Die Legende von der positiven Ausstrahlung
10.01.2018 um 18:27
Ich sehe "Führen" im Beziehungsalltag nochmal anders, relativ weit weg von Macht oder klar verteilten Rollen.
Manipulation zeigt sich schon in ganz banalen, kleinen Situationen, und im Grunde genommen versuchen wir das alle ständig ein wenig: jemanden von etwas zu überzeugen oder abzubringen, oder durch das Gesagte oder ein bestimmtes Verhalten, vielleicht auch Verweigern eine bestimmte Handlung des anderen zu provozieren. Manch einer mosert rum, wenn er oder sie eigentlich nur mal in den Arm genommen werden will, oder fängt hysterisch an zu heulen, weil er oder sie sich nicht entscheiden kann, vernachlässigt fühlt usw.
Die Kunst des "Führens" liegt dann manchmal einfach nur darin, die Bedürfnisse des Anderen rechtzeitig zu (er)kennen und zu unterstützen, quasi ein wenig Gedankenleserei aus Erfahrung zu betreiben, um eine Situation wieder einzufangen, bevor sie überhaupt aus dem Ruder läuft - was sie ohne einen "führenden" Eingriff erfahrungsgemäß tun würde. Mit Ehrlichkeit und dem knallharten Vertreten des eigenen Standpunkts hat das unter Umständen nicht viel zu tun, mit Dominanz erst recht nicht.
Nehmen wir mal an, ich hätte eine chronisch entscheidungsunfreudige Freundin, die aber wahnsinnig gern mal wieder ins Kino gehen würde.
Sie: "Geh'n wir mal ins Kino?"
Ich: "Hmm. Weiß nich. Wann'n?"
Sie: "Donnerstag oder Samtag passt mir gut, weil, *längeres Blabla*, aber Dienstag ist ja Kinotag und billiger, und Donnerstag fangen ja die neuen Filme an, dann isses immer so voll, und Samstag wollte ich ja eigentlich schon *längeres Blabla*."
Ich: "Hmm. Mir egal, passt immer außer Mittwoch. Welcher Film denn?"
Sie: "Ich weiß nicht. Es kommt ja gerade *längeres Blabla", aber auch (...) und (...), und der Gosling kann ja so toll tanzen im neuen (...). Ich schau mal schnell, was sonst noch so läuft. (Kurze Pause) Ach, Petra meldet sich gerade, die könnte am Mittwoch mitkommen, mit ihrem neuen Freund." (Kein Wort mehr von einem bestimmten Film)
Ich: "Mittwoch bin ich bis nachts in (...), das klappt nicht. Den Gosling mag ich eigentlich, aber in einen Tanzfilm passt der doch garnicht? Film (...) soll langweilig sein, sagt Axel, und auf den können wir uns da eigentlich verlassen. (...) könnte mir gefallen, (...) auch, und (...) würde ich in dieser Rolle echt gern sehen. Außerdem kommt ja noch (...), den hattest Du noch garnicht, könnte auch was sein. Oder wir hängen uns hier bei Dir vor die Glotze und schauen endlich mal (...), den Du ja extra gekauft hattest."
Ihr könnt euch lebhaft ausmalen, dass nach einigem Hin und Her der Abend zu Ende ist, kein Kinobesuch geplant und auch in der nächsten Woche kein Film geschaut wird. Die Freundin ist frustriert, der Haussegen hängt schief, ich verschwinde ein paar Abende lang in der Werkstatt und denke garnicht mehr an die Sache, und irgendwann kommt dann der Vorwurf: "NIE gehst DU mit mir ins KINO!!!"
Das Ganze könnte natürlich auch so aussehen, dass ich gut einschätzen kann, welche Filme uns beiden gefallen oder für mich zumindest erträglich sind und so nebenbei ein Auge darauf habe, was gerade läuft.
Sie: "Geh'n wir mal wieder ins Kino?"
Ich: "Ja klar, lass mal kurz schauen... Ah. Der Gosling beim Tanzen war ja nicht so meins, aber in Blade Runner könnte der passen; den magste doch auch! Und Harrison Ford, und 'ne coole Story. Samstag haste ja schon verplant, aber wie wär's denn Donnerstag zur Premiere? Ich reservier gleich mal zwei Karten."
Oder nehmen wir eine gute Freundin von mir und beschreiben sie mal als intelligent, relativ selbstbestimmt und manchmal in ihren Ansichten etwas störrisch. Sie neigt in einigen Situationen und bei manchen Themen zu bösartigen Diskussionen, die in regelrechte Dramen ausarten können, inklusive schlimmster Vorwürfe und Heulerei. Das trifft regelmäßig nicht nur ihren Mann, sondern auch gute Freunde wie mich.
Ich argumentiere, belege und beweise, oder diskutiere die Situation bestmöglich durch, nehme auch mal andere Sichtweisen ein und bekomme die volle Ladung ab (je richtiger meine Sichtweise, desto schlimmer). Bei der Sache selbst kommt natürlich nichts raus, das Ganze führt zu nichts außer schlechter Laune bei uns beiden.
Ihr Mann, eigentlich ein ziemlicher Idiot und vorrangig auf Status und Äußerlichkeiten bedacht, sieht den Koller rechtzeitig kommen, nimmt sie in den Arm und knutscht sie heftig ab. Ihre Augen leuchten, sie schmilzt dahin, das ganze Drama ist vergessen. Hach. Da hat er doch durchaus gut geführt - aus der Sicht von BEIDEN.