Empires. Eine globale Geschichte 1780-1920Das vor kurzem erschienene Werk der beiden Historiker:innen Ulrike von Hirschhausen (Univ. Rostock) und Jörn Leonhard (Univ. Freiburg) versucht anhand von Einzelbeispielen gemeinsame Strukturen von imperialen Reichen im "langen 19. Jahrhundert" herauszuarbeiten. Der englische Begriff
Empires wird gewählt, um eine Abgrenzung zum römischen Reich herzustellen. Grundsätzlich wird zwar eine Scheidung in maritime und kontinentale Empires (Mackinder) abgelehnt, in den Schlussfolgerungen lässt sich bei manchen Aspekten diese Aufhebung der Trennung jedoch nicht beibehalten. Auch ein Begriff "Untergang" wird zurückgewiesen, doch mit den Prozessen der Nationalisierung und Ethnisierung ab etwa 1850, wovon alle Empires betroffen sind, erscheint es mir nur eine Definitionsfrage zu sein, da diese Empires in dieser Form wirklich nicht mehr existieren. Konstatiert wird, dass Empires nationalisiert werden (das Habsburgreich als Musterbeispiel) und Nationalstaaten im Laufe des 20. Jahrhunderts imperialisiert. Aktuell wird keine Rückkehr der Empires konstatiert, aber ein immer noch gegebener "handlungsleitender Imperialismus", verknüpft mit "historischen Denkmustern und Vorannahmen". Wohl mit Bezug auf den Überfall Russlands auf die Ukraine (ohne es zu nennen) lautet der Schlusssatz in Bezug auf den "handlungsleitenden Imperialismus":
Er äußert sich als Phantomschmerz und Abstiegsszenario genauso wie in einem aggressiven Revisionismus – und in der radikalen Zuspitzung des Kriegs.
Wie prägend Empires für das 19. Jahrhundert waren, zeigt sich daran, dass 1914 84 Prozent der Landfläche von Empires beherrscht wurden bzw. fast ganz Afrika (außer Äthiopien und Liberia). Empires waren grundätzlich mulitetnisch und in Kolonialgebieten ist auch eine Ethnisierung der einheimischen Bevölkerung zu beobachten, um die nun definierten Ethnien gegeneinander ausspielen zu können, wie es kontinentale Mächte mit real existierenden Ethnien oder Religionsgemeinschaften machten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gesellte sich zu dem Topos der "faulen Einheimischen" auch eine biologistische, rassistische Sichtweise, welche dazu führte, dass die Unterdrückungsmaßnahmen an Gewalttätigkeit bis hin zu genozidalen Massakern (Aufstand der Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika) zunahmen. Unterscheidungskriterien der Ethnisierung waren Sprache, Religion und Hautfarbe.
Auch wenn eine zyklische Interpretation der Entwicklung von Empires bis zu einem Untergang abgelehnt wird, werden fünf Handungsfelder präsentiert, die mehr oder weniger einen chronologischen Ablauf imperialer Herrschaft definieren:
- Erobern und Erschließen (Siedlerkolonialismus)
- Herrschen und Verhandeln (örtliche Strukturen werden oft berücksichtigt)
- Glauben und Repräsentieren
- Prosperieren und Profitieren
- Kämpfen und Verteidigen
Der Siedlerkolonialsimus ist noch nicht durch totalitäre staatliche Gewalt gekennzeichnet, sondern durch unterschiedliche, oft auch gewalttätige Eroberung von Land, bei der meist nomadische Völker die Opfer sind (Kaukasus, asiatisches Russland, Australien als Beispiele), oder es werden Teile beansprucht (Ostindische Kompanie, Hafenstädte in China). Zum Teil gelang es, einen organisierten Widerstand zu leisten.
So konnte der Imam Scheich Schamil etwa 30 Jahre lang in Dagestan und Tschetschenien ein Kalifat errichten, das sich militärisch gegen die russische Kolonisierung wehrte (1829-1859). Erst als der russische General Michail Woronzow auf Basis seiner Erfahrungen als Gouverneur in Odessa und der Ansiedlung russischer Bauern in Neurussland begann, riesige Waldgebiete zu roden, Russen anzusiedeln und die Anbaugebiete der muslimischen Einwohner zu zerstören (Ökozid), gelang es Russland, den Widerstand zu brechen. Auf beiden Seiten werden etwa eine Million Opfer geschätzt.
