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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

1.135 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Geschichte, Nachdenken, Weise ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

01.10.2012 um 16:29
@Wolfshaag

Interessant, hätte ich jetzt nicht von Dir gedacht, daß Du sowas kennst. ;)
Habe 2-3 gute Gedichte von Ringelnatz abgespeichert, müßte mal suchen. :)
Aber DANKE!! Schön, daß es dich auch hierher verschlägt, zu etwas ernsteren, nachdenklicheren Sachen. ;)

so, bin mal weg, habe noch einiges zu tun.

lg, Solita


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

01.10.2012 um 16:50
@Solita
Macht ja nichts, ich werde ständig in irgendwelche Schubladen gesteckt. :D

Robin Hood

Sonne im Herzen und Schmerzen im Kopf,
So steht er da, der arme Tropf.

Ihr meinet, das geschehe nicht?
So standet ihr noch nie vor dem Gericht.

Ob er schuldig sei, fragt der Richter,
vor dem anwesenden Prozessgelichter.

„Nein!“ antwortet der Beklagte,
„wie ich Dir schon mehrfach sagte!“

„Den Reichen nehmen, was ich den Armen gab,
ist es, was man mir zu Last legen mag.“

„Geraubt hab ich nur des Ackermanns Kasse,
für die Armen halt und zum Spaße.“

Verboten gewesen sei die Tat,
antwortet Justitzias Diener darauf hart.

Zu stürmen der Banken Sitze,
mit verhülltem Gesicht, Augen frei, durch zwei Schlitze.

„Um Gerechtigkeit ist es mir gegangen“,
antwortet der Beklagte unbefangen.

Recht und Gerechtigkeit seien verschiedene Sachen,
antwortet der Richter, grummelnd, ohne Lachen.

Geschockt sei der Ackermann gewesen,
vom Millionenraub kaum genesen.

Zu sühnen sei drum stattdessen,
Ackermanns Verspätung beim Vorstandsessen.

„Im Namen des Volkes, urteile ich nun,
über des Robins böses Tun.“

So spricht der Richter ohne Erbarmen,
für Strolche nicht, schon gar nicht für die Armen.

„Eingesperrt ohne Sang und Klang,
kannst reuen Du, nun ein Leben lang!“

Doch in der nächsten Woche schon,
war Robin bereits entflohen.

Die Reichen bestohlen, hat Robin weiter,
drum bleibt arm sein auch manchmal heiter!

(Wolfshaag)


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01.10.2012 um 16:53
Amok

Dunkle, schwere Wolken trieben über einen grauen Himmel aus dem Eisregen nieselte.
Müller saß in seinem armseligen sechziger Jahre Sozialbau, der mehr einer Bausünde glich, denn einer menschenwürdigen Unterkunft und schaute aus einem seiner schmutzigen Fenster.
Von dort aus konnte er nur die alte Hauptstrasse sehen, bevor sein Blick an trostlosen Mauern zerbrach. Gedankenverloren schaute Müller zu, wie sich langsam eine dünne Eisschicht auf der Strasse bildete und nippte an seinem Glas Glühwein, das er sich gegen die Kälte in seinem Inneren gekocht hatte.

In einer Zeitung hatte Müller am Morgen gelesen, dass sich die USA nun in einer Depressionsphase befänden. Nicht nur die USA, hatte sich Müller noch gedacht.
Er hatte vor einigen Tagen seinen Arbeitsplatz verloren. Keinen guten Arbeitsplatz, der ihm sonderlich Freude bereitet hätte, aber immerhin einen Arbeitsplatz.
Er solle sich neu bewerben, wenn die Dinge wieder besser liefen, hatten sie ihm gesagt und ihm dann noch freundlich, eine frohe Weihnacht gewünscht.
Müller stellte sich vor, wie er im Supermarkt an der Ecke, mit vollem Einkaufswagen an der Kasse stünde und der Kassiererin mitteilte, er käme zum Bezahlen zurück, wenn die Dinge wieder besser liefen. Er lächelte traurig und nahm seinen Blick von dem grauen Band der Strasse.
Müller schaute auf sein Glas mit der blutroten, dampfenden Flüssigkeit darin.
Depression? Sozialisation? Aggression! Wie Blitze schossen die Gedanken durch seinen Kopf, sodass es ihn fast schmerzte.

Müller stand auf, griff nach einem Stück Papier und schrieb mit Kugelschreiber eine kurze Notiz, die er fein säuberlich auf seinen Küchentisch legte. Er nahm sein Glühweinglas, trank es in einem langen Schluck leer und stellte es auf eine Ecke der Notiz, um diese zu beschweren.
Dann ging Müller zu dem längst schrottreifen Schrank, in dem er einen großen Teil seiner Habseligigkeiten verstaut hatte. Nach kurzem Kramen förderte er einen matt schimmernden Gegenstand zu Tage, den er sofort in seiner Hose verschwinden ließ.
Er zog seinen alten, verschlissenen, grauen Mantel an, ging zur Tür und verschwand im nieselnden Eisregen.

Am folgenden Morgen berichtete die Zeitung, in der Müller auch von der Depression der USA gelesen hatte, dass ein offensichtlich geistesgestörter Mann versucht habe, einen Anschlag auf weihnachtlich-spendenfreudige Politiker zu verüben. Diese hatten auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung gerade demonstrativ erklärt, dass sie sogar bereit seien, ihre Spenden, in diesem schwierigen Jahr, nicht von der Steuer absetzen zu wollen, als der Mann ohne Vorwarnung das Feuer auf die Politprominenz eröffnet habe. Zum jetzigen Zeitpunkt gebe es weder ein Motiv, noch sei bekannt, ob Opfer zu beklagen seien.

Im Zuge der Ermittlungen durchsuchten Polizisten Müllers Wohnung, um eventuell ein Hinweis auf Müllers Motiv zu bekommen, konnten jedoch nichts Aussagekräftiges finden. Ein leeres Glas, dass leicht nach Glühwein roch und einen merkwürdigen Zettel fanden die Beamten auf dem Küchentisch. Sie nahmen Müllers Fingerabdrücke von dem leeren Glas und steckten es zur Beweissicherung in einen durchsichtigen Plastikbeutel. Den Zettel mit der Notiz betrachtete der leitende Staatsanwalt, als bedeutungslose Kritzelei eines Geistesgestörten.
Darauf stand: Ich komme wieder, wenn die Dinge besser laufen!

