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7.275 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Bücher, Lesen, Literatur ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

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12.08.2024 um 12:23
Gottfried Keller - Romeo und Julia auf dem Dorfe

Keller-Romeo Julia

In den 1850er Jahren schrieb der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller diese seine vermutlich bekannteste Novelle über zwei Kinder verfeindeter Bauern, die sich in ihrer aussichtslosen Liebe das Leben nehmen. Aufgenommen wird diese Novelle in Kellers Novellenzyklus über die fiktive Schweizer Kleinstadt Seldwyla.

Angeregt wurde Keller durch folgende am 3. September 1847 in der Züricher Freitags-Zeitung erschienene Kurznachricht:
Sachsen. – Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.
Quelle: Zitiert nach Wikipedia

Abgesehen von der idyllisierten Darstellung des bäuerlichen Lebens und Arbeitens zu Beginn, dem ungelenk geschilderten Verhältnis der beiden Jugendlichen zueinander sowie dem nicht ganz durchargumentierten Entschluss der beiden, ins Wasser zu gehen, überzeugt die Novelle vor allem durch die Schilderung, wie die beiden Familien durch einen Rechtsstreit um ein Ackerstück in die Armut getrieben werden.

Zwischen den Äckern der Bauernfamilien Manz (Sohn Sali/Salomon) und Marti (Tochter Vrenchen/Vreni) gibt es ein Brachland, das eigentlich dem Sohn eines verstorbenen Musikers gehört, der aber ein heimatloses Leben als Geiger führt und seine Identität nicht durch Papiere nachweisen kann. Die beiden Bauern pflügen jedes Jahr ein Stück ins Brachland und bei einer Versteigerung durch die Gemeinde kauft Manz das Feld. Marti hat sich ein Stückchen Land dreiecksförmig "rausgepflügt" und weigert sich, dieses an Manz zu übergeben. Beide beginnen einen Rechtsstreit, der sie verarmen lässt. In Folge vernachlässigen sie ihre Höfe und werden zu Trinkern, und um schließlich überleben zu können, angeln sie ihre Nahrung aus dem Fluss gemeinsam mit anderen Verarmten aus Seldwyla. Manz muss den Bauernhof aufgeben und zieht in die Stadt, um ein heruntergekommenes Wirtshaus zu übernehmen.

Ein geheimes Treffen von Sali und Vrenchen wird von ihrem Vater entdeckt, er beginnt seine Tochter brutalst zu schlagen. Sali schreitet ein und schlägt den Bauern Marti mit einem Stein auf den Kopf. Nach sechs Wochen Koma wacht er als Idiot auf und wird in eine Anstalt gebracht, Vrenchen muss innerhalb von zwei Tagen den Hof verlassen, da auch ihre Mutter verstorben ist. Ihre Perspektive ist, sich als Dienstmagd durchzuschlagen. Beide schweigen über den Hergang der Tat und so entscheidet das Gericht, dass Marti im Suff gefallen und mit dem Kopf gegen einen Stein geprallt sein muss.

Die nun 17-jährige Vreni und der nicht ganz 20-jährige Sali, der von seinen Eltern davonläuft, gehen gemeinsam fort, um ein letztes Mal auf einem Kirchtag zu tanzen und eine gute Zeit zu haben. Das Angebot des Geigers (dem eigentlichen Eigentümer des Brachfelds), mit seinen Leuten in den Wald zu ziehen, lehnen sie ab. Da beide perspektivlos sind und doch die Tat von Sali die Beziehung der beiden belasten könnte, entscheiden beide in der Nacht nach dem Kirchtagfest, gemeinsam in den Tod zu gehen. Sie besteigen ein Boot im Fluss und stürzen sich an einer Tiefen Stelle in denselben.

Wie schon geschrieben, sind manche Stellen etwas ungelenk geschrieben, aber dass Keller den Shakespear'schen Konflikt in das Lebensumfeld einfacher Menschen und derer Konflikt wie Verarmung überzeugend geschrieben ist, hat diese kleine Novelle zurecht einen Platz in der Weltliteratur gefunden.

Der Geiger, wie er um das Feld gebracht wurde:
ich habe mich zwanzigmal gemeldet, aber ich habe keinen Taufschein und keinen Heimatschein, und meine Freunde, die Heimatlosen, die meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugnis, und so ist die Frist längst verlaufen, und ich bin um den blutigen Pfennig gekommen, mit dem ich hätte auswandern können! Ich habe eure Väter angefleht, dass sie mir bezeugen möchten, sie müssten mich nach ihrem Gewissen für den rechten Erben halten; aber sie haben mich von ihren Höfen gejagt, und nun sind sie selbst zum Teufel gegangen!
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13.08.2024 um 03:03
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13.08.2024 um 16:41
Robert Seethaler - Der Trafikant

Seethaler-Trafikant

Den Film habe ich vor ein paar Jahren gesehen und vergessen, außer dass er mich nicht sonderlich angesprochen hat. Jetzt hat mich interessiert, wie die Buchvorlage ist (normal ziehe ich eigentlich Buch vor Film vor). Sie erscheint mir genauso konstruiert wie der Film, der Roman aus 2012 ist nicht komplexer.

Der 17-jährige, nicht sonderlich kräftige und ziemlich naive (er kennt nicht mal Hitler) Franz Huchel zieht 1937 von seinem Dorf am österreichischen Attersee nach Wien, um bei einem Trafikanten eine Lehre zu beginnen, da seiner alleinerziehenden Mutter der reiche Liebhaber durch Tod (durch einen Blitz im See beim Schwimmen erschlagen) entronnen ist. Die im Anschluss entwickelte Geschichte ist wirr.