In der zweiten Jahrhunderthälfte ist zu beobachten, dass durch die aufgrund der Industrialisierung immer hochwertigere Bewaffnung der imperialen Armeen die Auseinandersetzungen immer asymmetrischer wurden und bewaffnete Widerstände immer weniger von Erfolg gekrönt waren. Eine Umorientierung auf Formen des Guerillakriegs ist in allen Empires festzustellen.
Auch die Steuereintreibung nach dem Prinzip, dass die beherrschten Gebiete die Ausgaben für die Beherrschung selbst tragen und auch noch Steuergewinne abwerfen, funktionierte nicht oder traf auf Widerstand. In Gebieten ohne überstaatliche Strukturen benötigte es die Mitarbeit einheimischer Steuereintreiber und oft wurden Deals ausgehandelt, die Steuererleichterungen gegen Loyalität beinhalteten. Das hochentwickelte Lombardei-Venetien (80 Prozent der Steuern gingen nach Wien, nur 20 Prozent wurden in der Region investiert) schloss nicht zuletzt deswegen in den 1850er Jahren mit Frankreich ein Militärbündnis, das die Lombardei erfolgreich vom Habsburgreich trennen konnte.
In Bengalen unterstützte die britische Herrschaft landlose Bauern gegen indische feudale Großgrundbesitzer (Rajas), die bisher für Steuereintreibung zuständig waren, und schuf eine neue, den Briten eher loyal gegenüberstehende Mittelschicht an Grundbesitzern (Zamindars), Handwerkern und Händlern, aus deren Reihen Steuereintreiber rekrutiert wurden. Namentlich Bekanntheit erlangte Dwarkanath Tagore, der Großvater des späteren Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore. Tagore (Großvater) wurde durch Kohlehandel und Investitionen in die Kohleindustrie reich und schließlich mehr oder weniger Monopolist für die Belieferung der britischen Flotte im Indischen Ozean. Die Zamindars waren auch eine wichtige Stütze für das britische Reich während des Aufstands von 1857, der dazu führte, dass Großbritannien die Rechte der Ostindischen Kompanie übernahm.
In Westafrika war es für Frankreich besonders schwierig, direkte Steuern auf Bodenbesitz einzutreiben, daher wurde der Schwerpunkt auf indirekte Steuern und Zölle auf den Export von Kakao und Palmöl gelegt. Im nicht in den Exporthandel eingebundenen Ostafrika war es schwieriger. Deutschland versuchte es mit Hütten- und später Kopfsteuern, deren Eintreibung sich jedoch sehr schwierig gestaltete. Auch Großbritannien hatte es in Rhodesien sehr schwierig mit der Steuereintreibung. Es wird geschätzt, dass um 1910 nur etwa fünf Prozent der Einheimischen Steuern bezahlten.
Die daraus sich ergebende imperiale Beherrschung eines Gebiets bedingt zumeist ein Verhandeln, da sich Strukturen nicht einfach überstülpen ließen. So sind in einigen Teilen von Empires parallele Rechtsstrukturen zu erkennen (Teile der Scharia im russischen Reich, zum Beispiel im muslimisch geprägten Kasan, oder dörfliche alte Rechtssprechung im französischen Senegal).
Auch bei Großprojekten lief nicht alles nach Plan. So sicherte sich Frankreich beim Bau des Suez-Kanals 52 Prozent Anteil. Doch bereits Proteste gegen die traditionelle ägyptische Fronarbeit der Fellachen (Corvée), die aufgegeben werden musste, verteuerte die Errichtung und erhöhte die Verschuldung massiv. 1875 war Ägypten mehr oder weniger zahlungsunfähig und verkaufte seine Anteile an der Suez-Gesellschaft an Großbritannien, den Hauptnutzer des Kanals, das nun bei 44 Prozent der Aktien hielt. Bei einem Aufstand ägyptischer Offiziere 1882 besetzte Großbritannien Ägypten und begründete seine Kolonialherrschaft, die bis 1956 dauern wird.
Weniger erfolgreich als der Suez-Kanal war die osmanische Hedschas-Bahn, mit der Pilger von Istanbul nach Mekka gebracht werden sollen. Aufstände der arabischen Beduinen, die ihren Kameltransport in Gefahr sahen, behinderten den Weiterbau ab Medina, die Bahn selbst fuhr nur einige Jahre und die Züge mussten mit Militärbegleitung geführt werden. Das osmanische Reich konnte seine Pläne nicht durchsetzen.
