Kurt Held - Die rote Zora und ihre BandeDieses Buch gehört zu den berühmten Kinderbüchern und ist durchaus einzigartig. Kurt Kläber, 1933 als Kommunist aus Deutschland mit seiner Frau, einer Kinderbuchautorin, in die Schweiz geflohen, bereist 1940 mit seiner Frau Jugoslawien, angeblich um Tantiemen für ihre Bücher einzusammeln, und an der kroatischen Adriaküste verbleibt er aus Krankheitsgründen einige Zeit in der abgelegenen Stadt Senj, wobei er Kontakt mit einer kleinen Gruppe von Straßenkindern (zum Teil Waisen, zum Teil verstoßen) aufnimmt, die in der damals halb verfallenen, vierhundert Jahre alten ehemaligen Uskokenburg ihr Versteck hatte und von Diebstahl lebte. Auf Basis deren Schicksals gestaltet Kläber ein spannend geschriebenes Abenteuerbuch, das zwischen Ernsthaftigkeit und spaßigen Episoden schwankt. Unter dem Pseudonym Kurt Held wurde das Buch 1941 beim Schweizer Sauerländer Verlag veröffentlicht.
Die fünf Kinder sind ein Mädchen mit roten Haaren namens Zora (ihre Mutter ist wegen einer offenen Blutrache aus Albanien geflohen und stirbt in Senj wie auch ihr kleiner Bruder) und vier Jungen (Waisen, geflohen aus gewalttätigen Elternhäusern). Im Fokus steht Branko, dessen Mutter verstorben ist und dessen Vater als Geiger Jugoslawien bereist und sehr selten nach Senj kommt. Seine Großmutter wirft ihn nach einer Nacht auf die Straße und wegen eines Fischdiebstahls am Markt wird er ins Gefängnis gesteckt, woraus Zora ihn befreit. Branko schließt sich der Gruppe an.
Wir lernen nun eine frühkapitalistische Stadt kennen, aus der sie ausgeschlossen sind, aber dennoch kümmern sich einige der Bewohner um die Kinder. Der Bäcker Curcin lässt ihnen Brot zukommen, der 77-jährige Fischer Gorian schließt Freundschaft mit ihnen. Beide helfen ihnen immer wieder, der Polizei zu entkommen. Auch die Spaltung der kleinstädtischen Gesellschaft in eine wohlhabende Mittelschicht (reiche Bauern, Gewerbetreibende und deren Gymnasiastensöhne) und arme Arbeitende oder Arbeitslose ist nachvollziehbar gestaltet. Die sozialen Grenzen zu überwinden, ist mehr oder weniger nicht möglich.
Höher entwickelter Kapitalismus findet Einzug in die kleine Stadt in Form einer Tabakfabrik, in der junge Frauen arbeiten, und Brankos Mutter entwickelt aufgrund der gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen Schwindsucht und stirbt daran.
Die freien Fischer sind in diesem Sommer mit einer an der Adriaküste tätigen Aktiengesellschaft konfrontiert, die Fischgründe aufkauft und die Fischer als Angestellte aufnimmt. Diese Gesellschaft ist aus zwei Gründen erfolgreich: Sie bietet den Arbeitern ein Gehalt, auch wenn der Fang schlecht ist, und sie drängt diejenigen, die sich nicht anschließen, aus dem Markt: ihre Fische werden nicht aufgekauft, sie erhalten keine Marktstandlizenzen.
Nach vielen episodischen Abenteuern, in denen die Gruppe auch so Einiges anstellt und Schaden anrichtet, beginnen die Kinder dem alten Fischer Gorian, der sich nicht der Fischereigesellschaft anschließen will, zu helfen und durch einen sensationellen Thunfischfang (die brutalen, aber auch gefährlichen Fangmethoden werden sehr detailliert beschrieben), kommen die Kinder zu etwas Geld, mit dem sie angerichteten Schaden wiedergutmachen können. Nach einer eindringlichen Rede Gorians vor dem Stadtrat, wo er die Schuld der Stadtbürger anprangert, dass es überhaupt dazu kommen kann, dass diese Kinder als Straßenkinder vom Diebstahl überleben müssen, gelingt es, die fünf Kinder als Lehrlinge unterzubringen (einer wird Matrose bei der Fischereigesellschaft, einer Bauernknecht, einer Bäckereilehrling, Zora und Branko werden Fischereilehrlinge bei Gorian).
Trotz dieses ernsten Hintergrunds ist es ein witzig geschiebenes Buch, das Kinder zeigt, die ihre triste Lage wegen der totalen Freiheit eigentlich genießen und auch viel Spaß am Leben haben. Und die frühen, pubertären Liebesbemühungen Zoras und Brankos (samt Eifersucht, da der 13-jährige Branko sich in die 17-jährige Bürgermeistertochter verliebt) werden sehr rührend dargestellt. Der hohe Stellenwert, den dieses Buch noch immer bei der Kritik einnimmt, ist berechtigt.
Die Frage, ob es die Kinder wirklich in dieser Form als Gruppe gegeben hat, ist vermutlich schwer zu klären. Kläber und seine Frau Lisa Tetzner gaben an, sie hätten Branko im Hotel in Senj kennengelernt, der sie mit auf die Burg Nehaj (die ist nun renoviert) mitgenommen und der Kindergruppe vorgestellt habe. Ein Foto, das auf der Wikipedia-Diskussionsseite zum Buch von einem anonymen Beiträger verlinkt ist, soll von Tetzner oder Kläber stammen. Es
zeigt zwei Buben vor der Burg in Senj.
Lesenswert sind zwei Artikel: von
Thomas Feix auf piqd.de über das Buch und im
Tagesspiegel über Kurt Kläber und Lisa Tetzner.
Laut Feix kann sich heutzutage in Senj niemand mehr an diese Kinder oder eine Kinderbande erinnern. Falls es diese Straßenkinder wirklich gegeben hat, lässt sich über ihr Schicksal nur spekulieren, vor allem da sie nicht in Senj verblieben sein können, da es keine Spuren gibt. Das Schicksal könnte schrecklich sein: 1941 errichtete die faschistsche Ustaša eine kroatische Diktatur, ab 1942 war Senj von deutschen Truppen besetzt. Es ist bekannt, dass auch Kinder im KZ bei Jablanac gefangen gehalten wurden. Von dort aus wurden die Gefangenen ins berüchtigte KZ Jasenovac, dem wiederum als Außenlager ein als Kinderlager konzipiertes
KZ Sisak (Link zur Wikipediaseite) angeschlossen war.
Es kann aber auch sein, dass Kläber und Tetzner diese Kinder und deren Gruppe nur erfunden haben.
Die
Uskoken (Link zum Wikipediaeintrag) gab es übrigens wirklich. Sie waren Flüchtlinge aus den von den Osmanen eroberten Gebiete des Westbalkan und errichteten im 16. Jahrhundert die Festung Senj, von wo aus sie mit Unterstützung der Habsburger osmanische und venezianische Schiffe in der Adria angriffen. Nach dem Frieden von Paris und Madrid zwischen den Großmächten im Jahr 1617 lösten die Uskoken sich auf, Senj kam unter österreichische Herrschaft.