@Sakrileg @Birkenschrei @Missesfee @Jacy26 @KlausBärbel habe hier eine sehr schöne, nachdenkliche Geschichte von
@Wolfshaag bekommen.
Die selbstgeschriebenen sind oft auch die Schönsten.
Sie ist zwar lang, aber es lohnt sich sie zu lesen, besonders weil sie voll auf unsere heutige Zeit trifft.
Viel Spaß und DANKE, jedem der hier mitmacht.
glg, Solita
Bürgers Freiheit
Langsam verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Trotzdem lagen die Temperaturen noch über zwanzig Grad Celsius. Bürger räkelte sich in dem Gartenstuhl, der in seinem Schrebergarten, auf der kleinen Veranda, vor seiner Holzhütte stand. Die Schrebergartenkolonie klammerte sich an einen Hügel und Bürgers Parzelle befand sich fast ganz oben, am Gipfel. Er konnte von seinem Gartenstuhl aus, nicht nur den Sonnenuntergang sehen, sondern er überblickte auch die ganze Stadt, die malerisch zwischen dem Hügel, mit der Schrebergartenkolonie und einem weiteren Hügel lag. Während Bürger so in seinem Gartenstuhl saß, überlegte er, wie lange er diese kleine Freiheit noch genießen konnte. Denn Bürger hatte nicht viel Geld, noch besaß er sonst etwas, von großem materiellem Wert.
Er hatte unten gelegt. Ein fachmännisch wirkender Angestellter der Bank hatte ihm geraten, dieses Geld in einen Aktienfonds anzulegen. Dies sei eine kluge Altersversicherung, hatte der Mann ihn noch beglückwünscht. Bürger hatte sich lange kaum um sein Aktienpaket gekümmert. Als er vor etwas mehr, als einem Jahr, einen Blick darauf geworfen hatte, war, durch Ertragsrenditen schon weit mehr Geld in Aktien, in seinem Depot, als er tatsächlich eingezahlt hatte.
Damals waren rund fünfunddreißigtausend Euro Aktienkapital in seinem Depot gewesen.
Ungläubig hatte Bürger auf den Ausdruck gestarrt, den der Bankangestellte ihm vor einer Woche hingehalten hatte. Seine fünfunddreißigtausend Euro waren plötzlich auf, nur noch, neuntausend Euro zusammengeschrumpft. Der Bänker hatte entschuldigend die Schultern gezuckt und etwas von Weltwirtschaftskrise gemurmelt, so als könne allein dieses Wort jeden Menschen über sein persönliches Dilemma hinwegtrösten. Bürger hatte schreien und toben wollen, doch ein letzter Rest klaren Verstandes, hatte ihm signalisiert, dass das die Fakten nicht ändern würde.
So war er sprachlos geblieben und war schweigend hinaus auf die Strasse getreten. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, den Rauch tief inhaliert und war, wie ein geprügelter Hund, zu seiner Wohnung geschlichen. Dort angekommen, hatte er sich auf sein Bett fallen lassen und wie ein Schuljunge, in sein Kopfkissen geheult. Irgendwann riss ihn der Drang etwas zu tun aus seiner Resignation. Bürger war in seinen Schrebergarten gefahren und hatte angefangen alle Beete umzugraben. Danach hatte er seine Hütte mit Holzfarbe neu gestrichen, den Rasen ordentlich gemäht und eine schadhafte Stelle im Zaun ausgebessert. Das hatte ihn eine gewisse Zeit lang abgelenkt und ihm geholfen, sich an seine neue Situation zu gewöhnen.
Nun saß Bürger auf seinem Gartenstuhl, alle Arbeiten waren erledigt, doch Bürgers Situation war unverändert. Solange er auch nachdachte, ihm wollte keine Lösung einfallen.
Bürger fragte sich, wie er in Zukunft seine Miete und die Pacht für seine Gartenlaube aufbringen sollte. Dabei war ihm durchaus klar, dass beides kaum gehen würde. Er musste sich früher oder später von seinem Fluchtpunkt, hier in der Laubenkolonie, trennen. All die Jahre hatte Bürger es für unmöglich gehalten, dass es einmal dazu kommen könnte. Er hatte im Fernsehen, in Zeitungen und im Radio gehört und gesehen, dass die Reichen immer reicher wurden, dass Politiker den Kontakt zur Realität verloren. Er hatte es hingenommen, als er plötzlich in seinem Lieblingsrestaurant, nach einem guten Essen, keine Zigarette mehr rauchen durfte. Er hatte nichts gesagt, als die Regierung, die Mehrwertsteuer merklich erhöhte. Er hatte artig die hohe Nachforderung seines Stromversorgers bezahlt und den Kopf Salat ignoriert, der im Supermarkt an der Ecke für knapp zwei Euro zu haben war.