Die Transsibirische Eisenbahn zeitigte auch andere Folgen als geplant. So war bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 10 km/h an eine schnelle Truppenverlegung von West nach Ost nicht zu denken, 1905 war sie eines der Zentren der Streiks (mittlerweile arbeiteten 750.000 Menschen bei den russischen Bahnen, und diese organisierten sich), ab 1918 besetzten tschechische Legionäre (Kriegsgefangene, die im 1. WK auf Seiten Russlands gekämpft haben) im Widerstand gegen die Rote Armee die Trasse.
Ethnisierung und Nationalisierung werden sehr eng am Habsburgreich verfolgt. Grundsätzlich waren alle sogenannten Nationalitäten rechtlich gleichgestellt, was auch in die neoabsolutistische Verfassung nach der Revolution von 1848/49 aufgenommen wurde. Aufgelöst wurde dieser zentralistische Gesamtstaat 1867 durch den Ausgleich mit Ungarn, als eine faktische Zweistaatlichkeit (Dualismus) hergestellt wurde. Auch wenn in der österreichischen Hälfte (Cisleithanien) weiterhin festgelegt war, dass alle "Volksstämme" gleichberechtigt seien (
ris.bka.gv.at), ist die Donaumonarchie ab diesem Zeitpunkt von einer Nationalisierung gekennzeichnet. Vor allem die tschechischen und italienischen Einwohner der stark industrialisierten Gebiete Böhmens und Mährens sowie Trients und Venetiens sahen sich gegenüber dem Agrarstaat Ungarn benachteiligt, während Ungarn als im Inneren eigenständiger Staat eine vehemente Magyarisierung vorantrieb. Bereits ausgearbeitete Ausgleichslösungen für Mähren, die Bukowina und Galizien (1905 bzw. 1914) wurden nie umgesetzt.
Diese Disparitäten zeigten sich auch bei repräsentativen Besuchen des Kaisers. In Ungarn wurde das Kaiserpaar (und vor allem Elisabeth) bei der Krönungsfeier im Juni 1867 auch von den vielen anwesenden "normalen" Ungarn gefeiert, damit erhielten die Habsburger auch eine Form von Volkslegitimität. Ein Jahr später nahmen in Tschechien eine Million Menschen (ein Drittel der tschechischen Bevölkerung Böhmens und Mährens) an Protesten gegen den Kaiser teil, da dieser den Tschechen eine Unabhängigkeit wie den Ungarn nicht zugestanden hat.
Eine Beobachtung der Autor:innen ist, dass Proteste gegen die Zentralmacht sich oft in wirtschaftlich hoch entwickelten Regionen zeigten. Beispiel sei auch der Durbar (Empfang indischer Fürsten) in Delhi von George V. 1911 in Delhi. Der Maharadscha der reichen Provinz Baroda, Sayaji Rao Gaekwad III., setzte sich über das Protokoll hinweg, verbeugte sich kurz, drehte sich um und ging (das Protokoll besagte, dass er verbeugt nach rückwärts gehend sich entfernen sollte). Ein Affront (auf
YouTube).
Ein weiterer Aspekt ist die immer stärkere Medialisierung der Herrschaft. Eine pompöse Masseninszenierung bei der Krönung von Zar Nikolaus II. führte zu einer Panik mit etwa 1300 Toten. Leichen wurden zum Schrecken der Gäste auf Schubkarren durch Moskaus Straßen wegtransportiert. Ein britischer Journalist schrieb:
Nero spielte, während Rom brannte, und Nikolaus II. tanzte auf dem französischen Ball in der Nacht des Khodynka-Massakers.
Ein Reformprojekt vor der Revolution 1848 wurde im Habsburgreich von dem aus Böhmen stammenden Franz Seraph von Stadion als Statthalter im Küstenland/Triest (1841-1846) und Galizien (1846-1848) in die Wege geleitet. Er sah in beiden Provinzen, wie zerrüttet die Zentralmacht und wie vernachlässigt die staatliche Infrastruktur war (Schulen, Krankehäuser und Armenversorgung waren verwahrlost). Sein Ziel war die Stärkung der Gemeinden bishin zur Selbstverwaltung gegenüber dem Zentralstaat und auch gegenüber lokalen Kreis-Potentaten.
