Gedichte aus aller Welt
18.03.2021 um 23:16
Liege nachts wach.
Hab mich mit dem Schlaf verkracht.
Finde keine Ruh.
Der Grund dafür bist du.
Im Kopf fährt das Gedankenkarussell
mal wieder viel zu schnell.
Im Bauch flattern Schmetterlinge
und morgen hab ich Augenringe.
(Beatrix Esser-Schlierf *1971)
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Gedichte aus aller Welt
18.03.2021 um 23:20
Was für ein schönes Gedicht!
Schlummermelodie
Hängt ein Stern in der Nacht,
Irgendwo –
Irrt ein Herz durch die Nacht
Irgendwo –
Saust Wind im Wald,
Irgendwo –
Eulen-Schuhu hallt
Irgendwo –
Blüht ein Wunderbaum
Irgendwo –
In einem Traum
Irgendwo –
Hängt ein Stern in der Nacht,
Irgendwo –
Golden ist der Mond erwacht
Irgendwo –
Irgendwo –
Gerrit Engelke (1890 - 1918)
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Gedichte aus aller Welt
19.03.2021 um 21:43
Der Bücherfreund
Ob ich Biblio- was bin?
Phile? „Freund von Büchern“ meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!
Mir sind Bücher, was den anderen Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher — wie beliebt? Wieviel?
Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.
Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben —
Hei ! das gibt den Muskeln die Latur.
Oh, ich musste meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.
Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Dass sie wie ein Bild die Stube schmücken.
Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.
Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.
Wie ? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, sie unerhörter Ese—
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.
Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Lass dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hochverehren.
Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.
(Joachim Ringelnatz)
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Gedichte aus aller Welt
21.03.2021 um 08:21
Zwei
Sie lebten Fleisch an Fleisch
Rippe an Rippe
Auge in Auge
Sie aßen zusammen
Vom selben Ochsen
Vom selben Baum
Sie schauten das Meer
Sie stiegen auf Berge
Und wieder herab
Sie klagten im Sommer
Sie klagten im Winter
Sie klagten im Herbst
Im Frühling starb er
Da merkte sie erst
Sie liebte ihn nie
(Yvan Goll)
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Gedichte aus aller Welt
21.03.2021 um 08:26
:D
Die Liebe is en Feuerzeug,
Des Herz, des is der Zunder,
Un fällt een kleenes Fünksken rein,
So brennt der janze Plunder!
(Adolf Glassbrenner 1810-1876)
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Gedichte aus aller Welt
21.03.2021 um 20:32
Die Stadt
Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohne Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.
Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.
Theodor Storm (1817-1888)
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Gedichte aus aller Welt
22.03.2021 um 21:52
Arm Kräutchen
Ein Sauerampfer auf dem Damm
Stand zwischen Bahngeleisen,
Machte vor jedem D-Zug stramm,
Sah viele Menschen reisen.
Und stand verstaubt und schluckte Qualm
Schwindsüchtig und verloren,
Ein armes Kraut, ein schwacher Halm,
Mit Augen, Herz und Ohren.
Sah Züge schwinden, Züge nahn.
Der arme Sauerampfer
Sah Eisenbahn um Eisenbahn,
Sah niemals einen Dampfer.
(Joachim Ringelnatz)
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Gedichte aus aller Welt
25.03.2021 um 21:14
Am Abend
Weißt du denn – wenn auf Baum und Strauch
Das Astwerk zittert und sich sträubt,
Und wenn der leicht gewellte Rauch
An einer Wetterwand zerstäubt –
Ein scheuer Vogel ohne Laut
An dir vorbei die Flügel schlägt,
Und Wolke sich an Wolke baut –
Wohin dein wilder Wunsch dich trägt?
Weißt du denn, wenn nun alle Welt
Sich eng an Hof und Heimstatt schmiegt,
Und deine Sehnsucht dich befällt, –
Wo deine eigne Heimat liegt?
Hedwig Lachmann (1865 - 1918)
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Gedichte aus aller Welt
28.03.2021 um 23:57
GEORG TRAKL. Seine Gedichte faszinieren mich schon seit Jahrzehnten. Für mich einer der ganz Grossen in den weiten Welten der Lyrik, ein Begnadeter.
Delirium
Der schwarze Schnee, der von den Dächern rinnt;
Ein roter Finger taucht in deine Stirne
Ins kahle Zimmer sinken blaue Firne,
Die Liebender erstorbene Spiegel sind.
In schwere Stücke bricht das Haupt und sinnt
Den Schatten nach im Spiegel blauer Firne,
Dem kalten Lächeln einer toten Dirne.
In Nelkendüften weint der Abendwind.
Die Raben
Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.
O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören.
Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.
Aus Wikipedia:
Georg Trakl (* 3. Februar 1887 in Salzburg; † 3. November 1914 in Krakau, Galizien) war ein österreichischer Dichter des Expressionismus mit starken Einflüssen des Symbolismus. Eine eindeutige Zuordnung seiner poetischen Werke zu einer der annähernd gleichzeitigen Strömungen der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist aber nicht möglich.