(Wolfshaag)


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01.10.2012 um 17:13
De Dag, as Enne Michel keen Worden mehr harr

Sa as elkeen Saterdag, siet bold dreeunveertig Johr, fuhren Enne Michel un ehr Fründin Lena Beker tosamen na d`Weekmarkt na Rhauderfehn. Eenlik wohnen se in een lüttje Dorp, dat een beeten offlegen was. Dor gaff dat blots een Dörpskroog un een grood Feld, up de eenmol in t`Johr dat Schützenfest stattfunn. Seeker haren se ok mit dat Auto to een van disse grood Konsumtempel fohren kunnt, de mitlerwiel sülmst in de buteste Ecken van dat platte Land, ut de Grund stampt worden was. Man dat weer nich dat sülfige west. Enne un Lena wassen beid al over 60 Johr old, se wassen alltied mit Rad fohren, bi elkeen Wedder, un se wassen overtügt, dat ehr dat Radfohren fit hull. Se fuhren nich mehr heel so gau, so as in fröher Tieden, aver se kweemen dor an, wor se hen wullen.

Un just, as an elkeen Saterdag in de lesden dreeunveertig Johr, kakelten se flietig over al de Dinge, de in de grood Welt, off in ehr lüttje Dörp passeeren deenen. Dorover, dat de Pastor bi een Hochtiedfier van ehr Naversdochter bannig deep in de Messwien keeken hett, over Dinge, de se vandag inkoopen wullen, un ok over de Wirtschaftskrise. Dorover, off de Priesen för Melk un Korn woll stabil bleeven, un dat de Fro van Buur Georg bi Nacht un Nebel mit een Musiker van de Fanfarenzug dörbrannt was.

Na een lüttjen half Stünn rullden de beiden good geluhnt up de Weekmarkt to. Dat luute Gekakel slog de beid Frolüüd tomood. Handelslüüd de luut ehr friske Eier, Salaten un Biogemüse anbeeden deenen, annern, de de beste Worst van de Welt verkopen un wedder al, de Kees un Melk van glückelke Kohjen unner `t Volk brengen wullen. Offrund wur dat Spill van lüstig snackende Marktbesökers, de oll Bekannten wedder truffen, off Kunden, de sück um een Schiev Brood mehr off minner bi de Kopp haren.

Enne Michel truck ehr blau Koppdook torecht, weil se an d` Mörgen keen Lüst hatt harr, sück dat Hoor to wasken. Lena Beker, heelmol untypisch för se, nohm ehr Koppdook off, um Enne un de Welt ehr neije Frisur mit blond Strappen to präsenteeren. „Wenher hest Du dat denn maken laten?“ stund Enne. Eenlik was Lena een Fro, de alltied dorup bedocht was, keen Cent tovöl uttogeeven. „Tja, faker mol wat Neijes!” gaff se mit een verlegen Grienen torüch. „Ik was vormörgens al bi d`Frisör. Ik hebb mi doch, ik sull ok wat to `n Kampf tegen de Wirtschaftskrise bidragen!”
„Na ja, wenn Du up Dien oll Dagen noch de feine Dame geven wullt... ik hebb nix dortegen,“ meende Enne, alltied noch een beeten verwunnert, aver mit `n Lachen up de Lippen.

De beid Frolüüd nohmen ehr Inkoopskörven van de Raden un slenderten up dat Verkoopsgewimmel to. Se nohmen dar Gemüse in Oogenschien, drückden un fummelten doran. Se probeerten een Stück frisken Hering un se moken ehr Inkooperee. Tomol mook Lena bi een schlachterstand halt, fung an to overleggen un köffde twee Kilo argentinisches Filetsteak, för 18,99 Euro dat Kilo.

Enne keek ehr oll Fründin an, as weer se nich heel klook un seh: „Segg mol, Lena, Du wesst, dat Du just twee Kilo Fleesch för bold 38 Euro köfft hest?!“ „Seeker, ik hebb ja immerhen betahlt“, meende Lena een beeten inschüchtert. „Du hest in Dien heel Leeven noch noit argentinisch Filetsteak köfft“, seh Enne. „Hebb ik dor wat verpasst? Hett man over Nacht Dien un Ottos Rent bannig upstockt?!“

„Ik hebb Di doch al seggt, man mutt wat tegen de Wirtschaftskrise dohn“, seh Lena dorup. „Ik koop vandag even politisch klook in.“
„Mach ja wesen, dat Du politisch klook inköffst, Lena, aver ik frag mi, off dat ok klook is, wenn Du Di un Otto, in disse Tieden an de Bedelstock brengst,“ seh Enne up dat, wat dor gebören de. „Weet Otto eenlik, dat Du besloten hest, al mörgens to drinken?“ seh se fründelk achteran. Lena griende as een sessteinhnjohrig Backfisk. „Nee, aver he was seeker heel Dien Meenung“, se Lena. “Na denn…” hull Enne dat lesde Woord.

Enne un Lena köfften noch een tiedlang wieder in. Dann vull Enne in, dat se noch een neijen Fernsehzeitung kopen wull. De gaff dat aver nich up de Weekenmarkt, dorför aver an een lüttje Kiosk, de just tegenover van de Markt to finden was. „Lena, kumm, ik mutt noch mol even na de Kiosk rover, een neijen Fernsehzeitung kopen“, seh Enne. „Stimmt, dat harr ik ok bold vergeeten“, meende Lena. Mitnanner gungen se over de Straat na de Kiosk. Enne köffde een Fernsehzeitung. Lena wull ok een, aver nich blots dat. Se köffde ok een Modezeitung, een Architekturblattje, dat Wall Street Journal un noch wat anners.