Franz beginnt eine Freundschaft mit Sigmund Freud, der in der Trafik Stammkunde ist. Sie sprechen viel über Liebe, aber das Niveau der Dialoge ist sehr belanglos. Nach Machtergreifung folgen wir Freud zum Wiener Westbahnhof, wo er nach Paris fährt, um ins Londoner Exil zu gehen. Die Charakterisierung von Freud ist grenzwertig. Nicht nur die Dialoge sind platt ("Ach, das Weib, dachte Freud mit stiller Verwunderung, was will es, und was soll es uns?" oder "An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns"), sondern sein ganzes Therapiekonzept wird indirekt der Lächerlichkeit preisgegeben: Es sei zum Beispiel egal, ob er hinter den Klienten sitzt oder nicht, ob sie stehen oder liegen. Auch wird ihm Geldgier unterstellt.
Der einzig wahre Grund, warum er sich während all der ungezählten Therapiesitzungen in den vergangenen Jahrzehnten hinter das Kopfende der Couch zurückgezogen hatte, war der, dass er es nicht ertragen konnte, eine Stunde lang von seinen Patienten angestarrt zu werden, beziehungsweise selbst in ihre hilfesuchenden, verärgerten, verzweifelten oder von irgendwelchen sonstigen Gefühlen verzerrten Gesichter blicken zu müssen.
Stets kam sie als aufrechte Dame von Welt, doch kaum hatte sie sich aus ihrer von einem weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Ubergrößenschneider maßgefertigten Lodenjacke helfen lassen und sich vor Anstrengung leise pfeifend auf die Couch hinabgesenkt, verwandelte sie sich in ein hilfloses und weinerliches Kleinkind, das noch dazu mit seinen Tränen und seiner Schminke die teuren Polsterüberzüge verschmierte. Seltsamerweise mochte Professor Freud sie trotzdem. Aus irgendeinem Grunde vermutete er unter ihrer nervtötenden Attitüde und der dicken Speckschicht einen virilen Geist und ein offenes Herz. Außerdem zahlte sie pünktlich und in Dollar.
Seiner Mutter schreibt er Ansichtskarten. Und wie diese Karten ist sowohl das geschilderte Wien des 9. und 1. Bezirks wie auch des Salzkammerguts meist Ansichtskartenklischee. Selbst der Vergewaltigungsversuch eines Gastwirts, bei dem seine Mutter arbeitet, wirkt wie ein Klischee: Sie schlitzt ihm die Hose auf, sodass er mit bloßgelegtem Gemächt dasteht.

Franz' Beziehung zu einer böhmischen Schwarzarbeiterin namens Anezka ist eine Mischung aus "Liebe des Lebens" und notgeiler Verrücktheit. Beim ersten Treffen im Wiener Prater läuft Franz mit einer Dauererektion rum. Als der alte, einbeinige Trafikant (Kriegsinvalide) nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten von der Gestapo verhaftet und im Hotel Metropol, dem Hauptquartier der Gestapo, gefangengesetzt wird (wegen Verkaufs pornografischer Schriften), verbringen Franz und Anezka eine Liebesnacht in seinem Kämmerlein hinter dem Verkaufsbereich. Im Anschluss wälzen sie sich nächtens nackt im frisch gefallenen Schnee (in der Währingerstraße, einer Hauptverbindungsstraße in den ersten Bezirk). Ziemlich kitschig. Anezka ist auch Stripperin in einem Kabarett im Prater, das vor der Nazi-Herrschaft in einer Nummer Hitler verlachte, und nach der Machtergreifung ist es ein Treffpunkt für die SS und Anezka wählt einen SSler als Liebhaber.

Da der alte Trafikant in Gestapohaft wohl ermordet worden ist, tauscht Franz in einer Nachtaktion eine der drei Hakenkreuzfahnen vor dem Hotel Metropol mit dessen einbeiniger Hose. Auch er wird abgeholt und verschwindet damit aus dem Roman.

Am Schluss wird in den März 1945 gesprungen, während eines alliierten Bombenangriffs steht Anezka vor der nun langsam verkommenen Trafik und liest den letzten Zettel, den Franz aufgehängt hat. Nach einer Anregung von Freud hat er am Morgen immer einen Traum aufgeschrieben und ihn als Tageslosung an die Tür gehängt (eine der gelungensten Ideen des Romans).

Eigentümlich ist auch, welche Unmengen an Bier und Wein (ein Doppelliter geht schon) Franz trinkt bzw. dass er in einem Lokal, in dem er mit Anezka sitzt, drei Portionen Gulasch verschlingt. Auch ist nicht klar, wie der Lehrling, der seine Zeit in der Trafik nur mit Zeitungslesen und Auswendiglernen von Zigarrenwerbung verbracht hat, die doppelte Buchführung erlernt hat, die er benötigt, als ihm die Trafik von den Behörden übergeben worden ist.

Viel gewollt, aber letztlich wenig Tiefe. Vielleicht mit Blick auf eine Verfilmung geschrieben? Keine Ahnung.


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15.08.2024 um 10:51
Hugo von Hofmannsthal - Der Schwierige

Hofmannsthal-Schwierige

Berühmt ist Hofmannsthal ja durch seinen Jedermann, der jedes Jahr im Sommer in Salzburg vor dem Dom aufgeführt wird. Der Schwierige aus 1921 ist für mich wirklich schwierig in dem Sinne, dass es einer der uninteressantesten Texte ist, die ich seit Langem gelesen habe.

Dieses Kammerspiel spielt nach dem Ersten Weltkrieg (oder in den letzten Kriegstagen?) im Wiener Kleinadel, der "Schwierige" ist Baron Hans Karl Kühn, ein 39-jähriger alleinstehender Mann, der im Krieg als Offizier gedient hat und Abgeordneter im Herrenhaus ist (dies macht die Datierung der Handlung unklar, da das Herrenhaus am 12. November 1918 bei der Republiksausrufung abgeschafft worden ist), wo er noch kein einziges Mal das Wort ergriffen hat.