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Gedichte aus aller Welt
01.04.2021 um 21:05
FRÜHLINGSGEDICHTE
EIN KLASSIKER
Er ist’s
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist‘s!
Dich hab ich vernommen!
(Eduard Mörike)
WENIGER KLASSISCH, DAFÜR AMÜSANTER:
Frühling
Die Bäume im Ofen lodern.
Die Vögel locken am Grill.
Die Sonnenschirme vermodern.
Im übrigen ist es still.
Es stecken die Spargel aus Dosen
Die zarten Köpfchen hervor.
Bunt ranken sich künstliche Rosen
In Faschingsgirlanden empor.
Ein Etwas, wie Glockenklingen,
Den Oberkellner bewegt,
Mir tausend Eier zu bringen,
Von Osterstören gelegt.
Ein süßer Duft von Havanna
Verweht in ringelnder Spur,
Ich fühle an meiner Susanna
Erwachende neue Natur.
Es lohnt sich manchmal, zu lieben,
Was kommt, nicht ist oder war.
Ein Frühlingsgedicht, geschrieben
Im kältesten Februar.
(Joachim Ringelnatz)
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Gedichte aus aller Welt
07.04.2021 um 10:41
So sieht es momentan bei uns aus:
Winter
So öde das Land,
es endet nimmer;
das Schneegeflimmer
schimmert wie Sand.
Der kupferne Himmel
gibt keinen Glanz,
der Mond tanzt am Himmel
den Totentanz.
Wie Wolkengespinste
schwanken im Grauen
die Eichen, es brauen
die Nebeldünste.
Der kupferne Himmel
gibt keinen Glanz,
der Mond tanzt am Himmel
den Totentanz.
Paul Verlaine (1844 - 1896)
(Uebersetzt von Fritz Koegel)
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Gedichte aus aller Welt
23.04.2021 um 22:07
Kaum zu glauben, dass dieses Gedicht im 19. Jahrhundert geschrieben wurde. Fernab vom oft allzu schwülstigen Stil
jener Zeit
Wer keinen Frühling hat
Wer keinen Frühling hat, dem blüht er nicht!
Wer schweigt, dem tönt kein Echo hier auf Erden!
Wess Herz nicht dichtet, der fasst kein Gedicht,
Und wer nicht liebt, dem wird nicht Liebe werden.
Was ist der Geist, der nie zum Geiste spricht,
Der selbstgefällig will in sich verwesen?
Was ist ein Gemüt, das nie die Rinde bricht?
Was eine Schrift, die nicht und nie zu lesen?
Es findet jeder Geist verwandte Geister!
Kein Herz, das einsam ohne Liebe bricht!
Nur wer sich selbst verlor, ist ein Verwaister!
Wer keinen Frühling hat, dem blüht er nicht!
(Otto Prechtler 1813 - 1881)
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Gedichte aus aller Welt
30.04.2021 um 23:38
Frühlingsahnung
Rosa Wölkchen überm Wald
wissen noch vom Abendrot dahinter
überwunden ist der Winter,
Frühling kommt nun bald.
Unterm Monde silberweiß,
zwischen Wipfeln schwarz und kraus
flügelt eine Fledermaus
ihren ersten Kreis.
Rosa Wölkchen überm Wald
wissen noch vom Abendrot dahinter
überwunden ist der Winter,
Frühling kommt nun bald.
(Christian Morgenstern)
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Gedichte aus aller Welt
03.05.2021 um 08:45
Jakob van Hoddis
Morgens
Ein starker Wind sprang empor.
Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore.
Schlägt an die Türme.
Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt.
Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge.
Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge.
Starker Wind über der bleichen Stadt.
Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom.
Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom.
Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehn.
Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn.
Glieder zur Liebe geschaffen.
Hin zur Maschine und mürrischem Mühn.
Sieh in das zärtliche Licht.
In der Bäume zärtliches Grün.
Horch! Die Spatzen schrein.
Und draußen auf wilderen Feldern
singen Lerchen.
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Gedichte aus aller Welt
04.05.2021 um 22:02
Die Sprecher
Wer immer von seiner
Freigiebigkeit spricht
ist ein Geizhals
Wer immer von seiner
Ehrlichkeit spricht
der betrügt
Wer immer von seiner
Gutmütigkeit spricht
der ist grausam
und wer immer von seiner
freiheitlich -
demokratischen Grundordnung spricht...
Erich Fried "Lebensschatten" Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1981. Quartheft 111. S. 30
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Gedichte aus aller Welt
04.05.2021 um 22:12
Ich bin gealtert vor Sehnsucht
Ich bin gealtert vor Sehnsucht nach
Feuchten Februaren und verspäteten Aprilen
Um dir ein Maiglöckchen zu schenken
Wie viele bleiche Nächte hab ich gewacht
Um den Mond zu befragen
Ob deiner Treue
Ich habe elektrische Sommer ertragen
Dein Telegramm erwartend
Und an den Abenden der Traurigkeit
Streichelte ich die Hände sterbender Lilien
Jede Jahreszeit ist gut für die Arbeit des Herzens:
Bauer des Himmels
Säe und ernte ich Sterne
Um uns zu ernähren meine Geliebte.
(Yvan Goll)
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