Das in Triest entwickelte Konzept der Gemeindeselbstverwaltung versuchte er in Galizien unter Ausnutzung sozial-ethnischer Unterschiede in die Wege zu leiten. Die Bevölkerung war mehr oder weniger anhand ethnischer Zugehörigkeit sozial gespalten. Die mächtigen Grundbesitzer waren hauptsächlich polnisch, die abhängigen Bauern ruthenisch (ukrainisch). Stadion versuchte erfolgreich für seine Reformen gegen die hauptsächlich polnischen Potentaten die ukrainischen Bauern auf seine Seite zu ziehen. In einem ersten Schritt wurden alle amtlichen Verlautbarungen auch auf Ukrainisch veröffentlicht. In der Dynamik der Märzrevolution von 1848 genehmigte Stadion, dass die polnischen Vertreter, die auch eine Abschaffung des Frondienstes forderten, nach Wien reisen, um sie los zu haben, und erklärte im Namen des Habsburgreichs die Abschaffung der Frondienste und die Bauernbefreiung. Damit war der polnischen Revolution der Wind aus den Segeln genommen und die Loyalität der ruthenischen Bauern gesichert. Im Mai 1848 erklärte der in Lemberg/Lviv neu gegründete Oberste Ruthenische Rat die Ruthenen (Ukrainer) gegenüber Russen und Polen zur unabhängigen Nation. Ähnlich wie in Russland wurde der Unterschied zwischen Ukrainer und Polen negiert. Ruthenen/Ukrainer seien Polen mit griechisch-orthodoxer Religion und einem polnischen Dialekt. Polnische Repräsentanten sahen in der ruthenischen/ukrainischen Nation eine Erfindung Stadions.
Nach dem Oktoberaufstand von 1848 war Franz von Stadion als Innenminister an der neuen Kreisstrukturierung des Habsburgreichs federführend beteiligt. Dabei war ihm wichtig, dass die bisherigen Kronländer beibehalten und nicht nach Nationalitäten neu definiert werden sollen. Stadion war Anhänger einer konstitutionellen Monarchie und lehnte die militärische Niederschlagung der ungarischen Revolution ab. 1849 erkrankte er schwer und musste zurücktreten.
Schule und Bildung war in vielen Empires zentralistisch nicht durchsetzbar. Auch in Russland war die Nationalitätenpolitik diesbezüglich unterschiedlich. Vor allem im Westen wurde die Russifizierung vorangetrieben. Dem Ukrainischen wurde eigene Sprachlichkeit abgesprochen, dies sei ein durch das Polnische verdorbener kleinrussischer Dialekt (eine Position, die der russische Präsident Vladimir Putin seit den 2010er Jahren wieder aufgegriffen hat). 1859 wurde das lateinische Alphabet für das Ukrainische verboten (2022 wurden Diskussionen über die Wiederumstellung in der Ukraine begonnen), 1863 für das Lettische und Litauische. Weniger stark war die Russifizierung in den Ostseeprovinzen und in Finnland. Gegenüber der jüdischen Bevölkerung war die Russifizierung schwächer ausgeprägt. Zwar wurde versucht, das Jiddische zurückzudrängen, aber es konnten sich Rabbinerschulen etablieren. Im Transkaukasus und in Zentralasien wurde eher versucht, die Nationalitäten im Sinne einer Reichsidee einzubinden, da eine Russifizierung schwer möglich war. So waren die Koranschulen in Kasan mehr oder weniger die einzige Möglichkeit, höhere Bildung zu erhalten. Russische Schulen gab es einfach nicht oder kaum. Diese muslimischen Schulen waren daher als Möglichkeit für einen sozialen Aufstieg sehr gefragt. Gegen den vehementen Druck russischer Nationalisten förderte die Bildung in der Sprache der Tataren der Linguist Nikolai Ilminsky. Für die Umsetzung dieser Ideen ist der Lehrer Ilja Uljanow aus Simbirsk ein Beispielt. Sein Sohn Vladmir Uljanow (besser bekannt als Lenin) übernahm diese Idee der Bildung in den Nationalitäten als Grundsatz für die Sowjetunion.
Widerstand gegen Bildungsbestrebungen und Bildungsreformen gab es von verschiedenen Seiten. In Algerien kämpften französische Siedler dagegen, dass auch algerische Kinder einen Schulbildungsweg einschlagen können. Ungarn sah in slowakischen Schulen (und slowakischer Literatur) die Gefahr eines Panslawismus, während in Siebenbürgen rumänische und deutsche Schulen genehmigt waren. In dem seit 1878 von Österreich besetzten Bosnien gab es massiven Widerstand der männlichen muslimischen Elite gegen die Einführung einer Muslimischen Mädchenschule (1894 in Sarajewo) seitens der Österreicher.