In de Tied, as de Koopmann van de Kiosk dormit togang was, to holen, wat Lena hebben wull, seh Enne ehr Fründin in `t Ohr: „Segg mol, Lena, Du büst doch heelmol oversnappt. Verklor mi endlich, wat mit Di vandag nich up Steh is. Wat Du dor deihst, dat is doch nich normol.“ Man anstatt to antworden köffde Lena noch een Dag-Blattje, nohm ehr Stapel mit de Zeitschriften unner de Arm un drückde Enne dat Dag-Blattje in de Hand. „Lees dat Blattje, dat beantwort Dien Fragen, wenn Du genau henlurst.“

Up de Weg na Huus, leet Enne nix unversöcht, achter dat Geheimnis van ehr Fründin to komen. Se beswor ehr johrteihnte lange Fründskupp, de Solidarität van de Landfrolüüd un wat ehr anners noch in full. Man Lena was nich week to kriegen, in `t Tegendeel, se was so protsk, as een Melkbuur bi een NASA-Pressekonferenz. Un as wenn dat noch nich genug west was, gung Lena van Enne gauer as dat irgendwenher mol vörher passeert was. Dat eenzige, wat se noch seggen de: „Lees de Zeitung. Roop mi an, wenn Du dorup komen büst!“

Een beeten argerlik was Enne na Huus hen gahn, harr hör Inkooperee in de Schappen packt un de Zeitung dörbladert. Se harr al Artikel overflogen. Dor wur over de Wirtschaftskrise schreeven, over de Bildungsnotstand van junge Lüüd, over een Autounfall up de A39, over de Papst un so wieder. Aver nargends stunn wat over Lena Beker. Enne gung an ehr Fenster, wat na de Dörpshauptstraat henkeek un fung an to overleggen, off ehr Fründin wohrhaftig verrückt worden was. Se keek een protzigen BMW mit Hambörger Kennteeken achteran, de unbehulpen in de Infohrt van Lena Bekers Buurnhuus inbog. Een upfallend unupfallend Keerl mit een swaarten Aktenkuffer steeg ut de Wagen un klingelte bi de Bekers.

Enne doch an de Artikel, de se just lest harr, worna de Lotto-Jackpot van 17,5 Millionen Euro ditmol na Norddütskland...

Nee, dat kunn nich wesen. Aver nu full ehr dat as Schuppen ut ehr Hoor. Se leep in Weltrekord-Tied na dat Telefon un bimmelde Störm bi Lena. „Beker“, meldete sück Lena.
„Du...DU...hest wunnen?!“ stammelde Enne. „Ja“, griende Lena dör dat Telefon. „...un Otto...?“ stütterde Enne wieder. „...kann just nett sovöl seggen as Du. Ik hop, Du kummst glieks rover“, freide sück Lena.
„...ik...ik...“ seh Enne un leg de Hörer up. Dann gung se na d` Wohnkamerschapp un goot sück een dübbelten, nee dreefachen Kunjak in. Se was een beeten niedsk, man hauptsächelk freide se sück för Lena. Enne drunk de Kunjak in een Zug ut. Se harr noch dusend Fragen.
Doch dit was de Dag, an de Enne Michel keen Worden mehr harr...

(Wolfshaag in friesisch Platt)
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Hochdeutsche Übersetzung der kleinen Geschichte vom Lande. :D

Der Tag an dem Enne Michel sprachlos war

Wie jeden Samstag, seit fast dreiundvierzig Jahren, fuhren Enne Michel und ihre Freundin Lena Beker gemeinsam zum Wochenmarkt nach Rhauderfehn. Eigentlich wohnten sie in einem Dörfchen, das etwas abseits gelegen war. Dort gab es nur eine Dorfkneipe und ein große Wiese, auf der einmal im Jahr das Schützenfest stattfand. Natürlich hätten sie auch mit dem Auto zu einem dieser riesigen Konsumtempel fahren können, die mittlerweile selbst in den entlegensten Ecken des platten Landes, aus dem Boden gestampft worden waren.
Doch das wäre nicht dasselbe gewesen. Enne und Lena waren beide schon über sechzig Jahre alt, sie waren immer Rad gefahren, bei jedem Wetter und sie waren überzeugt, dass sie das Radfahren fit hielt. Sie fuhren nicht mehr ganz so schnell, wie in früheren Zeiten, aber sie kamen dort an, wo sie hin wollten.

Und genau, wie in an jedem Samstag in den letzten dreiundvierzig Jahren, schwatzten sie munter über all die Dinge, die in der großen Welt, oder ihrem kleinen Dorf passierten.
Darüber, dass der Pfarrer bei der Hochzeitsfeier der Nachbarstochter reichlich tief in den Messwein geschaut hatte, über Dinge die sie heute einkaufen wollten und auch über die Wirtschaftskrise. Darüber, ob die Preise für Milch und Getreide stabil bleiben würden und das die Frau von Bauer Georg, bei Nacht und Nebel mit einem Musiker vom Fanfarenzug durchgebrannt war.

Nach einer knappen halben Stunde rollten die beiden gut gelaunt auf den Wochenmarkt zu. Die typische Geräuschkulisse schlug den beiden Frauen entgegen. Markthändler die lauthals ihre frischen Eier, Salate und Biogemüse anpriesen, andere die, die beste Wurst der Welt verkauften und wieder welche, die Käse und Milch von glücklichen Kühen unters Volk bringen wollten. Abgerundet wurde das Ganze von fröhlich plappernden Marktbesuchern, die alte Bekannte wiedertrafen, oder Kunden, die um eine Scheibe Brot mehr oder weniger feilschten.
Enne Michel zupfte ihr blaues Kopftuch zurecht, da sie am Morgen keine Lust gehabt hatte, sich die Haare zu waschen, während Lena Beker, vollkommen untypisch, ihr Kopftuch abnahm, um Enne und der Welt ihre neue Frisur mit blonden Strähnchen zu präsentieren.
„Wann hast Du das denn machen lassen?“ staunte Enne. Normalerweise war Lena eine Frau, die darauf bedacht war, keinen Cent zuviel auszugeben.
„Tja, öfter mal etwas Neues!“ gab die mit einem kleinen verlegenen Lächeln zurück. „Ich war heute morgen schon beim Friseur. Ich dachte, ich sollte auch etwas zum Kampf gegen die Wirtschaftskrise beitragen!“
„Na ja, wenn Du auf Deine alten Tage noch die feine Dame geben willst... Ich habe nichts dagegen.“ konterte Enne, noch immer etwas verwundert, aber dennoch lächelnd.

