Edward Gibbon - Verfall und Untergang des römischen Imperiums (Kap. 1-12)Original anzeigen (0,2 MB)1776 erschien der erste Band von Edward Gibbons Geschichtswerk, das den Zeitraum ab dem dritten Jahrhundert bis zur Eroberung Konstantinopels umspannt. Die 2003 bei dtv erschienene Übersetzung basiert auf einer Ausgabe Anfang des 20. Jahrhunderts, die ersten zwölf Kapitel enden bei der Ausrufung Diokletians zum Kaiser (284).
Mit Gibbon begann eine Tradition der englischsprachigen Geschichtsschreibung, die bis heute gepflegt wird: Eine auf umfassender Quellensichtung beruhende Darstellung auf sprachlich hohem und leicht lesbarem Niveau. Für sein Werk durchforstete Gibbon sämtliche ihm bekannte römische Quellen sowie die (noch nicht sehr zahlreiche) Fachliteratur bzw. archäologische Funde. Dass über die Jahrhunderte einige seiner Schlussfolgerungen aufgrund besserer Datenlage revidiert werden mussten, schmälert nicht seine Leistung.
Besonders hervorzuheben ist, dass Gibbon nicht nur eine chronlogische Wiedergabe der politischen Ereignisse bietet, sondern zur Beantwortung der Frage nach dem Warum des Untergangs sehr moderne Ansätze wählt (demographische, ökonomische, soziologische).
So bietet er nicht nur eine geschätzte Zahl der Bevölkerung (mit 120 Mio. eher hochgeschätzt), sondern auch deren politische und soziale Schichtung, ohne die die Funktionsweise des Reichs schwer zu verstehen ist. Die Bevölkerung setzte sich Mitte des ersten Jahrhunderts laut Gibbon wie folgt zusammen:
- 20 Mio. Römische Bürger mit Frauen und Kindern
- 40 Mio. Provinzialen (Provinzbewohner ohne Bürgerrecht) mit Frauen und Kindern
- 60 Mio. Sklaven und Freigelassene
Der unermessliche Reichtum Roms basiere auf Sklavenarbeit und vor allem aus den Einkünften der Provinzen, die nach Rom abgezogen wurden. Römische Bürger selbst waren von jeglichen Steuern und Abgaben befreit. Die Imperatoren waren seit Augustus eigentlich die Oberbefehlshaber der Grenzprovinzen, hatten jedoch hohe politische Rechte in Rom und die Möglichkeit, den Senat in den Schatten zu stellen. Am angenehmsten für die Römer waren die Imperatoren, welche die meiste Zeit nicht in Rom verbrachten. An eine Verteidigung musste eigentlich nicht gedacht werden, was wiederum den Senat bzw. die Republik gegenüber den Imperatoren schwächte, da sie immer mehr von ihnen und ihren Armeen abhängig wurden. Diese hatten das Recht, die ersten Anträge im Senat zu stellen und per Edikt zu regieren. Die Verschmelzung von ausführender und gesetzgebender Gewalt ist für Gibbon ein klares Zeichen, dass die Republik sich zu einer Diktatur wandelte, ohne die alte Verfassung verwerfen zu müssen.
Mit Kaiser Hadrian änderte sich die Außenpolitik Roms, aggressive Eroberungen wurden eingestellt, die Verteidigung der Grenzen Priorität. Während bis ins erste Jahrhundert Völker außerhalb des Reichs Tribute entrichteten, um von den Römern in Ruhe gelassen zu werden, wurden im dritten Jahrhundert immer wieder Verträge geschlossen, bei denen die Römer "Hilfszahlungen" leisteten und im Gegensatz die Zusicherung erhielten, dass keine Raubzüge in ihre Provinzen vorgenommen werden. Dieser Begriff konnte nicht verbergen, dass es eigentlich Tributzahlungen waren.
Der Verfall Roms setzte für Gibbon mit Kaiser Caracalla, einem Sohn Mark Antons, ein. Der Hauptgrund: Er verlegte eine große Zahl der Prätorianergarde (Schutztruppe des Kaisers) in die Stadt Rom, womit ein militärisches Erpressungsmittel gegen den Senat innerhalb der Tore Roms platziert war. Auch betont Gibbon, dass Caracallas Verleihung des Bürgerrechts für alle Provinzialen kein Akt war, der eine Rechtsgleichstellung zum Ziel hatte, sondern zur erhöhten Ausbeutung. Vor Caracalla wurde bereits eine Erbschaftssteuer und eine Akzise (eine Art Mehrwertsteuer) für römische Bürger eingeführt, um das Heer finanzieren zu können. Caracallas Ziel war, dass auch die Erbschaften der Provinzbewohner besteuert werden können, ohne jedoch die Tributleistungen zu senken. Letzteres wurde erst von einem Nachfolger umgesetzt.
Die Bedeutung des Heeres wuchs mit den vermehrten Einfällen germanischer und asiatischer Stämme in römisches Gebiet, sodass sich mit Hilfe der Armee Feldherrn zum Kaiser haben ausrufen lassen. Zunächst von den Prätorianern in Rom, die den Senat erpressen konnten, schließlich von Legionen in den Provinzen. Der Senat nickte oft nur noch ab, weil er keine andere Wahl hatte. Außerdem war er froh, wenn der Kaiser militärisch gesinnt war und bei der Armee blieb und kein Elagabal war, der nach Rom kam, um seinen Gelüsten zu frönen.
