Das Römische Reich und seine Nachbarn (Fischer Weltgeschichte Bd. 8)Dieser Band wurde 1966 herausgegeben und zum großen Teil geschrieben vom damals knapp 30-jährigen Oxford-Absolventen Fergus Millar, der schließlich seine Karriere als Professor an dieser Universität abschloss. Gekennzeichnet ist dieser Band von einer großen Fülle an Einzeldaten, die jedoch so sprunghaft (zeitlich, räumlich, thematisch) präsentiert werden, dass die Lektüre sehr herausfordernd, um nicht wirr zu sagen, ist. Dennoch verstecken sich so manche Analysen, die notierenswert sind.
Zeitlich spannt sich das Werk vom Tod des Augustus (14 n. Chr.) bis zum Beginn der Herrschaft Diokletians (284 n. Chr.). Millars Überblick über die Herkunft der Kaiser spiegelt die Zentren, aus denen in diesem Zeitraum die Alleinherrscher stammten:
Nachkommen der römisch-republikanischen Aristokratie (das Julisch-Claudische Herrscherhaus), dann Mitglieder der italischen Bourgeoisie (die Flavier), darauf folgten die italischen Siedler in Spanien und Südgallien (Trajan, Hadrian und die Antoninen), sodann die Afrikaner und Syrer (die Severer), und schließlich während der letzten Jahrhunderthälfte dieser Epoche waren es Männer aus dem Donau- und Balkanraum, der jetzt romanisiert wurde, einen ansehnlichen Teil der Rekruten für die Armee stellte und auch einer der Hauptschauplätze der ständigen Kriege war, die die Mitte des 3. Jahrhunderts ausfüllten.
Rom als Stadt war von diesem Trend nicht betroffen. Senatoren stammten sehr selten aus Provinzen. Andererseits verlor die Stadt in dieser Epoche immer mehr an Bedeutung. Kaiser ließen sich nur mehr zu sehr seltenen Anlässen in Rom blicken und verlegten ihre Zentren, bis schließlich im 4. Jahrhundert mit Konstantinopel ein neues Zentrum entstand.
Beobachtet wird die zunehmende Romanisierung der Provinzen, die auf zwei Grundlagen zurückgeführt wird: die Einberufung von Nicht-Bürgern in die Hilfstruppen und deren Entlassung als Bürger sowie die Städtegründungen mit Ansiedlung von Veteranen. Bewertet wird die Romanisierung als "koloniale Wesensart" durch Eroberung, Assimilation, Emigration sowie Wirtschaftsimporte. Immer mehr Städte römisch-griechischen Typs seien festzustellen. Eine neue Kultur sei durch Überlagerung bestehender einheimischer Kultur bzw. der Verschmelzung der beiden Kulturen entstanden.
Die Aufstellung einer ständigen Armee habe aber auch Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der hauptsächlich bäuerlich tätigen Bevölkerung zeitigen müssen: Ohne Leid durch Requirierungen sei dieser wirtschaftliche Aufwand nicht zu betreiben gewesen. Die Menschen mussten die Legionen versorgen und für die Transportmittel der Armee wie auch der staatlichen Funktionäre aufkommen. Dies wurde auch mit Zwangsmitteln eingefordert. Die Legionäre selbst wurden durch Freiwillige, aber auch durch Zwangsrekrutierungen ins Heer geführt. Hilfstruppen wurden zur regulären Armee erhoben (Aufwertung der Provinzen). Die Legionäre selbst wurden schlecht besoldet und mussten für Verpflegung, Kleidung und Ausrüstung selbst aufkommen. Kavalleristen mussten ihre eigenen Pferde mitbringen und für sie aufkommen. Die Centurionen (Offiziere einer Hundertschaft) mussten bestochen werden, um Erleichterungen gewährt zu bekommen. Ersparnisse waren aus dem Sold nicht anzulegen. Nach immer ausgedehnteren Dienstzeiten (30 Jahre, 40 Jahre) erhielten überlebende Legionäre als Veteranen Land in meist unfruchtbaren Zonen zugeteilt (in Sümpfen oder auf vorher nicht kultivierten Hängen). Erst Hadrian ließ Veteranenkolonien errichten bzw. die Möglichkeit offen, einen gedienten Veteran auch mit 3.000 Denaren (recht viel mehr als 10.000 heutigen Euro dürfte dies nicht entsprechen) abzufertigen. Auch waren Legionäre rechtlich benachteiligt. So galt eine Ehe im zivilen Leben als nicht rechtsgültig geschlossen. Erst zur Wende zum dritten Jahrhundert wurde diese Regelung aufgehoben.