Bühl ist der Kontakt zu Menschen unangenehm, Tratsch und Small Talk interessieren ihn nicht. Sein Schwester bittet ihn zu einer Abendveranstaltung der Familie Altenwyl zu gehen, um bei deren Tochter Helene für ihren Sohn eine Verlobung in die Wege zu leiten. Ihm ist das etwas peinlich, da auch das Ehepaar Hechingen anwesend sein wird. Mit der Frau hat er Liebesbriefe ausgetauscht gehabt, er liebt sie jedoch nicht, sondern schätzt sie nur als Freundin. Nach unglaublich viel belangloser Rederei auf dieser Soiree kommen Helene und Bühl ins Gespräch und sie gesteht ihm ihre Liebe (seit sie 15 Jahre ist, liebt sie ihn - wie alt sie zum Zeitpunkt der Handlung ist, bleibt unklar). Sie verloben sich.

Eingestreut sind ein paar Witze, so über einen neuen Diener, der sehr impertinent auftritt. Aber so richtig zündet dies alles nicht. Es ist eine oberflächliche Welt. Vielleicht gibt es sie noch, aber Hofmannsthal gelingt es nicht, sie in irgendeiner Weise packend zu kritisieren.

Ein einziges Mal brilliert vielleicht Hofmannsthal, als er Bühl, der seine erste Rede im Parlament halten soll, Folgendes sagen lässt:
Ich soll aufstehen und eine Rede hal-ten, über Völkerversöhnung und über das Zusammenleben der Nationen - ich, ein Mensch, der durchdrungen ist von einer Sache auf der Welt: daß es unmöglich ist, den Mund aufzumachen, ohne die heillosesten Konfusionen anzurichten! Aber lieber leg' ich doch die erbliche Mitgliedschaft nieder und verkriech' mich zeitlebens in eine Uhuhütten. Ich sollte einen Schwall von Worten in den Mund nehmen, von denen mir jedes einzelne geradezu indezent erscheint!



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17.08.2024 um 15:18
Graham Gardner - Im Schatten der Wächter

Gardner-Schatten
Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht.
Dieses Zitat aus Orwells 1984 ist das Leitmotiv des 2003 im Original erschienen Romans des britischen Sozialforschers und Autors Graham Gardner. Thema dieses Jugendbuchs ist Mobbing und Gewalt an Schulen, wobei der 15-jährige Elliot Sutton nach einem Schulwechsel vom Opfer zum Täter wird.

Bei einem Raubüberfall wird Elliots Vater zum Krüppel geschlagen und ist nur mehr fähig, stumpfsinnig vor dem Fernseher zu sitzen. Seine Mutter versucht die Familie durch zwei Arbeitsstellen (in einem Altersheim als Pflegerin sowie als Putzhilfe) über Wasser zu halten. Ein Wohnungswechsel zieht auch einen Schulwechsel nach sich.

In der alten Schule ist Eliott als "Verlierer" permanent von drei Typen verprügelt und gequält worden. In der neuen Schule hat er Angst, dass er wieder in diese Rolle gezwängt wird, er kann sich jedoch durch gute Schwimmleistungen bzw. ordentlichen Noten einen Respekt verschaffen, der sich verstärkt, als er ein gezieltes Verprügeln eines Ben beim Turnlehrer als Unfall darstellt, was dieser ihm abnimmt.

Die Mobbingsituation an der neuen Schule ist keine spontane, chaotische Gewalt, sondern eine von drei "Wächtern" organisierte. Opfer und Täter werden am Schwarzen Brett bekanntgegeben. Aufgrund des Respekts, den er erworben hat, wird er von den Wächtern als Nachfolger des Wächters aus der Abschlussklasse auserkoren und muss eine "Bestrafung" organisieren. Er wählt Opfer und Täter aus und lässt dies am Schwarzen Brett aushängen. Doch nach langen inneren Zweifeln klopft er am Morgen dieser Bestrafung an der Tür des Schuldirektors. Damit endet der Roman.

Abgesehen von der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter, gibt es zwei Kontakte. Einen zu Ben, dem Daueropfer im Umkleideraum für die Rugbyspiele, der einer reichen Familie entstammt, künstlerisch fotografiert und sich darauf freut, die Schule zu wechseln. Etwas blasser ist seine Beziehung zu Louise, die Interesse an ihm hat und ihm, einen Vielleser, Orwell näherbringt. Sein ungelenkes stürmisches Verhalten beim Abschied nach dem ersten Kinobesuch ist aber ähnlich holprig umgesetzt. So richtig werden einem beide nicht nähergebracht.

Insgesamt ist eine gute Idee gestaltet worden, sie bleibt aber an wichtigen Punkten oberflächlich gestaltet. Es gibt Wächter, weil es sie schon seit dem 19. Jahrundert an der Schule gibt, aber warum sich - Täter und Opfer - diesem nie Gewalt anwendenden faschistischen Rat unterordnen, wird eigentlich nicht klar. Nur einmal wird die Wahl der Opfer angesprochen:
Sie machten Jagd auf andere.
Auf den Jungen mit der wunden Nase.
Auf einen Schüler, der stotterte.
Auf einen anderen, dessen Frisur so aussah, als ließe er sich von seiner Mutter die Haare schneiden.
Auf zwei von Elliots Klassenkameraden, die in den Pausen immer zusammen waren.
Auf fette Kinder.
Auf kleine Kinder.
Die Selbstdefinition der Wächter als Institution der sozialen Stabilisierung wirkt aufgesetzt:
"Wir kümmern uns darum, dass die Leute ihren Platz im Leben nicht verlassen. Wenn sie vergessen, wo sie hingehören, erinnern wir sie daran, und wenn sie versuchen, sich von ihrem angestammten Platz zu entfernen ..."
Auch würden die Wächter von den "Massen" nur etwas hervorholen, was sie in sich tragen:
Sie gieren nach Blut. Wenn das erste Halbjahr vorbei ist, betteln sie förmlich darum.
"Beherrsche die Massen, Elliot. Das ist es, was du lernen musst. ... Die Gewalt, die Bestrafungen, die Opfer - all das war schon vor uns da. Egal, wie man es nennen will, es existierte bereits, bevor die Wächter auf der Bildfläche erschienen. Alles, was die Wächter tun, ist, sich dieses Etwas zunutze zu machen. Vergiss das nicht, Elliot. Wir haben die Macht, weil wir den Leuten zeigen, was sie sind. Wir zwingen niemanden.
Wir erschaffen nichts. Wir decken nur auf, was da ist."
2005 erhielt dieses Buch den Deutschen Jugendliteraturpreis.