Pünktlich zum ersten Januar prangte gut sichtbar, ein grüner Punkt, auf der Innenseite der Windschutzscheibe seines Autos, genau wie der, auf der fünfzehn Jahre alten Rostlaube, seines Nachbarn. Er hatte auch nicht gelächelt, als ein Fotograf sein Gesicht für seinen neuen Ausweis ablichtete, damit seine bionomischen Daten erfasst werden konnten. Er hatte nicht hinterfragt, warum Soldaten, um einen Schutthaufen am anderen Ende der Welt kämpften und damit offenbar seine persönliche Freiheit verteidigten.
Und so war er mit jedem Unsinn umgegangen, den sich Politiker und Manager ausgedacht hatten. Bürger hatte seine Zigarette nun eben beim Bier in seinem Garten geraucht, machte weniger Licht, heizte etwas weniger und hielt Ausschau nach Schnäppchen im Supermarkt.
Er schaute im Fernsehen zu, wenn Politiker, in maßgeschneiderten Anzügen, in teure Autos stiegen, wenn Manager verkündeten, sie müssten einige tausend Arbeitsplätze abbauen, um die Rendite ihrer Aktionäre nicht zu gefährden. Diese Menschen brachten ihr Kapital lieber ins Ausland, nicht wie er zur Sparkasse. Sie setzten teure Luxusjachten von der Steuer ab, da sie angeblich gezwungen waren orgastische Feste auszurichten, um an Aufträge, für ihre Betriebe, zu kommen. Sie verliehen sich gegenseitig innovative Preise und würdigten untereinander, in langen Reden, ihre herausragende Stellung, in Wirtschaft und Politik.
Bürger hingegen sah das alles mit einem gewissen Staunen, manchmal machte es ihn ärgerlich. Doch was konnte er schon dagegen tun? Nach einiger Zeit, wurden ihm diese Dinge in der Stadt eine winzige Zweieinhalbzimmerwohnung, mit einer ebenso winzigen Küche und einem Bad. Aber bis jetzt war es ihm nie so vorgekommen, als habe er zu wenig Platz, denn er hatte seinen Fluchtpunkt, die kleine Gartenlaube. Dort konnte er seine Freiheit genießen und kommen und gehen, wann immer er wollte.
Doch seit einigen Wochen war diese Freiheit nun bedroht. Bürger hatte vierzig Jahre als Bauarbeiter, bei einer ortsansässigen Baufirma gearbeitet. Er war immer pünktlich und hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Für die Firma war er sogar öfters, in weit entfernten Ländern, auf Montage gewesen, was schließlich seine Ehe zerstört hatte. Doch selbst das hatte nichts an seiner unermüdlichen Arbeitsmoral ändern können. Bürger war achtundfünfzig Jahre alt, es fehlten ihm noch neun Jahre bis zur Pensionierung. Alles hatte so ausgesehen, als könne er diese neun Jahre, auch noch, in seiner Baufirma verbringen. So hatte er zumindest gedacht, bis der Chef vor einigen Wochen verkündet hatte, dass die Firma insolvent sei. Jedoch, hatte der Chef gesagt, bestünde kein Grund zur Panik, denn es gebe bereits einen großen Konzern aus der Baubranche, der die Firma aufkaufen und weiterführen wolle. Bürger war zwar anfangs etwas beunruhigt, hatte sich dann aber gesagt, dass auch der neue Firmenbesitzer, nicht ohne erfahrenes Personal auskommen könne. Wie Bürger nun wusste, war das eine trügerische Hoffnung gewesen. Kaum hatten die Manager des Baukonzerns die Firma übernommen, in der Bürger arbeitete, hatten sie ihn ins Personalbüro gerufen. Ein unheimlich dynamisch wirkender Milchbubi, mit Designeranzug und Universitätsabschluss, hatte ihm mitgeteilt, dass er, Bürger, für die Firma nicht mehr haltbar sei und deshalb einer Rationalisierungsmaßnahme weichen müsse. Maßlos überrascht und geschockt, hatte Bürger kaum einen Ton über die Lippen bringen können, während der Milchbubi ihn, mit einer freundlichen Handbewegung, aus dem Büro geleitet hatte. Bürger hatte sich von niemanden verabschiedet, sondern war zu seinem grauen Spint gewankt, hatte ihn ausgeräumt und war dann schweigend nach Hause gegangen. Dort hatte er sich auf sein Bett gesetzt und stundenlang die gegenüber liegende Wand angestarrt, als könne die erklären, was ihm gerade widerfahren war. Nachdem er schließlich vor Übermüdung in einen unruhigen Schlaf gefallen war, stand er am nächsten Morgen auf und ging zum Arbeitsamt, um sich arbeitslos zu melden. Dort hatte ihm eine ältere Frau, die sich als sein „case manager“ vorstellte, mitgeteilt, dass er Anspruch auf Arbeitslosengeld, für einen gewissen Zeitraum, habe. Nach diesem Zeitraum müsse er entweder, eine neue Arbeitsstelle nachweisen, oder Hartz IV beantragen.