Dieses System entwickelte jedoch seine Eigengesetzlichkeiten. Legionen konnten nach Belieben Imperatoren absetzen (d.h. ermorden) und einsetzen. Beinahe kein Kaiser des dritten Jahrhunderts ist eines natürlichen Todes gestorben. Andererseits benötigte das riesige Reich Mitregenten, Mitkaiser, oft waren es die Söhne eines schon älteren Imperators. Diese hatten mit ihren jeweiligen Legionen eine Hausmacht, sodass nicht nur einmal ein Krieg zwischen den Legionen ausbrach. Höhepunkt dieser Machtzersplitterung ist die Schilderung einer römischen Quelle, dass es während der Regierungszeit von Kaiser Gallienus (260-268) gleichzeitig dreißig Usurpatoren gegeben haben soll. Ob es wirklich so viele waren, sei dahingestellt, eines zeigt es, das Römische Reich stand vor dem Zerfall.
Die Zeit von 250 bis 270 gilt als einer der kritischten Zeiträume. Nicht nur die verschiedenen Usurpatoren, die brutalen Kämpfe um das Imperium, die Verfolgungen der jeweiligen Anhänger, die Zehntausenden das Leben kostete, die Brutalität der Bestrafungen (Städte wurden vernichtet), sondern auch Krankheit spielte eine Rolle. Die Cyprianische Pest wütete von Ägypten ausgehend zwischen 250 und 265. Gibbon erschließt aus zeitgenössischen Daten, dass die Hälfte der Bewohner des Römischen Reichs in dieser Zeit an Krankheit, Hunger und Krieg frühzeitig verstorben ist. Bis heute ist nicht geklärt, um welche Krankheit es sich gehandelt hat, Virologen neuerer Zeit schließen auf Basis der zeitgenössischen Symptombeschreibungen selbst einen Ebola-Stamm nicht aus.
260 zeigte sich zum ersten Mal die Verwundbarkeit Roms selbst. Die Alamannen zogen von Norden auf den römischen Straßen plündernd durch Norditalien in Richtung Rom. Kaiser Valerian und Mitregent Gallienus (sein Sohn) waren in ihren jeweiligen Provinzen beschäftigt, so zog die Prätorianergarde den Alamannen entgegen, die daraufhin umdrehten und mit ihrer Beute unbehelligt wieder zurück in ihre angestammten Siedlungsgebiete zogen.
Auch der Osten des Reichs war von Abspaltungstendenzen, Usurpator*innen (Zenobia aus Palmyra die berühmteste Frau) und Einfällen (von Goten wie von asiatischen Stämmen) bedroht. Mit unfassbarer Gewalt wurde vorgegangen, was auch an die Grenzen der physischen Belastbarkeit der Legionäre ging, mit Gewaltmärschen zwischen Syrien und Ägypten. Die eindrucksvollste Überlieferung betrifft Kaiser Carus, der 283 die Einfälle stoppen wollte, indem er das gerade durch Machtkämpfe geschwächte Persien angriff. Nach Eroberung der Doppelstadt Seleukia-Ktesiphon am Tigris zog er mit den Truppen weiter nach Osten und empfing eine persische Abordnung. Es ist geschrieben, dass Carus beim Empfang im Freien am Boden saß und ranzigen Speck wie harte Erbsen gegessen habe. Das Ende des Feldzugs ist auch interessant: Carus starb in seinem Zelt während eines Gewitters. Die Soldaten nahmen an, dass ihn der Blitz erschlagen hätte, nach römischem Glauben habe ihn der Zorn eines Gottes getroffen, womit dieser Feldzug von den Göttern nicht gewünscht sei. Sie zogen ab.
Zusammenfassend schätzt Gibbon ein, dass zwischen 260 und 270 das Reich vor dem Auseinanderbrechen stand, es aber von Kaisern zusammengehalten werden konnte, welche nicht auf römischen Luxus, sondern auf ein Leben mit ihren Armeen Wert legten und oft härteste Disziplin einforderten und durchsetzten. Das System, das zum drohenden Zusammenbruch führte, war noch einmal in der Lage, diesen zu verhindern, und als dies gelang, wurde mit Diokletian das System der Militärdespotien beendet.
Was Gibbon so bedeutend macht, ist sein struktureller Überblick. Charaktere von einzelnen Personen prägen zwar sehr wohl die Staatsführung, doch der Zustand des Reichs hängt nicht davon ab, sondern ist strukturell bedingt. Er sucht die Ursachen dahinter. Was aber nicht heißt, dass er Taten wie das Gemetzel an 300.000 Bewohnern von Seleukia 165 n. Chr. oder Einzeltaten wie des Plautinus, der als Prätorianerpräfekt und Thronprätendent vor der Hochzeit seiner Tochter hundert freie Römer kastrieren habe lassen, damit diese bei der Hochzeitsfeier als Eunuchen Diener sein können, ausklammert.
Auch richtet Gibbon seinen Blick über die Grenzen des Reichs und stellt uns anhand römischer Autoren die Lebenswelt der Germanen und Goten vor. Auch wenn manches aus heutiger Sicht nicht mehr stichhaltig oder gar falsch ist, sind dies faszinierende Kapitel.