Die beiden Frauen nahmen ihre Einkaufskörbe von den Fahrrädern und schlenderten auf das Verkaufsgewimmel zu. Sie prüften Gemüse auf seine Frische, indem sie es drückten und betasteten. Sie probierten ein Stück fangfrischen Hering, kurz sie machten ihre Einkäufe.
Plötzlich machte Lena an einem Metzgereistand halt, überlegte und kaufte zwei Kilo argentinisches Filetsteak, für 18,99 Euro das Kilo.
Enne schaute ihre alte Freundin an, als sei die des Wahnsinns fette Beute und sagte: „Sag mal Lena, Du weißt schon, dass Du gerade zwei Kilo Fleisch für fast 38 Euro gekauft hast?!“
„Sicher, ich habe es ja schließlich bezahlt“ erwiderte Lena etwas verschüchtert.
„Du hast in Deinem ganzen Leben noch nie argentinisches Filetsteak gekauft,“ sagte Enne „habe ich etwas verpasst? Wurden Deine und Ottos Rente über Nacht ins Unermessliche angehoben?!“
„Ich habe Dir doch schon gesagt, man müsse etwas gegen die Wirtschaftskrise tun“ antwortete Lena „Ich kaufe heute eben politisch klug ein.“
„Mag ja sein, dass Du politisch klug einkaufst, Lena, aber ich frage mich, ob es auch persönlich klug ist, wenn Du Dich und Otto, in diesen Zeiten an den Bettelstab bringst.“ kommentierte Enne das Geschehen. „Weiß Otto eigentlich, dass Du beschlossen hast, schon morgens zu trinken?“ setzte sie freundschaftlich nach.
Lena kicherte wie ein sechzehnjähriger Backfisch.
„Nein, aber er wäre sicher ganz Deiner Meinung“ sagte Lena.
„Na dann...“ behielt Enne das letzte Wort.

Enne und Lena setzten ihre Einkaufstour noch einige Zeit fort. Dann fiel Enne ein, dass sie noch eine neue Fernsehzeitschrift kaufen wollte. Die gab es jedoch nicht auf dem Wochenmarkt, dafür aber an dem kleinen Kiosk, der direkt gegenüber vom Markt zu finden war.
„Lena, komm, ich muss noch mal eben zum Kiosk rüber, eine neue Fernsehzeitung kaufen“ sagte Enne.
„Stimmt, dass hätte ich beinah auch vergessen“ meinte Lena. Zusammen gingen sie über die Strasse zu dem Kiosk.
Enne kaufte eine Fernsehzeitschrift. Lena wollte auch eine, aber nicht nur das. Sie kaufte auch eine Modezeitschrift, eine Architekturzeitschrift, das Wall Street Journal und noch einiges mehr.
Während der Kioskbesitzer damit beschäftigt war, das Gewünschte zu holen, raunte Enne ihrer Freundin ins Ohr: „Sag mal Lena, Du bist doch völlig übergeschnappt! Erklär mir endlich, was mit Dir heute nicht in Ordnung ist! Was Du da tust ist doch nicht mehr normal!“
Doch statt zu antworten kaufte Lena noch eine Tageszeitung, nahm ihren Zeitschriftenstapel unter den Arm und drückte Enne die Tageszeitung in die Hand.
„Lies die Zeitung, das beantwortet Deine Fragen, wenn Du genau hinschaust.“

Auf dem Heimweg, ließ Enne nichts unversucht, um hinter das Geheimnis ihrer Freundin zu kommen. Sie beschwor ihre jahrzehntelange Freundschaft, die Solidarität der Landfrauen und was ihr sonst noch einfiel. Doch Lena war nicht zu erweichen, im Gegenteil, sie war so gesprächig, wie ein Milchbauer bei einer NASA-Pressekonferenz. Und als hätte das noch nicht gereicht, verabschiedete sich Lena von Enne schneller, als jemals zuvor. Das Einzige was sie noch sagte war: „Lies die Zeitung! Ruf mich an, wenn Du drauf gekommen bist!“

Leicht verärgert war Enne nach Hause gegangen, hatte ihre Einkäufe verstaut und danach die Zeitung durchgeblättert. Sie hatte alle Artikel überflogen. Da wurde über die Wirtschaftskrise berichtet, über den Bildungsnotstand von Jugendlichen, über einen Autounfall auf der A39, den Papst und so weiter und so fort. Doch nirgendwo stand etwas über Lena Beker. Enne ging zu ihrem Fenster, welches auf die Dorfhauptstrasse hinaus führte und überlegte, ob ihre Freundin eventuell tatsächlich verrückt geworden war. Sie schaute einem protzigen BMW mit Hamburger Kennzeichen nach, der ungeschickt in die Einfahrt von Lena Bekers Bauernhaus einbog. Ein auffällig unauffälliger Herr mit schwarzem Aktenkoffer verließ den Wagen und klingelte bei den Bekers.
Enne dachte an den Artikel, den sie gerade gelesen hatte, wonach der Lotto-Jackpot von 17,5 Millionen Euro diesesmal nach Norddeutschland...
Nein, das konnte es nicht sein! Dennoch fiel es ihr nun, wie Schuppen aus den Haaren.
Sie lief in Weltrekordzeit zum Telefon und klingelte Sturm bei Lena.
„Beker“ meldete sich Lena.
„DU...DU...hast gewonnen?!“ stammelte Enne.
„Ja“ lächelte Lena durchs Telefon.
„...und Otto...? stotterte Enne weiter.
„...kann grad genauso viel sagen wie Du. Ich hoffe Du kommst gleich rüber.“ freute sich Lena.
„...ich...ich...“ sagte Enne und legte den Hörer auf.
Dann ging sie zum Wohnzimmerschrank und goss sich einen doppelten, nein dreifachen Cognac ein. Sie war etwas neidisch, doch hauptsächlich freute sie sich für Lena.
Enne trank den Cognac in einem Zug aus. Sie hatte noch tausend Fragen.
Doch dies war der Tag, an dem Enne Michel sprachlos war.