Bürgers Gedanken rotierten immer noch wild in seinem Kopf, als die Dame vom Arbeitsamt ihm beinahe verschwörerisch zuraunte, er solle sich aber mit achtundfünfzig keine allzu großen Hoffnungen mehr machen, einen neuen Arbeitsplatz in seiner Branche zu finden. Das ganze Land sei nun mal in einer Wirtschaftskrise, ach was heißt das ganze Land, die ganze Welt sei von einer Rezession befallen. Auch in dem schlichten Büro des Arbeitsamtes hatte Bürger kaum mehr, als seine persönlichen Daten rausbringen können. Stattdessen war er zur örtlichen Sparkasse gegangen, denn er hatte all die langen Jahre, immer etwas Geld zur Seite immer gleichgültiger. Sollten die da Oben doch machen, was sie wollten. Er hatte seine Arbeit zu erledigen und konnte danach in seinen Garten gehen. Dort war er sein eigener Herr, dort lag seine Freiheit, dort konnte er schalten und walten, wie es ihm gefiel. Zumindest war das bis jetzt so gewesen. Nun hatte man ihm mit einigen Federstrichen und einigen gelangweilten Worten, alles genommen, was seine Leben ausmachte.
Hätte er vielleicht doch einen dieser Wirrköpfe wählen sollen, die seinen Chef, mit ihren Forderungen, in schöner Regelmäßigkeit, zur Weißglut getrieben hatten? Hätte er sich in der Initiative, gegen den Bau einer Umgehungsstrasse, durch ein unberührtes Waldgebiet, engagieren sollen? Hätte er der Gewerkschaft beitreten sollen, statt sich darüber lustig zu machen? Er wusste es nicht und nun war es zu spät, viel zu spät. Bürger seufzte schwer, ließ sich in seinen Gartenstuhl sacken und schloss die Augen. Etwas kam ihm ungewöhnlich vor, als er so, mit geschlossenen Augen, in seinem Gartenstuhl saß. Nur was? Er lauschte eine Weile. Vögel zwitscherten und in einiger Entfernung konnte er das Gebell, eines wütenden Hundes, hören. Sonst hörte Bürger nichts. Er dachte nach. Er hörte nichts, das war das Ungewöhnliche! Dabei war es Freitag Abend, kurz vor zwanzig Uhr. Es war ein warmer Sommertag, normalerweise müsste die Laubenkolonie vor Menschen wimmeln, wie ein Ameisenhaufen.
An jedem anderen Freitag mit diesem Wetter, wurde in der Laubenkolonie gegrillt, gefeiert und gelacht. Man hörte das Kreischen von Kindern, das Lachen von Erwachsenen, hörte das Klirren von Tellern, das Brummen von Rasenmähern und das ausgelassene Geschwätz unzähliger Münder. Doch Bürger hörte nichts von alledem. Verwundert öffnete er die Augen und sah auf die Stadt unter ihm. Er sah Qualm. Dicker schwarzer, öliger Qualm wallte aus einer der Strassen in der Innenstadt. War etwa ein Feuer ausgebrochen und all die Menschen, die sonst die Kleingartenanlage bevölkerten, standen nun dort unten als Schaulustige? Während Bürger noch rätselte, stiegen auch aus anderen Stadtteilen Rauchwolken in die warme Sommerluft.
Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Vielleicht, dachte er, würden die Hauptnachrichten um zwanzig Uhr Aufklärung bringen. Bürger entschloss sich, den kleinen Fernseher in seiner Holzhütte anzustellen. Und tatsächlich, kaum hatte er den Bildschirm eingeschaltet, verkündete der Nachrichtensprecher, dass es am Abend, in nahezu allen großen Städten, von Kiel bis München, von Köln bis Berlin, zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei. Millionen von Bundesbürgern befänden sich auf den Strassen, um gegen die um sich greifende Verarmung, großer Bevölkerungsschichten, zu protestieren. Polizei und Rettungskräfte seien im Dauereinsatz und größtenteils überfordert. Die Regierung tage in einer Krisensitzung in Berlin, während einige Vorstands- und Aufsichtsratmitglieder großer Konzerne, aus Angst vor Übergriffen, bereits ins benachbarte Ausland geflohen seien. Experten sahen die Gründe für die Ausschreitungen, in den Massenentlassungen der vergangenen Wochen, in der Weltwirtschaftskrise, in den steigenden Preisen aufgrund der Inflation, oder schlicht in der bisher sorgfältig ignorierten Spaltung der Gesellschaft, in reich und arm.