Die Religionsbeispiele im Buch zeigen, dass auch eine Durchsetzung der Zentralstaatsreligion sehr schwierig war. Anhand von Jamaika wird präsentiert, wie Freikirchen und auch afroamerikanische Prediger sich im Sinne der Sklaven Gehör verschaffen konnten (berühmt ist der "Baptistenaufstand" von 1832), während die Mitgliedschaft in der anglikanischen Kirche eine Randerscheinung blieb. Kasan blieb - wie oben schon beschrieben - ein muslimisches Zentrum im Russischen Reich.
Die Multiethnizität wird anhand von zwei Städteportraits gezeigt: Saloniki und Shanghai. Obwohl strukturell grundverschieden, sei an beiden Städten zu zeigen, dass weniger Vermischung, sondern Parallelgesellschaften existierten. In Saloniki lebten Griechen, Juden, Muslime und andere meist in voneinander getrennten Stadtvierteln. 1923 schließlich wurden auf Grundlage des Abkommens von Lausanne die muslimischen Einwohner umgesiedelt, 1943 die Juden durch Deutsche ermordet. In Shanghai war die Trennung durch die Kolonialverträge und die unterschiedlichen Rechtsräume vorgegeben. Gemeinsam ist beiden, dass mit Beendigung der Multiethnizität auch ihre Bedeutung sank, ein Trend, der sich auch in Städten wie Triest oder Riga beobachten lässt.
Wirtschaftlich sei im Zeitraum von 1800 bis 1913 ein Anstieg des Welthandelvolumens um das 25-Fache zu registrieren, wobei dem Britischen Empire eine Wirtschaftskraft von 25 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts zufiel (Stand 1870). Beobachtbar sei, dass vor allem Ränder der Reiche vom Wirtschaftsboom profitierten. Einer der Gründe sei, dass die Peripherie geographisch die beste Möglichkeit hatte, international zu operieren.
Eine der Boom-Produkte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Baumwolle. Ägypten wurde zum Zentrum des britischen Baumwollhandels (40 Prozent der ägyptischen Anbaufläche wurde mit Baumwolle bepflanzt). In Russland wurde Turkestan zur Hauptprovinz des Baumwollanbaus mit der schließlich fatalen Konsequenz der Einschränkung des Getreideanbaus. Aufgrund der Zwangsrequirierungen während des Ersten Weltkriegs erfolgte eine Ernährungskrise und Hungersnot in Turkestan, die zu einem Aufstand und kriegerischen Auseinandersetzungen führten (200.000 Tote). Zusätzlich wurden Getreideimporte nach Turkestan gestoppt, sodass etwa ein Viertel der Bevölkerung der Hungersnot zum Opfer fiel.
Im französischen Westafrika konnte sich Baumwolle nur schwer durchsetzen, da die lokalen Produkte weiterhin vorgezogen wurden. Außerdem war Frankreich mit einer Sklavenhaltergesellschaft zweier islamischer Königreiche konfrontiert (Sklavenanteil von 40 Prozent). Das Volk der Maraka produzierte mithilfe von Sklaven (hauptsächlich aus dem Volk der Bambara) hochwertige Stoffe, die an die Tuareg verkauft wurden. Diese Märkte konnten nicht umstrukturiert werden, dafür war aber die französische Kolonisierung eine Möglichkeit für die Versklavten zu fliehen, was 1905 zu einer Massenflucht der Sklaven in der gesamten Region des französischen Sudan und in Westafrika führte.
Die Ethnisierung der Empires lässt sich auch anhand der durch die Industrialisierung rapid ansteigenden Zahlen der Industriearbeiter:innen zeigen. In der südafrikanischen Provinz Natal (Hauptstadt Durban) wurde auf viele chinesische und indische Kontraktarbeiter:innen zurückgegriffen. Berühmt ist Mahatma Gandhi, der 23 Jahre in Natal lebte und als Anwalt sich für die Rechte der indischen Arbeiter:innen einsetzte (die Segregation der indigenen Bevölkerung tangierte ihn dabei weniger). Auch im Habsburgreich war das Industrieproletariat ethnisch von Tschechen überproportional besetzt, die durch ihre Mobilität auch in Böhmen und Mähren (nicht nur in Wien) die ethnische Zusammensetzung veränderten. Die Lebensbedingungen waren zum Teil katastrophal, die Sozialdemokratie versuchte, sich als übernationale Partei zu positionieren, was jedoch nicht immer gelang, da andere politische Kräfte auf der Klaviatur der ethnischen Vorurteile zu spielen wussten.