Auch für Rom selbst sei zu konstatieren, dass die wirtschaftlichen Vorteile in diesen drei Jahrhunderten permanent abnahmen, das Volk von Rom auch mehr oder weniger alle verfassungsmäßigen Rechte verlor (an die Kaiser, an die Armee). Die Kaiser selbst rissen seit Augustus die Macht der republikanischen Verfassungsorgane an sich: die tribunizische Gewalt (die Macht des nicht adeligen Volks), die imperiale Gewalt der Prokonsuln über die Provinzen und damit den Oberbefehl über die Armee, die konsularische Gewalt (die Macht des adeligen Senats), mit dem Titel als Pontifex Maximus die Gewalt des Oberpriesters. An eine geregelte Ablöse wie in der republikanischen Zeit (jährlicher Amtswechsel) war nicht mehr zu denken, ein neuer Mechanismus der Machtablöse wurde nicht installiert. Im dritten Jahrhundert gab es praktisch keinen friedlichen Machtwechsel mehr.. Seit Caracalla (217 n. Chr.) starb jeder Kaiser eines gewaltsamen Todes. Es gab keine Regierung und keine gewählte Körperschaft, die irgendeine Kontrolle der Macht hätte ausüben können. Der Senat repräsentierte weder das Volk noch die Herkunftsgemeinden seiner Mitglieder. Der Kaiser regierte mit seinen Freunden (amici) alleine.
Gestützt wurde die kaiserliche Herrschaft durch eine neue provinzielle Oberschicht, die Ritterschaft. Millar geht sogar so weit, dass er annimmt, die kaiserliche Herrschaft hätte sich ohne diese Ritterschaft nicht halten können. Gleichzeitig verloren Rom und Italien an Bedeutung. Die Kaiser verweilten immer seltener in der Hauptstadt und am Ende des 3. Jahrhunderts wurde Italien den Provinzen gleichgestellt und besteuert.
Das Territorium des Römischen Reichs erweiterte sich in dem gegebenen Zeitraum nur in drei Richtungen: Britannien (Privinz ab 43 n. Chr.), Dakien (ab 106 n. Chr.), Mesopotamien (Ende des 2. Jahrhunderts in zwei Anläufen).
Bei den Kapiteln über die verschiedenen Provinzen sticht das brutale Vorgehen der römischen Legionen ins Auge. Der Auslöser der Varusschlacht wird darin gesehen, dass durch Fehler einer Besatzungsmacht eine eigentlich noch kooperative, weil mehr oder weniger sich selbst überlassenen Gesellschaft mit Aufstiegsmöglichkeit in römischen Reihen mit ausbeuterischen Auflagen konfrontiert wurde, die einen integrierten Adeligen wie Arminius/Hermann mit hochwertiger militärischer Ausbildung zum Widerstand reizten. Weitere Militäroperationen auch gegen Zivilisten (Dörfer) werden von Millar als "bizarr" beschrieben, heutzutage dürfte der Begriff genozidal zutreffen, wenn ähnliche Militäroperationen in anderen Regionen als Vergleich herangezogen werden, für die es Opferschätzungen gibt.