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18.08.2024 um 15:19
Mehrnousch Zaeri-Esfahani - 33 Bogen und ein Teehaus

Zaeri Esfahani-Bogen

Mehrnousch Zaeri-Esfahani, die als Sozialpädagogin, Autorin und Flüchtlingsbetreuerin in Deutschland lebt, erzählt in diesem 2016 erschienen Roman ihre Geschichte bis ins Jahr 1986.

1974 geboren, wächst sie im Haus eines wohlhabenden Arztes in Isfahan auf. Aus der Sicht eines Kindes wird überzeugend geschildert, wie 1979 sehr viele Menschen durch die islamische Revolution eine Besserung der Lebensverhältnisse nach der Diktatur des Schahs erhofft haben, aber durch die Herrschaftspraxis Chomeinis, der zunächst als gütiger Nachfolger Mohammeds erträumt wurde, bitter enttäuscht wurden. Es wird die brutale Praxis der Wächtergarden, der Pasdaran, geschildert und wie Frauen entrechtet wurden. Dass über den BBC-Auslandsdienst Massenproteste gegen den Schah organisiert wurden, stimmt eigentümlich.1

Der Fluchtgrund ist gegeben, als das iranische Regime im Krieg gegen den Irak Zwölfjährigen eine freiwillige Teilnahme am Krieg ohne Einwilligung der Eltern ermöglicht. Über attraktive Ausbildungslager und religöse Gehirnwäsche (Märtyrertod) werden Familien, deren Söhne sich nicht melden, scheel angesehen (was zur Beobachtung durch die Wächtergarden führt). Die Familie will nicht, dass ihre Söhne beim Minenräumen als Schlachtvieh sterben. Im Februar 1984 verkaufen sie ihr Haus und treten offiziell eine Urlaubsreise in die Türkei an. Nur mit Koffern leben sie zunächst in Istanbul unter erbärmlichen Verhältnissen, bis sie ein 30-Stunden-Visum für die DDR erhalten. Laut Zaeri-Esfahani werden die Flüchtlinge von der DDR abgeschoben, um die BRD zu ärgern. Es schien ein bekannter Fluchtweg aus dem Iran gewesen zu sein.

Von Westberlin, wo die Familie einen Asylantrag stellt, werden sie in ein Übergangslager in Karlsruhe gesteckt. In diesem seien Gewalt, Drogen, Prostitution und rassistische Ausschreitungen an der Tagesordnung: Perser hassen Araber, weil sie Araber sind. Araber hassen Perser, weil sie Perser sind. Araber und Perser hassen Schwarzafrikaner, weil sie Schwarzafrikaner sind. So beschreibt es Zaeri-Esfahani:
Die Flüchtlinge in den Wohnheimen machten sich gegenseitig das Leben zur Hölle. Die Perser bezeichneten die Araber wie gewohnt als „Barbaren und Wilde". Die Araber nannten die Perser „arrogante Hunde", und alle beschimpften die Schwarzen als „schmutzige Ungläubige". Doch trotz des gemeinsamen Gegners, der Schwarzen, blieben sich Perser und Araber die ärgsten Feinde.
Der Familie wird schließlich im April 1986 eine Wohnung in Heidelberg zugewiesen und Mehrnousch besucht eine Gesamtschule, in der sie zunächst nur mit türkischsprachigen Mitschülerinnen kommunizieren kann, aber mit Hilfe einer engagierten Lehrerin Deutsch lernt und alphabetisiert wird (lateinische Buchstaben).

Jedes Kapitel wird mit einer Art Lexikoneintrag über Flüsse oder Meeresströmungen, welche die jeweilige Stadt durchfließen, eingeleitet (Fluss als Symbol der Überregionalität und des unsteten Lebens?): Zayandeh Rud, Bosporus, Spree, Havel, Rhein, Neckar. Gerahmt wird der Text vom Fluss Pripjat. Dieser kurze autofiktionale Roman endet mit der Katastrophe von Tschernobyl.

---
1 Die Rolle des persischsprachigen BBC-Programms während der iranischen Revolution von 1979 ist bis heute nicht eindeutig erforscht. Der Schah nannte es "Ayatollah BBC" und versuchte über den iranischen Botschafter in Großbritannien, diesen Sender einstellen zu lassen. Das Berliner Iran Journal kommt im Jahr 2020 immer noch zu keinem eindeutigen, belegbaren Schluss.


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18.08.2024 um 23:36
You Are Mine
von Diana Wilkinson

180172381Original anzeigen (0,5 MB)
A twisty unputdownable thriller from Diana Wilkinson, author of the Number One bestseller The Girl in Seat 2A Jealousy can be a killer…

Ten years after her boyfriend Mitch’s mysterious disappearance, Rebecca finally learns the truth about what happened.

When he finally returns, a happy ending appears within their grasp but there is no escape from the past. And Arthur, Rebecca’s friend who has formed an unhealthy obsession with her, has no intention of letting her go.

When Arthur realises that Mitch is the only person standing in the way of his happiness, his thoughts turn to murder…

When love and obsession collide, the results are deadly.
Quelle: https://www.goodreads.com/book/show/180172381-you-are-mine

Ein äußerst seltsames Buch mit lauter seltsamen und unsympathischen Charakteren.

Jeder Charakter liebt einen anderen bis hin zur Obsession, verhält sich total bescheuert und als ein Charakter von einem anderen ermordet wird, hauen sich allen gegenseitig in die Pfanne, weil jeder mit irgendeinem anderen noch eine Rechnung offen hat.

Sehr verwirrend und irritierend. Damit werde ich nicht warm.