(Wolfshaag)


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

01.10.2012 um 17:27
kleine Ursachen

Ein Mensch - und das geschieht nicht oft -

bekommt Besuch, ganz unverhofft,

von einem jungen Frauenzimmer,

das grad‘, aus was für Gründen immer -

vielleicht aus ziemlich hintergründigen -

bereit ist, diese Nacht zu sündigen.

Der Mensch müsst‘ nur die Arme breiten,

dann würde sie in diese gleiten.

Der Mensch jedoch den Mut verliert,

denn leider ist er unrasiert.

Ein Mann mit schlecht geschabtem Kinn,

verfehlt der Stunde Glücksgewinn,

und wird er schließlich doch noch zärtlich,

wird er's zu schwach und auch zu bärtlich.

Infolge schwacher Reizentfaltung,

gewinnt die Dame wieder Haltung,

und lässt den Menschen, rauh von Stoppeln,

vergebens seine Müh‘ verdoppeln.

Des Menschen Kinn ist seitdem glatt,

doch findet kein Besuch mehr statt.

Eugen Roth


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

01.10.2012 um 19:30
@Wolfshaag

jetzt hör aber auf, ich steck niemanden in Schubladen.
Du schreibst solche Geschichten??
WOW....jetzt bin ich aber platt. ;) Ich kenne Dich auch nur vom rumblödeln und rumflirten, jetzt haust mich aber um. Und was mich noch mehr umhaute, als ich las daß Du ne Diplom-Arbeit zur Piratenthematik geschrieben hast. ;)

Kompliment! Also, wann immer Du willst, ich freue mich wenn Du weiterhin hier mitschreibst. :)

lg, Solita


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

01.10.2012 um 19:32
wollte doch noch was Ringelnatz posten; hier was Schönes.

An M.

Der du meine Wege mit mir gehst,
Jede Laune meiner Wimper spürst,
Meine Schlechtigkeiten duldest und verstehst —.
Weißt du wohl, wie heiß du oft mich rührst?

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern.
Meine Liebe wird mich überdauern
Und in fremden Kleidern dir begegnen
Und dich segnen.

Lebe, lache gut!
Mache deine Sache gut!

Joachim Ringelnatz, 1883-1934


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01.10.2012 um 19:43
@Solita
Danke für die "Blumen". :)
Ja, mein IQ reicht knapp an den eines Toasts und wenn mir langweilig ist, schreibe ich schon mal. :D
Werde hier sicher noch das eine, oder andere zum Besten geben. :D

Hoffe ich muss dabei aber nicht immer so ernst und weise sein. :D


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01.10.2012 um 19:45
@Wolfshaag
Hoffe ich muss dabei aber nicht immer so ernst und weise sein.

....es sollte immerhin zum NACHDENKEN anregen, egal um was es geht. ;)
Flirten kannst Du woanders. :)

wunderschönen Abend, dem Herrn! :D


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02.10.2012 um 07:09
@Solita
gut gesprochen..........


Jeder Mensch ist nur so glücklich, wie er sich zu sein entschließt.


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

02.10.2012 um 08:32
Zitat von WolfshaagWolfshaag schrieb:Wolfshaag in friesisch Platt
Eene interessante Sprook, de veel Leven in sik bargt... :D @Wolfshaag


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02.10.2012 um 10:46
@Birkenschrei
Dor has man recht.^^


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02.10.2012 um 11:16
Gesegnet sei der,
der nichts erwartet.
Er wird nie enttäuscht werden.


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02.10.2012 um 11:49
@Sakrileg
Deine oft sehr seelenvollen Worte erinnern mich an das Gemälde "Mondaufgang über dem Meer" von Caspar David Friedrich...

Wird Zeit,
dass du wieder träumst,
weil du sonst sehr viel versäumst.
Wird Zeit, dass du wieder lachst
und viel mehr Unsinn machst.
Wird Zeit, dass du wieder lebst
und dich auch mal erhebst.
Es wird Zeit!

- unbekannt -


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02.10.2012 um 11:53
@Birkenschrei
Ich schätze deine Gedichte ebenso sehr.

Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.

Marie von Ebner-Eschenbach


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

02.10.2012 um 11:57
@Sakrileg
Dankeschön :)

Und war es auch ein großer Schmerz,
und wär's vielleicht gar Sünde,
wenn es noch einmal vor mir stünde,
ich täte es nochmal,
mein Herz.

- Theodor Storm -


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

02.10.2012 um 12:00
@Birkenschrei
Bitte gerne. :D


Im Alter bereut man vor allem die Sünden, die man nicht begangen hat.

William Somerset Maugham


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02.10.2012 um 12:06
@Sakrileg
@Birkenschrei
@Missesfee
@Jacy26
@KlausBärbel


habe hier eine sehr schöne, nachdenkliche Geschichte von @Wolfshaag bekommen.
Die selbstgeschriebenen sind oft auch die Schönsten.
Sie ist zwar lang, aber es lohnt sich sie zu lesen, besonders weil sie voll auf unsere heutige Zeit trifft.