Für die Niederschlagung jüdischer Aufstände sind folgende Opferzahlen angeführt:
- Jüdische Erhebung in Alexandria (60 n. Chr.): 50.000 Massakrierte
- Jüdischer Krieg (66-73 n. Chr.): Millar schätzt eine Million Opfer
- Jüdische Aufstände in Kyrene, Zypern, Ägypten (115-117 n. Chr.): laut Appian sei das jüdische Volk vernichtet worden
- Bar-Kochba Aufstand (129-130 n. Chr.): Millar schätzt eine Million Opfer
Die anderen Provinzen gelten als friedlich, Millar führt jedoch Unruhen wegen Ausbeutung durch die Kolonialmacht, Hungerrevolten, Streiks, Bandenunwesen an. Der Arzt Galen aus Pergamon (Westkleinasien) hat im zweiten Jahrhundert berichtet, dass die ländliche Bevölkerung am Ende des Winters keinerlei Vorräte mehr hatte, sodass sie auf "Zweige und Sprößlinge von Bäumen und Büschen und Zwiebeln und Wurzeln nicht eßbarer Pflanzen" zurückgreifen musste. Den wirtschaftlichen Verfall begleitete eine Inflation und schließlich ein Zusammenbruch der römischen Währung. Die Wirtschaftskrise lässt sich auch archäologisch beobachten: Im dritten Jahrhundert zerfällt die Infrastruktur, Städte werden nicht weiterentwickelt und auch nicht renoviert.
Im dritten Jahrhundert wurden die Provinzen von Invasionen heimgesucht. Das Römische Reich war als koloniale Schutzmacht nicht in der Lage, die Bevölkerung zu verteidigen. Griechenland wurde von den germanischen Stämmen der Goten und Heruler überfallen, weitere germanische Stämme drangen immer wieder über den Limes an der Nordgrenze plündernd ein.
Kulturell ist eine Regionalisierung zu beobachten, eine übergreifende griechisch-römische Kultur ist immer weniger zu erkennen. Auch religiös ist dies zu erkennen: monotheistische lokale Gottheiten beginnen das polytheistische Religionsgebäude zu überlagern (mit letzten Abwehrkämpfen und Verfolgungen), bis im 4. Jahrhundert eine dieser Lokalreligionen zur Staatsreligion wird: das Christentum. Die Weichen für die Zukunft sind gestellt.
Auch außerhalb des Römischen Reichs wird ein Kulturwandel beobachtet. Im Iran der Sassaniden entsteht eine dekorative, geometrische Kunstform, welche die islamische Kunst bis heute prägt. Die figürlichen Darstellungen der Partherzeit treten immer mehr in den Hintergrund.
Erwähnung finden auch die Daker, die nur kurz wegen ihrer Goldminen besetzt waren, jedoch intensiv romanisiert wurden (die rumänische Sprache ist bis heute Zeuge), auch wenn mit Decebalus ein dakischer König wegen des Widerstands bis heute ein Nationalheld in Rumänien ist.
Bezüglich Militärkultur wird das iranische Reitervolk der Sarmaten angeführt, die nördlich des Schwarzen Meers in den Raum der heutigen Ukraine vordrangen. Ihre Reiter nutzten Steigbügel und Sporen, womit eine größere Kampfkraft der Kavallerie gegeben war. Geschützt waren die Reiter duch Rüstungen aus Schuppen verschiedenen Materials. Auch verwendeten sowohl die Reiter als auch die Fußkämpfer lange Lanzen. Die sarmatische Gesellschaft war in soziale Klassen mit einer Aristokratie, der vorbehalten war, als Reiter zu fungieren, eingeteilt. Eine Gesellschaftsform, die vermutlich die Waräger des Kiewer Rus beeinflusste. Alles Beiwerk, das zu den Rittern des europäischen Mittelalters vorausweist. In der sarmatischen Frühzeit sollen auch unverheiratete Mädchen als Kriegerinnen gekämpft haben und ihnen sei es erst erlaubt gewesen zu heiraten, wenn sie einen Feind getötet haben. Die Frage wird gestellt, ob dieser sarmatische Brauch nicht die Amazonen-Sage der Griechen beeinflusst hat. Die sarmatische Herrschaft in diesem Raum wird erst 332 n. Chr. von den Goten gebrochen. Das Volk der Sarmaten (bis auf die Alanen) wurde schließlich von den Hunnen physisch vernichtet. Die Alanen siedelten sich im Kaukasus an und sind heute noch als Osseten bekannt.
Die Auswirkungen der verschiedenen Einfälle ins Römische Reich? Am Ende des 3. Jahrhunderts bildete wieder die Donau die Grenze. Es war dort eingegrenzt, wo es auch beim Tod des Augustus seine Grenzen hatte.