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19.08.2024 um 13:42
Arthur Schnitzler - Anatol

Schnitzler-Anatol

Das aus dem Jahr 1892 stammende Theaterstück Anatol war das erste des damals noch als Arzt in Wien tätigen Arthur Schnitzler. Schon in diesem aus Einzelepisoden bestehenden Stück mit der Zentralfigur Anatol sind Schnitzlers Thematiken gezeichnet: Der aus gutem Haus stammende reiche junge Mann aus der Wiener Innenstadt und seine Sexualbeziehungen zu jungen, aus ärmlichem Umfeld stammenden Frauen aus den Wiener Vorstädten, die damals noch nicht oder soeben eingemeindet wurden (das namentlich erwähnte Hernals wurde 1892 eingemeindet und ist heute der 17. Bezirk): das "süße Mädel", das so definiert wird:
sie hat die weiche Anmut eines Frühlingsabends ... und die Grazie einer verzauberten Prinzessin ... und den Geist eines Mädchens, das zu lieben weiß!
Die kleinen, ärmlichen Vorstadtzimmer dieser jungen Liebschaften wird auf diese Weise idyllisiert:
ein kleines dämmeriges Zimmer - so klein - mit gemalten Wänden - und noch dazu etwas zu licht - ein paar alte, schlechte Kupferstiche mit verblaßten Aufschriften hängen da und dort. - Eine Hängelampe mit einem Schirm. - Vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkel versinkenden Dächer und Rauchfänge! ... Und - wenn der Frühling kommt, da wird der Garten gegenüber blühn und duften ...
Auch wird der Grund, warum Anatol dort seine Affären sucht, von ihm benannt:
d o r t bin ich auch zuweilen glücklich!
Und in einer Episode, in der er beim Weihnachtseinkauf in der Mariahilfer Straße eine bekannte verheiratete Frau aus guter Gesellschaft trifft und ihr sein Problem, für ein Mädchen aus der Vorstadt ein Geschenk zu finden, erzählt, wünscht diese am Ende, nachdem sie sich zunächst verächtlich über die ärmliche Schicht der Vorstadt geäußert hat, dass Anatol ihr einen Blumenstrauß mit folgenden Worten von ihr überreichen soll:
Diese Blumen, mein ... süßes Mädl, schickt dir eine Frau, die vielleicht ebenso lieben kann wie du und die den Mut dazu nicht hatte
Diese Beziehungen sind jedoch nicht dauerhaft. Ehen werden ausschließlich standesgemäß geschlossen (die Mädchen heiraten in der Vorstadt, deren reichen Liebhaber in der Oberschicht). Dennoch sammelt Anatol die kleinen Erinnerungsstücke, Aufmerksamkeiten und Geschenke und übergibt sie in einer Szene seinem Alter Ego und Freund Max mit diesen Worten:
Keine von allen, die ich liebte, kann ich vergessen. Wenn ich so in diesen Blättern, Blumen, Locken wühle - du mußt mir gestatten, manchmal zu dir zu kommen, nur um zu wühlen - dann bin ich wieder bei ihnen, dann leben sie wieder, und ich bete sie aufs neue an.
Aber wehe, wenn er - wie bei einer Emilie, bei der er ungeniert in den Schubladen stöbert - etwas findet, das auf einen anderen Liebhaber deutet, dann wird Anatols Eifersucht viehisch und er beschimpft sie beim Weggehen als "Dirne", da er einen Rubin und einen schwarzen Diamanten (vermutlich eine Lüge ihrerseits, er soll eine Viertelmillion Gulden, heute über 4 Mio Euro, wert sein) findet.

In der letzten Episode bereitet sich Anatol vormittags auf seine Hochzeit mit einer Unbekannten vor, die am Nachmittag vollzogen wird, nicht ohne sich von seiner bei ihm übernachtet habenden Geliebten zu verabschieden, wobei es ihm sehr schwer fällt, ihr die Wahrheit zu sagen. Sein Freund Max muss sie beruhigen. Damit endet das Stück.

Der Grundstein für Schnitzlers Stücke Liebelei und Reigen ist gelegt, aber Anatol ist mehr als ein "Vorläufer", es ist ein frühes Meisterwerk.


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19.08.2024 um 18:29
@Narrenschiffer
Ist das ein Schiele auf dem Cover?


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19.08.2024 um 18:37
Zitat von violetlunavioletluna schrieb:Ist das ein Schiele auf dem Cover?
Yepp. Das Portrait eines gewissen Erich Lederer.

Ansicht auf Blindbild - Fabian Fröhlich

Die Lederer waren eine Leipziger Mäzenatenfamilie. Mehr auf leipaer-heimat.net


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19.08.2024 um 19:44
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Yepp. Das Portrait eines gewissen Erich Lederer.
Danke! 🙂


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22.08.2024 um 14:19
Hermann Hesse - Der Steppenwolf

Hesse-Steppenwolf

Jetzt habe ich mich endlich durch diesen berühmtesten Roman von Hesse durchgequält. Als Schüler (oder junger Student?) habe ich die Lektüre schon mal entnervt im ersten Drittel abgebrochen, weil diese unglaubliche Arroganz eines abgetakelten 50-jährigen Trinkers einfach nur abstoßend war. Nach Komplettlektüre hat sich nicht sonderlich viel geändert.

Die Einleitung erzählt der Sohn der Vermieterin einer kleinen Dachkammer, in der Harry Haller einige Monate lebt, den Tag auf der Couch schlafend, lesend, trinkend verbringt, aber sonst recht still und nicht unsympathisch sei. Nach seinem Auszug hinterlässt Haller ein Manuskript über seine Monate in dieser nicht genannten Stadt (wohl irgendwo in der Schweiz, da in Franken bezahlt wird), das den Hauptteil bildet.

Haller ist geschieden, seine verrückt gewordene Frau habe ihn rausgeschmissen, hat Kontakt zur Wissenschaftswelt gehabt, hat jedoch den Glauben an diese verloren und lebt jetzt zurückgezogen, von Ort zu Ort ziehend, von seinen Ersparnissen und den Zinsen seiner Wertpapiere. Manchmal trifft er sich mit einer Geliebten (Erika). Im Kopf ist für ihn die Welt der hohen Kunst (Bach, Mozart, Goethe) das Ideal, die moderne Welt (der Roman erscheint 1927) stößt ihn ab.