Bürger dachte nach, er war in den vergangenen Tagen so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er nichts hatte kommen sehen. Dann überzog ein diabolisches Grinsen sein Gesicht. Sollten die Leute doch alles kurz und klein schlagen. Irgendwann musste das schließlich wieder aufgebaut werden, dann waren erfahrene Bauarbeiter, wie er, wahrscheinlich Mangelware. Bis dahin, beschloss er, wollte er sich hier in seiner Gartenlaube verkriechen. Doch dazu benötigte er einige Vorräte und Alltagsutensilien aus seiner Wohnung. Deshalb entschloss er sich, mit seinem Auto hinunter in die Stadt zu fahren, die benötigten Dinge in sein Auto zu packen, um dann wieder zu seiner Gartenlaube zurück zu kehren.
Kurz vor dem Ortseingang des Stadtteils, indem sich Bürgers Wohnung befand, wurde er von einer Straßensperre der Polizei aufgehalten. Ein sichtlich genervter Polizist erklärte Bürger, dass alle Zufahrtsstrassen in die Stadt, aufgrund der Vorkommnisse, bis auf weiteres für den Verkehr gesperrt seien. Wenn er also zu seiner Wohnung wolle, müsse er seinen Wagen am Straßenrand abstellen und zu Fuß zu seiner Wohnung gehen. Bürger war zwar nicht gerade begeistert, stellte aber widerspruchslos seinen Wagen am Straßenrand ab, da seine Wohnung nicht mehr sonderlich weit entfernt war. Zu Fuß ging er ein Stückchen die leere Straße hinunter. Er konnte niemanden sehen, allerdings hörte er ganz in der Nähe Sprechchöre aus tausenden Kehlen. Bürger bog um eine Ecke in die Straße, in der sich seine Behausung befand. Plötzlich war er mit einer großen Menschenmasse konfrontiert. Er sah ältere Damen, die drohend ihre Stöcke schwenkten, den sonst so ausgeglichenen und fröhlichen Bäcker von nebenan, junge und alte Männer, manche deutsch, andere unübersehbar mit ausländischen Vorfahren, manche kannte er von irgendwo her, andere nicht. Alle brüllten gemeinsam wütende Sprechchöre. Überhaupt konnte Bürger die Aggression, der auf ihn zuwalzenden Menge, förmlich spüren. Er sah wütende Gesichter und er konnte Hass und Verachtung in den Augen lesen. Trotzdem verspürte Bürger keine Angst. Er wusste das die Menge ihm nichts tun würde. Also tauchte er ein in die tobende Menge. Bürger hatte sich an einen Jägerzaun gelehnt und wollte abwarten, bis die Menge an ihm vorbei gezogen war. Doch plötzlich schossen ihm die Bilder seiner eigenen Sprachlosigkeit, wie Geschosse, durch den Kopf. Die Sprachlosigkeit im Personalbüro, die Sprachlosigkeit im Arbeitsamt und die Sprachlosigkeit in der Sparkasse. Er wollte nicht mehr sprachlos sein. Seine Sprachlosigkeit verwandelte sich, in Bruchteilen von Sekunden, in Wut. Bürger riss eine der Holzlatten, aus dem Jägerzaun, an dem er gelehnt hatte. Ehe er sich versah, strömte er mit der Masse und brüllte wütende Sprechgesänge. Dann ließ er die Holzlatte in die Windschutzscheibe eines geparkten Mercedes krachen, Glass splitterte in den Innenraum. Ein anderer Mann zertrümmerte mit einem Hammer die Heckscheibe des Fahrzeuges und schüttete kurz darauf Benzin aus einem Kanister ins Wageninnere. Ein Streichholz flammte auf und mit einer gewaltigen Verpuffung, entzündete sich das Benzin und der Mercedes stand lichterloh in Flammen. Dicker, öliger Qualm stieg in den Sommerhimmel, während nachfolgende Menschen das brennende Auto begeistert bejubelten. Bürger hatte längst jedes Bewusstsein für Recht und Unrecht verloren, genau wie das Gefühl für Verhältnismäßigkeiten. Das alles war ihm egal, dieses Mal war er nicht länger sprachlos, er war nicht mehr hilflos. Dieses Mal war er ein Teil des gewaltigen Sturmes, der die alte Ordnung hinweg fegen würde. Er war bereit für sein Recht, für seine Freiheit zu kämpfen, auch wenn seine Freiheit nur eine kleine Gartenlaube war...