Viel Spaß und DANKE, jedem der hier mitmacht.

glg, Solita



Bürgers Freiheit

Langsam verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Trotzdem lagen die Temperaturen noch über zwanzig Grad Celsius. Bürger räkelte sich in dem Gartenstuhl, der in seinem Schrebergarten, auf der kleinen Veranda, vor seiner Holzhütte stand. Die Schrebergartenkolonie klammerte sich an einen Hügel und Bürgers Parzelle befand sich fast ganz oben, am Gipfel. Er konnte von seinem Gartenstuhl aus, nicht nur den Sonnenuntergang sehen, sondern er überblickte auch die ganze Stadt, die malerisch zwischen dem Hügel, mit der Schrebergartenkolonie und einem weiteren Hügel lag. Während Bürger so in seinem Gartenstuhl saß, überlegte er, wie lange er diese kleine Freiheit noch genießen konnte. Denn Bürger hatte nicht viel Geld, noch besaß er sonst etwas, von großem materiellem Wert.
Er hatte unten gelegt. Ein fachmännisch wirkender Angestellter der Bank hatte ihm geraten, dieses Geld in einen Aktienfonds anzulegen. Dies sei eine kluge Altersversicherung, hatte der Mann ihn noch beglückwünscht. Bürger hatte sich lange kaum um sein Aktienpaket gekümmert. Als er vor etwas mehr, als einem Jahr, einen Blick darauf geworfen hatte, war, durch Ertragsrenditen schon weit mehr Geld in Aktien, in seinem Depot, als er tatsächlich eingezahlt hatte.
Damals waren rund fünfunddreißigtausend Euro Aktienkapital in seinem Depot gewesen.
Ungläubig hatte Bürger auf den Ausdruck gestarrt, den der Bankangestellte ihm vor einer Woche hingehalten hatte. Seine fünfunddreißigtausend Euro waren plötzlich auf, nur noch, neuntausend Euro zusammengeschrumpft. Der Bänker hatte entschuldigend die Schultern gezuckt und etwas von Weltwirtschaftskrise gemurmelt, so als könne allein dieses Wort jeden Menschen über sein persönliches Dilemma hinwegtrösten. Bürger hatte schreien und toben wollen, doch ein letzter Rest klaren Verstandes, hatte ihm signalisiert, dass das die Fakten nicht ändern würde.
So war er sprachlos geblieben und war schweigend hinaus auf die Strasse getreten. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, den Rauch tief inhaliert und war, wie ein geprügelter Hund, zu seiner Wohnung geschlichen. Dort angekommen, hatte er sich auf sein Bett fallen lassen und wie ein Schuljunge, in sein Kopfkissen geheult. Irgendwann riss ihn der Drang etwas zu tun aus seiner Resignation. Bürger war in seinen Schrebergarten gefahren und hatte angefangen alle Beete umzugraben. Danach hatte er seine Hütte mit Holzfarbe neu gestrichen, den Rasen ordentlich gemäht und eine schadhafte Stelle im Zaun ausgebessert. Das hatte ihn eine gewisse Zeit lang abgelenkt und ihm geholfen, sich an seine neue Situation zu gewöhnen.
Nun saß Bürger auf seinem Gartenstuhl, alle Arbeiten waren erledigt, doch Bürgers Situation war unverändert. Solange er auch nachdachte, ihm wollte keine Lösung einfallen.
Bürger fragte sich, wie er in Zukunft seine Miete und die Pacht für seine Gartenlaube aufbringen sollte. Dabei war ihm durchaus klar, dass beides kaum gehen würde. Er musste sich früher oder später von seinem Fluchtpunkt, hier in der Laubenkolonie, trennen. All die Jahre hatte Bürger es für unmöglich gehalten, dass es einmal dazu kommen könnte. Er hatte im Fernsehen, in Zeitungen und im Radio gehört und gesehen, dass die Reichen immer reicher wurden, dass Politiker den Kontakt zur Realität verloren. Er hatte es hingenommen, als er plötzlich in seinem Lieblingsrestaurant, nach einem guten Essen, keine Zigarette mehr rauchen durfte. Er hatte nichts gesagt, als die Regierung, die Mehrwertsteuer merklich erhöhte. Er hatte artig die hohe Nachforderung seines Stromversorgers bezahlt und den Kopf Salat ignoriert, der im Supermarkt an der Ecke für knapp zwei Euro zu haben war.
Pünktlich zum ersten Januar prangte gut sichtbar, ein grüner Punkt, auf der Innenseite der Windschutzscheibe seines Autos, genau wie der, auf der fünfzehn Jahre alten Rostlaube, seines Nachbarn. Er hatte auch nicht gelächelt, als ein Fotograf sein Gesicht für seinen neuen Ausweis ablichtete, damit seine bionomischen Daten erfasst werden konnten. Er hatte nicht hinterfragt, warum Soldaten, um einen Schutthaufen am anderen Ende der Welt kämpften und damit offenbar seine persönliche Freiheit verteidigten.
Und so war er mit jedem Unsinn umgegangen, den sich Politiker und Manager ausgedacht hatten. Bürger hatte seine Zigarette nun eben beim Bier in seinem Garten geraucht, machte weniger Licht, heizte etwas weniger und hielt Ausschau nach Schnäppchen im Supermarkt.
Er schaute im Fernsehen zu, wenn Politiker, in maßgeschneiderten Anzügen, in teure Autos stiegen, wenn Manager verkündeten, sie müssten einige tausend Arbeitsplätze abbauen, um die Rendite ihrer Aktionäre nicht zu gefährden. Diese Menschen brachten ihr Kapital lieber ins Ausland, nicht wie er zur Sparkasse. Sie setzten teure Luxusjachten von der Steuer ab, da sie angeblich gezwungen waren orgastische Feste auszurichten, um an Aufträge, für ihre Betriebe, zu kommen. Sie verliehen sich gegenseitig innovative Preise und würdigten untereinander, in langen Reden, ihre herausragende Stellung, in Wirtschaft und Politik.
Bürger hingegen sah das alles mit einem gewissen Staunen, manchmal machte es ihn ärgerlich. Doch was konnte er schon dagegen tun? Nach einiger Zeit, wurden ihm diese Dinge in der Stadt eine winzige Zweieinhalbzimmerwohnung, mit einer ebenso winzigen Küche und einem Bad. Aber bis jetzt war es ihm nie so vorgekommen, als habe er zu wenig Platz, denn er hatte seinen Fluchtpunkt, die kleine Gartenlaube. Dort konnte er seine Freiheit genießen und kommen und gehen, wann immer er wollte.