Für den Vermietersohn lebt Haller in einer Zwischenwelt (damit gibt Hesse wohl die Interpretation vor). Die alte noble ist am Absterben, die neue im Entstehen:
Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte.
Gleich zu Beginn des Hauptteils konstatiert Haller, dass er "inmitten der zerstörten und von Aktiengesellschaften ausgesogenen Erde" lebe und man froh sein könne, wenn "heute wieder kein Krieg ausgebrochen, keine neue Diktatur errichtet, keine besonders krasse Schweinerei in Politik und Wirtschaft aufgedeckt worden ist". Schizophren wird es, wenn Haller, der die kleinbürgerliche Sauberkeit liebt, sich dort einmietet und sie genießt, den Normalmenschen abkanzelt:
Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit, Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen, Durchschnittlichen.
Haller ist sich dieser Schizophrenie bewusst:
Ich weiß nicht, wie das zugeht, aber ich, der heimatlose Steppenwolf und einsame Hasser der kleinbürgerlichen Welt, ich wohne immerzu in richtigen Bürgerhäusern, das ist eine alte Sentimentalität von mir. Ich wohne weder in Palästen noch in Proletarierhäusern, sondern ausgerechnet stets in diesen hochanständigen, hochlangweiligen, tadellos gehaltenen Kleinbürgernestern, wo es nach etwas Terpentin und etwas Seife riecht und wo man erschrickt, wenn man einmal die Haustür laut ins Schloß hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen hereinkommt. Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat führt mich, hoffnungslos, immer wieder diese alten dummen Wege.
Und über das moderne Leben und die moderne Kultur äußert Haller:
Ich kann weder in einem Theater noch in einem Kino lange aushalten, kann kaum eine Zeitung lesen, selten ein modernes Buch, ich kann nicht verstehen, welche Lust und Freude es ist, die die Menschen in den überfüllten Eisenbahnen und Hotels, in den überfüllten Cafés bei schwüler aufdringlicher Musik, in den Bars und Varietés der eleganten Luxusstädte suchen, in den Weltausstellungen, auf den Korsos, in den Vorträgen für Bildungsdurstige, auf den großen Sportplätzen ... Jazz[musik] war mir zuwider, aber sie war mir zehnmal lieber als alle akademische Musik von heute ... Sie hatte etwas vom Neger und etwas vom Amerikaner, der uns Europäern in all seiner Stärke so knabenhaft frisch und kindlich erscheint.
Das dürfte die Stelle gewesen sein, an der ich die erste Lektüre wütend abgebrochen habe.

Im Anschluss wird der Roman unklar, ob Haller Realität, Traum oder Fikives schreibt oder alles mischt. Er kommt bei einem "Magischen Theater" vorbei, das nur "für Verrückte" sei und eine "anarchistische Abendunterhaltung" biete. Ein Mann, der für dieses Varieté wirbt, gibt ihm das Tractat vom Steppenwolf in die Hand, das namentlich von ihm selbst handelt und beschreibt, dass der Mensch nicht nur aus zwei Seelen (Wolf und Mensch) bestehe, sondern aus tausenden. Darin wird Haller folgendermaßen charakterisiert: Er sei ein zerrissener Mensch, der nie zufrieden sein könne. Und weiter:
Denn alle, die ihn lieb gewannen, sahen immer nur die eine Seite in ihm. Manche liebten ihn als einen feinen, klugen und eigenartigen Menschen und waren dann entsetzt und enttäuscht, wenn sie plötzlich den Wolf in ihm entdecken mußten. Und das mußten sie, denn Harry wollte, wie jedes Wesen, als Ganzes geliebt werden und konnte darum gerade vor denen, an deren Liebe ihm viel gelegen war, den Wolf nicht verbergen und weglügen. Es gab aber auch solche, die gerade den Wolf in ihm liebten, gerade das Freie, Wilde, Unzähmbare, Gefährliche und Starke, und diesen wieder war es dann außerordentlich enttäuschend und jämmerlich, wenn plötzlich der wilde, böse Wolf auch noch ein Mensch war, auch noch Sehnsucht nach Güte und Zartheit in sich hatte, auch noch Mozart hören, Verse lesen und Menschheitsideale haben wollte.
Diese Zerrissenheit sei es, die ihn zwar das Bürgertum hassen lasse, er aber mit seinem Vermögen bei den Bürgern lebe und ihre Ordentlichkeit schätze. Er liebe Revolutionäre, hasse jedoch Diebe oder Lustmörder.
Harry findet in sich einen »Menschen«, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen »Wolf«, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur.
Es gäbe jedoch auch einen "wahren Menschen", so das Tractat, zu dem Harry finden müsse:
Den Weg zum wahren Menschen, den Weg zu den Unsterblichen kann Harry zwar recht wohl ahnen, geht ihn auch hie und da ein winziges, zögerndes Stückchen weit und bezahlt das mit schweren Leiden, mit schmerzlicher Vereinsamung. ... Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, ein Mensch, der eine Ahnung hat von den Himmeln und Abgründen des Menschentums, sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen.
Haller stößt nun (fast ein Klassiker für einen Mann in der Midlife Crisis) in die Welt der heiteren Unterhaltung und jungen Frauen vor. Er lernt eine Hermine (Kurtisanin, teils genderfluid) kennen und schätzen, sie führt ihn in die Welt der Unterhaltung und des Jazz ein und schanzt ihm mit einer schönen Maria eine junge Frau zu, mit der er viele Liebesnächte verbringt (er mietet extra für diese Liebesnächte noch ein weiteres Zimmer an). Düster prognostiziert Hermine, dass Haller sie töten werde, wenn sie das möchte. Einstweilen lehrt sie ihn, den Foxtrott zu tanzen. Eine weitere zentrale Figur lernt Haller kennen: den lateinamerikanischen Saxofonspieler Pablo, ein fescher junger Mann, den Hermine gut kennt.

