@jero4802 Ich bin mir zunächst mal gar nicht so sicher, dass die Zahl der Depressionen und der gescheiterten Beziehungen zunimmt. Doors hat ja zum Beispiel auf Seite 24 schon mal ausgiebig über die Diagnose-Moden gesprochen, wobei ich auch da nicht mit so ein negatives Bild vom "Markt" habe. Ich unterstelle schon, dass auch die Ärzte nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten.
Bei Ehen bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass die früher auch bloß unglücklich endeten.
Aber mal die Annahme vertreten, dass zumindest Depressionen und BurnOuts tatsächlich zunehmen. Ich sehe das bereits ganz stark in der Generation 50+ vertreten. Wenn es also an einem Werteverfall, oder wie ich finde besser gesagt an einem Wertewandel, liegen söllte, dann müsste dieser sich ja schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts vollzogen haben und sie damit aufgewachsen sein. Es kann also eigentlich nicht an Smartphones und Facebook bzw. den Medien allgemein liegen. Auf's Gebiet der ehemaligen DDR bezogen kann es auch nicht am viel gescholtenen Kapitalismus (den wir ja gar nicht haben, sondern eine soziale Marktwirtschaft, worüber wir in Deutschland auch glücklich sein können) und dem modernen Konsumverhalten liegen, denn auch das hat diese Generation nicht geprägt.
Für die in den 50er Jahren geborene Generation mag die 68er Bewegung ein prägendes Element der Kindheit und Jugend gewesen sein. Der ursächliche Wertewandel könnte also sein:
- Pazifismus
- Anti-Autorität
- Gleichberechtigung von Minderheiten
- sexuelle Freizügigkeit
Die Frage ist nun: Unter der Prämisse, dass dort die Ursache liegt, wollen wir die alten Werte zurück, oder wollen wir nach einem Weg suchen, mit den neuen Werten vereinbar glücklich zu leben?
- Es will sicherlich niemand Kriege. Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus die Ansicht, dass Kriege reinigend wirken. Dass sie der Rückbesinnung auf das Wesentliche dienen (darauf will ich später noch mal zu sprechen kommen), dass sie ein Volk einen können, sowohl das angreifende als auch das angegriffene, dass sie den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt fördern.
- Wollen wir eine Gesellschaft, die sich nach Autoritäten ausrichtet? Dafür möchte ich zu bedenken geben, dass auch die Medien die so gern kritisiert werden (wieder: Ich persönlich bin nicht der Meinung, dass wir von den Medien manipuliert werden, sondern dass die Medien uns das liefern, was wir fordern.) als Autorität angesehen werden können. Wollen wir akzeptieren, was uns gesagt wird und unser Leben danach richten? Oder wollen wir uns und die Welt selbst beständig hinterfragen? Auch darauf komme ich im letzten Abschnitt noch mal zu sprechen.
- Wollen wir Gleichberechtigung von Minderheiten? Gleichberechtigung von Minderheiten heißt, immer zuerst für die anderen eintreten. Nicht das fordern, was für einen selbst das beste ist, sondern den kleinsten gemeinsamen Nenner für Ausnahms los alle finden. In einer uniformen Gesellschaft gibt es quasi keine Versagensängste. Die Rollen sind festgelegt, jeder kennt seine Rolle und es wird getan was nötig ist, ihn einzugliedern und zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft zu machen. Wenn der Gerbersohn aus Prinzip auch Gerber wird, wenn es gar nicht zur Debatte steht, ob die Gerbereiabfälle den Fluss verschmutzen weil es ja die letzten paar hundert Jahre auch gut funktioniert hat, genau so wie das Wirtschaftssystem im Dorf funktioniert hat, wenn der einzige Ausländer den das Dorf zu sehen bekommt ein exotischer Händler ist, der es nach wenigen Tagen wieder verlässt, dann ist das Leben aus psychologischer Sicht sehr einfach. Arbeite hart, stell keine dummen Fragen, stell keine dummen Theorien über Umweltschutz und Geldsysteme auf, verhalte dich konform, geh sonntags in die Kirche, dann geht's dir... gut! Sagen wir! Nun haben wir aber diese Minderheiten, die inzwischen gar nicht mehr so klein sind (Umweltschützer, Aussteiger, Ausländer etc.), also müssen wir damit iwie umgehen. Also selbst wenn wir wollen, können wir überhaupt zu dem alten System zurück?
- Sexuelle Freizügigkeit ist meiner Meinung nach sehr wünschenswert. Das Extrembeispiel sind Homosexuelle die von der Gesellschaft in den Selbstmord getrieben wurden, weil ihr Anderssein nicht anerkannt wurde. Ist es denn wirklich ein so großer Unterschied, ob man mit der traditionellen Mann-Frau-Vorstellung nicht glücklich wird oder mit der traditionellen "das Erste Mal in der Hochzeitsnacht und dann bis dass der Tod euch scheidet"-Vorstellung? Dass Pornobildchen auf dem Schulhof getauscht werden, ist seit wenigstens 40 Jahren Mode. War es davor besser, mit einer weniger öffentlich sexualisierten Gesellschaft? Waren die Menschen damals wirklich glücklicher in ihren Beziehungen? Ich weiß es nicht, das liegt zu weit zurück.
Nun zur Rückbesinnung auf das Wesentliche und das Hinterfragen einer selbst. Was ist denn das Wesentliche? Überleben. Das ist das aller unterste Grundbedürfnis. Tiere atmen, trinken, schlafen, essen und pflanzen sich fort. Tiere sind - nach allem was wir zu wissen glauben - auch nicht depressiv. Das heißt für mich, je mehr ich die Möglichkeit, die Zeit und den Willen dazu habe, über mich und meine Existenz nachzudenken, mich und die Welt, den Sinn meines Lebens im Speziellen und den Sinn der ganzen Welt im Allgemeinen in Frage zu stellen, je mehr ich die Möglichkeit habe selbst zu entscheiden, damit aber auch selbst Fehler zu machen, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit auf eine Depression oder sonstige psychische Krankheiten.
Langsamlebigkeit als Heilmittel, wie in der Metapher vom Fischer und dem Touristen, mag funktionieren. Aber wollen wir das? Bringt uns das als Spezies voran? Wir haben eine wundervolle neue Welt, mit wundervollen neuen Möglichkeiten. Wir müssen nicht mehr um's Überleben kämpfen und unser Empfinden auf das Mindeste reduzieren. Wir können uns den Luxus leisten, Ausnahms los alles zu hinterfragen. Lasst uns nach einer Möglichkeit suchen, all unseren Luxus, den mentalen und den materiellen, auszukosten ohne krank zu werden. Finde ich.
Das sind meine drei Erklärungsansätze:
1.) Wird sind gar nicht kranker, sondern werden nur öfter diagnostiziert.
oder
2.) Der ursächliche Wandel hat schon vor 50 Jahren stattgefunden, völlig unabhängig von modernen Medien und Marktwirtschaft.
oder
3.) Psychisch zu erkranken ist unseren neuen Möglichkeiten, uns ständig in Frage zu stellen, inhärent und unsere einzige Chance auf Heilung ist, einen Weg zu finden damit zu leben, dass wir den Apfel (witzig, dass es ausgerechnet ein Apple war) vom Baum der Erkenntnis gepflückt und gegessen haben.