Nach der Aufteilung der Welt und dem Hinzutreten neuer imperialistischer Mächte wie Japan erhöhten sich die Spannungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während neue Mächte aufstrebten, mussten sich alte Mächte verteidigen, wie zum Beispiel das Osmanische Reich. Reagiert wurde darauf mit verstärkten Rüstungsanstrengungen und auch der Frage, wie in multiethnischen Empires die Frage der Wehrpflicht beantwortet werden soll.
Im Osmanischen Reich war der Zwiespalt, dass eine große Armee benötigt wird, der Militärdienst jedoch ein Privileg der Muslime war und Nicht-Muslime sich vom Militärdienst freikaufen konnten. Die ideologische Grundlage war, dass Krieg als Dschihad, also als islamischer heiliger Krieg gesehen wurde. Die Jungtürken waren 1908 noch für ein multiethnisches Osmanisches Reich ohne Privilegien eingetreten und führten die allgemeine Wehrpflicht ein, was zu drei Problemen führte: Ausfall der Wehrersatzsteuer, Wegfall der muslimischen Privilegien, Desertation von Nicht-Muslimen. Mit den Balkankriegen 1912/13 wurden die Jungtürken nationalistisch radikalisiert, zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden Armenier als potenzielle Feindnation gesehen, entwaffnet und schließlich 1915 genozidal in die Wüste geschickt.
Der Erste Weltkrieg. Die Kolonialmächte in Afrika setzten Afrikaner in ihren Armeen ein, die Franzosen auch auf dem europäischen Schlachtfeld (ca. 130.000 von insgesamt 200.000). Auch wenn die Zahl der vom britischen und deutschen Reich eingesetzten afrikanischen Soldaten viel geringer war, wurden jedoch sehr viele als Träger eingesetzt. Insgesamt wird geschätzt, dass in Ostafrika während des Ersten Weltkriegs etwa 650.000 Afrikaner:innen ums Leben kamen. Die größte Kolonialarmee war die Inder in der britischen Armee: 1,4 Millionen als Soldaten und Hilfsarbeiter, davon 150.000 auch in Europa, die meisten (700.000) in Mesopotamien. Dennoch waren sie nicht integriert, sondern segregiert strukturiert.
Osteuropa war an den Rändern des Russischen Reichs noch nach Ende des Ersten Weltkriegs von sogenannten Staatsbildungskriegen, Bürgerkriegen und gewaltsamen ethnischen Konflikten heimgesucht, in die auch Kriegsgefangene einbezogen wurden (zum Beispiel Tschechen in Russland). Auch konstatierten sich hauptsächlich keine Nationalstaaten, sondern multiethnische Nationalitätenstaaten, womit die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten sich weiterhin stellte. Jugoslawien löste es so, dass Serbien als "Märtyrernation" des Ersten Weltkriegs dominierender Faktor wurde, im polnischen Staat lebten nach dem Befreiungskrieg gegen Russland (1919/20) ukrainische und weißrussische Minderheiten, auch gab es Grenzkonflikte mit der Ukraine und Litauen.
Diese in Europa sich bereits ab etwa 1850 abzeichnende Ethnisierung und Nationalisierung ist in Afrika erst nach dem Zweiten Weltkrieg Realität geworden. Bis dahin waren die europäischen Mächte weiterhin dominant und die Afrikaner schwankten zwischen Widerstand und Anpassung, wie zum Beispiel der senegalesische Politiker Blaise Diagné, der auch als Abgeordneter der französischen Nationalversammlung für eine rechtliche Gleichstellung der Bewohner Senegals als Französinnen und Franzosen eintrat und selbst mit einer Französin verheiratet war. Beim Panafrikanischen Kongress vom 19. bis zum 22. Februar 1919, dem er vorsaß, wurde keine nationale Selbständigkeit als Ziel formuliert, sondern "Reformen im Rahmen der bestehenden Kolonialherrschaft". Diese Hoffnungen seien enttäuscht worden und eine neue Generation setzte sich die Dekolonialisierung zum Ziel. Der Abfall Singapurs 1942 wurde schließlich zum weltweiten Signal.
In diesem dicken Buch gibt es noch weitere Beispiele, deren Nennung jedoch zu anekdotisch wäre. Das Lesen ist manchmal mühsam, da zeitlich und räumlich wegen der oben gelisteten Einteilung sehr gesprungen wird, aber die Lektüre dieses doch umfangreichen Buchs (über 700 Seiten in der Druckversion) ist durchaus lohnend.