Es ist dieser Pablo, der eine Vielzahl von Drogen kennt wie nutzt und das Magische Theater leitet, in das Haller mit Hermine und Pablo nach einem Maskenball geht. In diesem Theater finden sich viele Spiegel, in denen sich wohl die Seele spiegelt. Auch finden sich viele Türen mit plakativen Aufschriften. Haller tritt in einige Räume, und die Ereignisse sind verstörend. So tritt er in den Raum mit dem Plakakt "Hochjagd auf Automobile". Mit seinem ehemaligen Schulfreund und dem nunmehrigen Theologieprofessor Gustav erschießt er auf einer Bergstraße alle Insaßen von Fahrzeugen, die hochfahren. Eine radikale, antiindustrielle Aktion:
Wilde, prachtvoll aufreizende Plakate an allen Wänden forderten in Riesenbuchstaben, die wie Fackeln brannten, die Nation auf, endlich sich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die fetten, schöngekleideten, duftenden Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den andern preßten, samt ihren großen, hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen, endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne.
... es war Krieg, ein heftiger, rassiger und höchst sympathischer Krieg, worin es sich nicht um Kaiser, Republik, Landesgrenzen, um Fahnen und Farben und dergleichen mehr dekorative und theatralische Sachen handelte, um Lumpereien im Grunde, sondern wo ein jeder, dem die Luft zu eng wurde und dem das Leben nicht recht mehr mundete, seinem Verdruß schlagenden Ausdruck verlieh und die allgemeine Zerstörung der blechernen zivilisierten Welt anzubahnen strebte.
Und dieser Gustav äußert die Begründung des Handelns in den Worten eines wahnsinnigen Terroristen:
"Es ist aber in der Tat gleichgültig, wie die Leute heißen, die wir da umbringen. Sie sind arme Teufel wie wir, auf die Namen kommt es nicht an. Diese Welt muß kaputtgehen und wir mit."
Und zu einem Oberstaatsanwalt in seinem Auto sagt Gustav, bevor er ihn und seine Familie erschießt:
Nur töten wir nicht aus Pflicht, sondern zum Vergnügen, oder vielmehr: aus Mißvergnügen, aus Verzweiflung an der Welt.
Hinter weiteren Türen trifft er auf Goethe und Mozart, auch spielt er ein eigentümliches Schach. Bei sich trägt er ein Messer. Haller rekapituliert sein Leben ab dem Kennenlernen von Hermine:
Und doch war er seither einige hundert Jährchen älter geworden, hatte Musik und Philosophie getrieben und sattgekriegt, hatte im »Stahlhelm« Elsässer gesoffen und mit biederen Gelehrten über Krishna disputiert, hatte Erika und Maria geliebt, war Herminens Freund geworden, hatte Automobile abgeschossen und mit der glatten Chinesin geschlafen, hatte Goethe und Mozart angetroffen und verschiedene Löcher in das Netz der Zeit und der Scheinwirklichkeit gerissen, in dem er noch gefangen war. Hatte er auch seine hübschen Schachfiguren wieder verloren, so hatte er doch ein braves Messer in der Tasche. Vorwärts, alter Harry, alter müder Kerl!
So schreitet er die Türen des Magischen Theaters ab und trifft schließlich auf das nackt auf dem Boden ruhende Paar Pablo und Hermine. Auf ihrer linken Brust ein Liebesmal. In dieses rammt Haller sein Messer und tötet Hermine.
So war mein ganzes Leben gewesen, so war mein bißchen Glück und Liebe gewesen wie dieser starre Mund: ein wenig Rot, auf ein Totengesicht gemalt.
Der Besuch im Magischen Theater endet mit einem Gerichtsurteil, das Haller zum Leben verurteilt. Er solle lernen zu lachen und nicht Frauen aus Eifersucht erstechen.
Sie sollen lachen lernen, das wird von Ihnen verlangt. Sie sollen den Humor des Lebens, den Galgenhumor dieses Lebens erfassen.
»Wir könnten zum Beispiel das Mädchen wieder lebendig machen und Sie mit ihr verheiraten.«
»Nein, dazu wäre ich nicht bereit. Es gäbe ein Unglück.«
Was ist Realität? Was ist Spiel? Wird Gewalt propagiert? Wird Gewalt angeprangert? Wird Terrorismus als ökologischer Kampf gutgeheißen? Sind junge Frauen nur Beiwerk zu einer Katharsis älterer Männer? Über sehr weite Strecken ist mir dieser Harry Haller einfach nur auf die Nerven gegangen. Er bleibt letztlich nur ein sexbesessener alter Trinker mit hochkulturellem Dünkel, der in der Welt der Drogen auch nur sein Ich auf Kosten aller anderer sucht. Und wenn er so weiterlebt, wird er vermutlich sehr bald die "Ewigkeit" finden. Dabei hätte er auch ein politischer Mensch sein können, das Geld zum freien Handeln scheint er ja zu haben. Denn:

An manchen Stellen bricht Hesses messerscharfe Analyse der Gegenwart durch. So zum Beispiel als Haller einen ehemaligen Kollegen (Professor für altasiatische und indische Mythologien) besucht und dieser einen gewissen Haller abkanzelt, der pazifistische Artikel veröffentlicht habe. Haller müsse "ein übler Kerl und vaterlandsloser Geselle" sein. In diesem Haus sieht er, dass der Professor nur mehr militaristische und rechtsradikale Schriften lese. Haller:
er sieht nichts davon, wie rings um ihn der nächste Krieg vorbereitet wird, er hält Juden und Kommunisten für hassenswert
Dies sind die Grundsteine der nationalsozialistischen Ideologie, die sechs Jahre nach Erscheinen die Macht erringen und zwölf Jahre danach einen Weltkrieg anzetteln wird. Hesse hat (leider) recht behalten.