Doch seit einigen Wochen war diese Freiheit nun bedroht. Bürger hatte vierzig Jahre als Bauarbeiter, bei einer ortsansässigen Baufirma gearbeitet. Er war immer pünktlich und hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Für die Firma war er sogar öfters, in weit entfernten Ländern, auf Montage gewesen, was schließlich seine Ehe zerstört hatte. Doch selbst das hatte nichts an seiner unermüdlichen Arbeitsmoral ändern können. Bürger war achtundfünfzig Jahre alt, es fehlten ihm noch neun Jahre bis zur Pensionierung. Alles hatte so ausgesehen, als könne er diese neun Jahre, auch noch, in seiner Baufirma verbringen. So hatte er zumindest gedacht, bis der Chef vor einigen Wochen verkündet hatte, dass die Firma insolvent sei. Jedoch, hatte der Chef gesagt, bestünde kein Grund zur Panik, denn es gebe bereits einen großen Konzern aus der Baubranche, der die Firma aufkaufen und weiterführen wolle. Bürger war zwar anfangs etwas beunruhigt, hatte sich dann aber gesagt, dass auch der neue Firmenbesitzer, nicht ohne erfahrenes Personal auskommen könne. Wie Bürger nun wusste, war das eine trügerische Hoffnung gewesen. Kaum hatten die Manager des Baukonzerns die Firma übernommen, in der Bürger arbeitete, hatten sie ihn ins Personalbüro gerufen. Ein unheimlich dynamisch wirkender Milchbubi, mit Designeranzug und Universitätsabschluss, hatte ihm mitgeteilt, dass er, Bürger, für die Firma nicht mehr haltbar sei und deshalb einer Rationalisierungsmaßnahme weichen müsse. Maßlos überrascht und geschockt, hatte Bürger kaum einen Ton über die Lippen bringen können, während der Milchbubi ihn, mit einer freundlichen Handbewegung, aus dem Büro geleitet hatte. Bürger hatte sich von niemanden verabschiedet, sondern war zu seinem grauen Spint gewankt, hatte ihn ausgeräumt und war dann schweigend nach Hause gegangen. Dort hatte er sich auf sein Bett gesetzt und stundenlang die gegenüber liegende Wand angestarrt, als könne die erklären, was ihm gerade widerfahren war. Nachdem er schließlich vor Übermüdung in einen unruhigen Schlaf gefallen war, stand er am nächsten Morgen auf und ging zum Arbeitsamt, um sich arbeitslos zu melden. Dort hatte ihm eine ältere Frau, die sich als sein „case manager“ vorstellte, mitgeteilt, dass er Anspruch auf Arbeitslosengeld, für einen gewissen Zeitraum, habe. Nach diesem Zeitraum müsse er entweder, eine neue Arbeitsstelle nachweisen, oder Hartz IV beantragen.
Bürgers Gedanken rotierten immer noch wild in seinem Kopf, als die Dame vom Arbeitsamt ihm beinahe verschwörerisch zuraunte, er solle sich aber mit achtundfünfzig keine allzu großen Hoffnungen mehr machen, einen neuen Arbeitsplatz in seiner Branche zu finden. Das ganze Land sei nun mal in einer Wirtschaftskrise, ach was heißt das ganze Land, die ganze Welt sei von einer Rezession befallen. Auch in dem schlichten Büro des Arbeitsamtes hatte Bürger kaum mehr, als seine persönlichen Daten rausbringen können. Stattdessen war er zur örtlichen Sparkasse gegangen, denn er hatte all die langen Jahre, immer etwas Geld zur Seite immer gleichgültiger. Sollten die da Oben doch machen, was sie wollten. Er hatte seine Arbeit zu erledigen und konnte danach in seinen Garten gehen. Dort war er sein eigener Herr, dort lag seine Freiheit, dort konnte er schalten und walten, wie es ihm gefiel. Zumindest war das bis jetzt so gewesen. Nun hatte man ihm mit einigen Federstrichen und einigen gelangweilten Worten, alles genommen, was seine Leben ausmachte.
Hätte er vielleicht doch einen dieser Wirrköpfe wählen sollen, die seinen Chef, mit ihren Forderungen, in schöner Regelmäßigkeit, zur Weißglut getrieben hatten? Hätte er sich in der Initiative, gegen den Bau einer Umgehungsstrasse, durch ein unberührtes Waldgebiet, engagieren sollen? Hätte er der Gewerkschaft beitreten sollen, statt sich darüber lustig zu machen? Er wusste es nicht und nun war es zu spät, viel zu spät. Bürger seufzte schwer, ließ sich in seinen Gartenstuhl sacken und schloss die Augen. Etwas kam ihm ungewöhnlich vor, als er so, mit geschlossenen Augen, in seinem Gartenstuhl saß. Nur was? Er lauschte eine Weile. Vögel zwitscherten und in einiger Entfernung konnte er das Gebell, eines wütenden Hundes, hören. Sonst hörte Bürger nichts. Er dachte nach. Er hörte nichts, das war das Ungewöhnliche! Dabei war es Freitag Abend, kurz vor zwanzig Uhr. Es war ein warmer Sommertag, normalerweise müsste die Laubenkolonie vor Menschen wimmeln, wie ein Ameisenhaufen.
An jedem anderen Freitag mit diesem Wetter, wurde in der Laubenkolonie gegrillt, gefeiert und gelacht. Man hörte das Kreischen von Kindern, das Lachen von Erwachsenen, hörte das Klirren von Tellern, das Brummen von Rasenmähern und das ausgelassene Geschwätz unzähliger Münder. Doch Bürger hörte nichts von alledem. Verwundert öffnete er die Augen und sah auf die Stadt unter ihm. Er sah Qualm. Dicker schwarzer, öliger Qualm wallte aus einer der Strassen in der Innenstadt. War etwa ein Feuer ausgebrochen und all die Menschen, die sonst die Kleingartenanlage bevölkerten, standen nun dort unten als Schaulustige? Während Bürger noch rätselte, stiegen auch aus anderen Stadtteilen Rauchwolken in die warme Sommerluft.
Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Vielleicht, dachte er, würden die Hauptnachrichten um zwanzig Uhr Aufklärung bringen. Bürger entschloss sich, den kleinen Fernseher in seiner Holzhütte anzustellen. Und tatsächlich, kaum hatte er den Bildschirm eingeschaltet, verkündete der Nachrichtensprecher, dass es am Abend, in nahezu allen großen Städten, von Kiel bis München, von Köln bis Berlin, zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei. Millionen von Bundesbürgern befänden sich auf den Strassen, um gegen die um sich greifende Verarmung, großer Bevölkerungsschichten, zu protestieren. Polizei und Rettungskräfte seien im Dauereinsatz und größtenteils überfordert. Die Regierung tage in einer Krisensitzung in Berlin, während einige Vorstands- und Aufsichtsratmitglieder großer Konzerne, aus Angst vor Übergriffen, bereits ins benachbarte Ausland geflohen seien. Experten sahen die Gründe für die Ausschreitungen, in den Massenentlassungen der vergangenen Wochen, in der Weltwirtschaftskrise, in den steigenden Preisen aufgrund der Inflation, oder schlicht in der bisher sorgfältig ignorierten Spaltung der Gesellschaft, in reich und arm.
Bürger dachte nach, er war in den vergangenen Tagen so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er nichts hatte kommen sehen. Dann überzog ein diabolisches Grinsen sein Gesicht. Sollten die Leute doch alles kurz und klein schlagen. Irgendwann musste das schließlich wieder aufgebaut werden, dann waren erfahrene Bauarbeiter, wie er, wahrscheinlich Mangelware. Bis dahin, beschloss er, wollte er sich hier in seiner Gartenlaube verkriechen. Doch dazu benötigte er einige Vorräte und Alltagsutensilien aus seiner Wohnung. Deshalb entschloss er sich, mit seinem Auto hinunter in die Stadt zu fahren, die benötigten Dinge in sein Auto zu packen, um dann wieder zu seiner Gartenlaube zurück zu kehren.
Kurz vor dem Ortseingang des Stadtteils, indem sich Bürgers Wohnung befand, wurde er von einer Straßensperre der Polizei aufgehalten. Ein sichtlich genervter Polizist erklärte Bürger, dass alle Zufahrtsstrassen in die Stadt, aufgrund der Vorkommnisse, bis auf weiteres für den Verkehr gesperrt seien. Wenn er also zu seiner Wohnung wolle, müsse er seinen Wagen am Straßenrand abstellen und zu Fuß zu seiner Wohnung gehen. Bürger war zwar nicht gerade begeistert, stellte aber widerspruchslos seinen Wagen am Straßenrand ab, da seine Wohnung nicht mehr sonderlich weit entfernt war. Zu Fuß ging er ein Stückchen die leere Straße hinunter. Er konnte niemanden sehen, allerdings hörte er ganz in der Nähe Sprechchöre aus tausenden Kehlen. Bürger bog um eine Ecke in die Straße, in der sich seine Behausung befand. Plötzlich war er mit einer großen Menschenmasse konfrontiert. Er sah ältere Damen, die drohend ihre Stöcke schwenkten, den sonst so ausgeglichenen und fröhlichen Bäcker von nebenan, junge und alte Männer, manche deutsch, andere unübersehbar mit ausländischen Vorfahren, manche kannte er von irgendwo her, andere nicht. Alle brüllten gemeinsam wütende Sprechchöre. Überhaupt konnte Bürger die Aggression, der auf ihn zuwalzenden Menge, förmlich spüren. Er sah wütende Gesichter und er konnte Hass und Verachtung in den Augen lesen. Trotzdem verspürte Bürger keine Angst. Er wusste das die Menge ihm nichts tun würde. Also tauchte er ein in die tobende Menge. Bürger hatte sich an einen Jägerzaun gelehnt und wollte abwarten, bis die Menge an ihm vorbei gezogen war. Doch plötzlich schossen ihm die Bilder seiner eigenen Sprachlosigkeit, wie Geschosse, durch den Kopf. Die Sprachlosigkeit im Personalbüro, die Sprachlosigkeit im Arbeitsamt und die Sprachlosigkeit in der Sparkasse. Er wollte nicht mehr sprachlos sein. Seine Sprachlosigkeit verwandelte sich, in Bruchteilen von Sekunden, in Wut. Bürger riss eine der Holzlatten, aus dem Jägerzaun, an dem er gelehnt hatte. Ehe er sich versah, strömte er mit der Masse und brüllte wütende Sprechgesänge. Dann ließ er die Holzlatte in die Windschutzscheibe eines geparkten Mercedes krachen, Glass splitterte in den Innenraum. Ein anderer Mann zertrümmerte mit einem Hammer die Heckscheibe des Fahrzeuges und schüttete kurz darauf Benzin aus einem Kanister ins Wageninnere. Ein Streichholz flammte auf und mit einer gewaltigen Verpuffung, entzündete sich das Benzin und der Mercedes stand lichterloh in Flammen. Dicker, öliger Qualm stieg in den Sommerhimmel, während nachfolgende Menschen das brennende Auto begeistert bejubelten. Bürger hatte längst jedes Bewusstsein für Recht und Unrecht verloren, genau wie das Gefühl für Verhältnismäßigkeiten. Das alles war ihm egal, dieses Mal war er nicht länger sprachlos, er war nicht mehr hilflos. Dieses Mal war er ein Teil des gewaltigen Sturmes, der die alte Ordnung hinweg fegen würde. Er war bereit für sein Recht, für seine Freiheit zu kämpfen, auch wenn seine Freiheit nur eine kleine Gartenlaube war...


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

02.10.2012 um 12:23
@Solita
Wenn du sie empfiehlst, wird es ein Vergnügen sein, sie zu lesen :)

Später mit einem Kaffee, werde ich sie auf mich wirken lassen - Dankeschön, Solita :)


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Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken

02.10.2012 um 12:27
@Birkenschrei

Danke für dein Vertrauen. :)
Manchmal schätzt man jemanden falsch ein, daß habe ich bei @Wolfshaag getan.
Und dann ist man umso überraschter wenn man sieht, daß dieser Mensch auch zwei Seiten hat; ne verrückte, lustige und ne andere; eine nachdenkliche, eine Seite wo man merkt, daß hier ein Mensch schreibt der sich über das Leben und alles was dazugehört Gedanken macht. (was könnte sein, wie könnte es kommen).

Genieß deinen Kaffee, ich weiß Du wirst die Geschichte und die Botschaft die in dieser Geschichte steckt verstehen. :)

glg, Solita


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