Krankenhausaufenthaltes mehrere Frauen kennengelernt, die von ihren Männern misshandelt wurden. Deren schockierende Erlebnisse wurden teils in der Gruppe besprochen und von den anwesenden Herren selbstverständlich einhellig verurteilt. Betroffenen Frauen stehen zahlreiche Hilfseinrichtungen zur Verfügung und der Weg einer Anzeige. Aus verschiedenen, ganz verstrickten Familien- und Beziehungsverhältnissen heraus trauen sich Frauen jedoch oftmals nicht, Hilfe und Gesetz in Anspruch zu nehmen. Wir sind uns darüber einig, dass sich dies ändern sollte und die personellen Kapazitäten der Hilfseinrichtungen (Frauenhäuser etc.) stark ausgebaut werden sollten. In Österreich wurde zum Glück kürzlich ein Schritt in diese Richtung gemacht. Allerdings scheint mir, dass die MeToo-Bewegung gar nicht oder wenigstens langfristig auf ungünstige Weise dazu beiträgt - für mutmaßliche Opfer und mutmaßliche Täter.
Positionen, die als sogenannte Machtpositionen bezeichnet werden, werden vor allem von Männern angestrebt. Aus verschiedenen Gründen vornehmlich psychologisch-biologischer Natur erscheinen Frauen im Großen und Ganzen (es sind, wie bei allem, nie alle) Karrieren und hohe Führungspositionen weniger erstrebenswert. Dies wird in den als fortschrittlich geltenden skandinavischen Ländern offenbar, wo man mit Verblüffung feststellte, dass wenn man den Menschen die höchstmögliche Chancengleichheit und Freiheit in der Berufs- sowie Ausbildungswahl (mit staatlichen Förderungen) gewährt wie etwa in Schweden - dass dann generell gesprochen Männer eher Karrieren in naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Bereichen und auch hohe Positionen anstreben, während Frauen eher soziale und medizinische Berufe verfolgen und weniger auf Führungspositionen aus sind. Daraus lässt sich die Annahme herleiten, dass Männer und Frauen im Allgemeinen unterschiedliche Interessen besitzen, die sich trotz der Bemühungen und trotz der gleichheitsliebendsten Gesellschaft, Frauen für "typisch männliche Zweige" und Männer für "typisch weibliche" Zweige zu begeistern, nicht einfach ändern lassen.
Kein Mensch wird je unbelästigt durchs Leben gehen. Es gilt zu lernen, zuvörderst eigenverantwortlich damit umzugehen. Überschreitet die Belästigung die Grenze zur körperlichen Gewalt, so stellt der Rechtsstaat sowie soziale Einrichtungen Möglichkeiten zur Verfügung, die ich mit Freuden gefördert sähe. Natürlich lässt sich Belästigung ebenso verfolgen, doch deren Definition gestaltet die Sache äußerst schwierig. Im Zug fasste mir einmal eine junge Frau in den Schritt. Ihre Absichten waren eindeutig. Ich kannte sie nicht, sie gefiel mir nicht, ich wollte nicht. Nun, was wäre gewesen, wenn sie mir gefallen hätte, wenn es zwischen uns geprickelt hätte und ich vielleicht sogar in Stimmung gewesen wäre?
;) Es ist folglich äußerst schwierig, wenn nicht fast unmöglich, zu definieren, wann nun in diesem grundmenschlich-natürlichen und ganz und gar situations- sowie persönlichkeitsabhängigen Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Sexualität Belästigung gewittert wird oder aber eine zwar gewagte, aber aufregend willkommene Avance. Meine besten Freunde waren mein Leben lang nur Frauen, und von Frauen war und bin ich meist immer noch umgeben. Wenn man ein unschuldiges Hinterherpfeifen, das fast nie unangenehme Folgen nach sich zieht, oder ein Kompliment oder auch einen zwar etwas anzüglichen, aber gutgemeinten Witz als Belästigung betrachtet, dann könnte man tatsächlich das Argument anbringen, dass Frauen "kaum unbelästigt existieren können". Man müsste allerdings schon über eine gewisse soziale Inkompetenz, einen Tunnelblick oder ein düsteres Männerbild verfügen, um solcherlei als Belästigung wahrzunehmen. Wer über seine Kindheit hinaus einen Tag gelebt hat, weiß, dass die zwischenmenschliche Kommunikationen oftmals nicht eindeutig ist. Man müsste die gefeiertsten Klassiker der Weltliteratur verbannen, wenn ein Nein und Ja immer genau Nein und Ja bedeuteten. Die Komplexität menschlicher Verständigung mittels Ton, Sprache, Mimik und Gestik ist unerreicht. All diese Faktoren können es dem Gericht unheimlich schwer machen, von tatsächlicher Belästigung und Motiven wie Rache oder eventueller Profitabsicht zu unterscheiden. Daher hielte ich es für angebracht, sich mit diesem Thema sachlich auseinanderzusetzen, anstatt erst einmal Anschuldigungen oder Behauptungen, die nicht bestätigt sind, in die Welt hinauszutragen. Idealerweise konfrontiert man den mutmaßlichen Täter zunächst persönlich, um eine Stellungnahme zu verlangen. Dieser erste Schritt könnte womöglich schon einiges aufklären.