Und zu Hermine sagt er einmal mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg:
... jedes Volk und sogar jeder einzelne Mensch müsse, statt sich mit verlogenen politischen ›Schuldfragen‹ in Schlummer zu wiegen, bei sich selber nachforschen, wieweit wir selbst durch Fehler, Versäumnisse und üble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem andern Weltelend schuldig sei, das sei der einzige Weg, um den nächsten Krieg vielleicht zu vermeiden.
Das verzeihen sie mir nicht, denn natürlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generäle, die Großindustriellen, die Politiker, die Zeitungen - niemand hat sich das geringste vorzuwerfen, niemand hat irgendeine Schuld! Man könnte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagener Menschen in der Erde.
Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Töne, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und böse gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der nächste, kommende Krieg, der wohl noch scheußlicher sein wird, als dieser es war. ... keiner will den nächsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die nächste Millionenschlächterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wieweit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teilhat und mitschuldig ist - sieh, das will niemand! ... es gibt für mich kein »Vaterland« und keine Ideale mehr, das ist alles ja bloß Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten.



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22.08.2024 um 22:32
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Das dürfte die Stelle gewesen sein, an der ich die erste Lektüre wütend abgebrochen habe.
Warum? Was hat dich daran wütend gemacht?

Ich finde es nämlich gerade ziemlich interessant, dass ich all die Dinge, die Haller nicht aushalten kann, ebenfalls nicht aushalte. Nicht, weil ich das als minderwertig betrachte, sondern wegen der Reizüberflutung. Für mich liest sich das so, als würde sich Haller in seinem Zimmer zurückziehen und den ganzen Tag lesen und trinken, weil ihm die Welt zu laut und zu hektisch ist. 🤷‍♀️
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Er liebe Revolutionäre, hasse jedoch Diebe oder Lustmörder.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Düster prognostiziert Hermine, dass Haller sie töten werde, wenn sie das möchte. Einstweilen lehrt sie ihn, den Foxtrott zu tanzen.
Das ist irgendwie unfreiwillig lustig 🤣.

Gibt es jemanden, der Diebe und Lustmörder liebt?

OK, noch tötet Haller niemanden, also tanzt er halt inzwischen Foxtrott. 🤣 Irgendwie muss man seine Zeit ja herumkriegen.
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Sind junge Frauen nur Beiwerk zu einer Katharsis älterer Männer?
Sicher sind sie das, ganz oft sogar. Heute auch noch. 🤷‍♀️ Es gibt ja genug ältere Männer, die sich junge Frauen nehmen und das nicht ohne Grund. Diese Männer suchen ein Stück ihrer verlorenen Jugend, denn diese können sie nicht zurückhaben. Oft suchen sie auch die Bewunderung einer Frau, die zu ihnen aufsieht und eine Persönlichkeit, die sie nach ihren Wünschen formen können.

Es gibt halt Männer, die denken, dass sie das von einer jungen Frau alles bekommen können. Manchmal ist das wohl auch tatsächlich so.

Ich finde, dass sich nicht besonders viel geändert hat in 100 Jahren. Es gibt nach wie vor solche Männer wie Haller.


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22.08.2024 um 23:39
Zitat von violetlunavioletluna schrieb:Warum? Was hat dich daran wütend gemacht?
Die Arroganz Hallers und dass Hesse einfach nicht zu einer konzisen Charakterisierung gekommen ist, sondern dieser Typ einfach als überlegener Charakter geformt ist, obwohl er selbst total runtergekommen ist. Beim ersten Lesen vor Jahrzehnten hat mich die Brandmarkung des Jazz als "Negermusik" gestoppt, das wollte ich mir einfach nicht mehr weiter antun, und jetzt, als ich es zu Ende gelesen habe (ist ja ein ziemlich kurzer Text), habe ich mit dem Blutmassaker zur Reinigung der "Seele" hin zum Humor schlichtweg nichts anfangen können. Eine ironische Brechung sehe ich auch nicht, mit Haller ist einfach ein Charles Manson vorgezeichnet.


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gestern um 00:10
@Narrenschiffer
Nach dieser Logik müsstest Du Dorian Gray auch scheiße finden?!?


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gestern um 00:25
Zitat von SchubiackSchubiack schrieb:Nach dieser Logik müsstest Du Dorian Gray auch scheiße finden?!?
Nicht nur ich, sondern auch Wilde, der diesen Gray absichtlich als narzisstischen Oberschichtschnösel gestaltet und dessen wahren Charakter im Bildnis spiegelt. Ein großartiges Werk Literatur. Haller hingegen scheint als positiver Charakter konzipiert, und das geht für mich schlichtweg daneben. Da kann Hesse noch so gut schreiben können.


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gestern um 01:26
@Narrenschiffer
Naja, Hesse ist halt jenseits von Gut und Böse. :shrug: ... Kann mich an das Buch kaum noch erinnern, hauptsächlich dass mich das Ende auch ziemlich aufgeregt hat. "Magisches Theater" oder so... ein Scheiß. Und dass da ne Flasche rumstand, die erst ein paar Mal leerer wurde und dann schließlich verstaubte. Meine Freundin hats neulich wieder rausgekramt und rate mal, wie weit sie gelesen hat?! Rischtisch: Bis "Negermusik" :'D
Vielleicht sind wir einfach zu alt für den Scheiß! x'D


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gestern um 06:39
Interessant als auch erschreckend, wie Hesse hier zerrissen wird. Ich habe ihn als Jugendlicher gern gelesen, gerade Der Steppenwolf und auch Siddharta.


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gestern um 06:54
Zitat von HandGottesHandGottes schrieb:Interessant als auch erschreckend, wie Hesse hier zerrissen wird
Oh, nicht falsch verstehen: Ich mag Hesse. Ich hab Peter Camenzind, Unterm Rad, Siddharta, Steppenwolf, Narziss und Goldmund und das Glasperlenspiel von ihm gelesen und mochte seine Bücher sehr. Wenn ich sage "jenseits von gut und böse", dann will ich damit andeuten, dass er in der Tradition Schopenhauers und Nietzsches steht. Mir hat nur das Ende vom Steppenwolf nicht gefallen, ich fands albern. ;)


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gestern um 12:52
20240823 124605Original anzeigen (2,2 MB)

Gesammelt hat sie Róža Domašcyna.
Die Illustrationen sind von Jutta Mirtschin.


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