Die junge Frau aus dem Zug habe ich übrigens nicht unter dem Hashtag MeToo öffentlich angeprangert. Sie war jung und ich kam zu dem Schluss, dass sie aus Unerfahrenheit und einer Fehleinschätzung der Situation gehandelt hat.
;)Gerechtigkeit verlangt auch, durch Beweise die Schuld zweifelsfrei festzustellen. Man kann niemandem "einfach glauben" und mir der Rechtsauslegung nach Gefühl und Befinden verfahren. Aus diesem Grunde hielte ich es auch für vernünftiger, Anschuldigungen sexueller Belästigung oder Gewalt nicht ad hoc über Twitter als Sensationsmeldung hinauszuschreien, sondern sich geordnet und eventuell mit anwaltlicher Hilfe oder der Hilfe genannter Einrichtungen des Sachverhalts anzunehmen. Zuallererst ist es allerdings immer ratsam, eine empfundene Überschreitung der persönlichen Grenze direkt und unvoreingenommen anzusprechen. Den meisten Frauen fällt das schwer und dann erheben sie erst nach Jahren Anschuldigungen. Auch hinsichtlich dessen ließe sich ein Änderungsansatz finden, den MeToo so aber nicht bedient. Alleine die Anschuldigung kann Leben zerstören. Man entlässt den Beschuldigten doch lieber gleich vorsichtshalber unter einem Vorwand, bevor ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, nicht wahr? Das fände ich doch sehr ungerecht.
Schließlich möchte ich Dich gerne auf eine Tatsache aufmerksam machen, die man oft übersieht: Das Maß, in dem die Geschlechter von verschiedenen Leiden, Straftaten, Verbrechen oder allgemein Ungerechtigkeiten betroffen sind, ist nicht symmetrisch. Dies bedeutet, dass Frauen mehr von diesem, Männer mehr von jenem betroffen sind. Wie Du richtig erwähntest, sind unter den Opfern sexueller Gewalt mehr Frauen als Männer. Demgegenüber sind Männer von anderen Gewaltdelikten (meist durch Männer verübt) mehr betroffen. Die Selbstmordrate bei Männern ist fast doppelt so hoch wie bei Frauen. Auch bei der Obdachlosigkeit und beim Misserfolg in der Bildung liegen Männer vorne, während Frauen eher unter häuslicher Gewalt leiden. Die Gehirne sind unterschiedlich, so auch der Körper, die Interessen, und im Allgemeinen auch die Probleme, mit denen Männer und Frauen jeweils zu kämpfen haben.
Der derzeitige Diskurs rund um die Themen Geschlecht, Geschlechterrollen und Identität hat in den letzten Jahren meines Erachtens Maß und Ziel verloren. Er nährt sich von Sensationshascherei und verliert die Lebenswirklichkeit des Menschen aus den Augen. Die MeToo-Bewegung fügt sich hier symptomatisch ein, daher nahm es mich auch nicht wunder, dass sie rasch einen unguten Beigeschmack annahm. Man hätte so viel verdammt Gutes daraus machen können. Wie der Großteil der Männer bin ich ausdrücklich gegen tatsächliche Gewalt an Frauen, aber dafür muss ich mich nicht der Art, wie MeToo agiert, anschließen.