Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken
23.12.2011 um 17:06
Die verlorene Weihnachtsgeschichte
Es gab einmal einen Engel, der hatte eigentlich seinen festen Platz bei den
himmlischen Heerscharen und hatte bis jetzt auch noch an nichts anderes gedacht, als
zur rechten Zeit seine Harfe anzuschlagen und seinen weißen Arbeitsanzug sauber zu
halten. Das ging schon seit vielen tausend Jahren so und Jonny, so hieß er, hätte
sich nicht träumen lassen, dass sich daran noch mal etwas ändern würde. Träumen war
übrigens auch nicht seine Sache, war er selber doch nicht weniger als ein Traum.
Aber es kam doch anders. Der Herrgott, den er immer sehr gerne mochte, weil er
immer so schön gütig war und sich noch nie beschwert hatte, wenn er mal einen
falschen Ton auf seiner Harfe angeschlagen hatte, hatte nämlich einen himmlischen
Plan gefasst. Und zwar hatte er sich entschlossen, dass es an der Zeit wäre, den
Menschen ein Zeichen zu geben, dass es den Herrgott noch gäbe.
Dazu schien es Gott auch höchste Zeit zu sein, denn die Menschen waren gerade
eifrig dabei, immer mehr von dem kaputt zu machen, was er doch mal mit so viel Mühe
geschaffen hatte. Gott wurde angst und bange, wenn er nach unten blickte. Gerade
neulich hatte ihn wieder ein furchtbarer Knall aus dem Schlaf gerissen und es hatte
bis zu ihm herauf geblitzt. Den Engeln hatte es fast den Heiligenschein weggeblasen.
Gott rief also den Jonny zu sich und sprach sehr lange und ernsthaft mit ihm über
seine Sorgen. Schon einmal hätte er versucht, den Menschen etwas Klarheit zu
schenken, damit sie nicht mehr soviel kaputt machen müssten. Damals hätten sie da
unten schon die gleichen Probleme gehabt: Die einen waren reich und die anderen
versklavt und glücklich war niemand.
Damals war auch ein Bote auf die Erde geschickt worden, erzählte Herrgott. Aber die
Mission war nicht wunschgemäß verlaufen: Zuerst war der menschliche Körper des
Boten ermordet worden und dann hatten die Menschen noch eine fürchterlich
sentimentale Geschichte aus seinem Leben gemacht. Eine Geschichte, die sich die
Menschen zwar immer wieder zur Belebung des Weihnachtsfestes anhörten aber
überhaupt nicht mehr zuhörten. Und daher kam die Liebe, die in der Geschichte
steckte, überhaupt nicht mehr hervor und die Welt wurde kälter und kälter.
Darum hatte sich Gott also nun entschlossen, einen neuen Versuch zu starten, bevor
sich die Menschen vor lauter Unglück alle gegenseitig umgebracht hatten.
Also meinte Gott: "Pass auf Jonny, du nimmst dir jetzt deine Harfe, ziehst deinen
leuchtenden Arbeitsanzug an und dann gehst du runter auf die Erde. Dort musst du dir
dann jemanden suchen, der oder die diese Weihnachtsgeschichte wirklich und ernsthaft
verstanden hat. Den oder die musst du dann bitten und ermutigen und ihm oder ihr die
Kraft geben, sie allen anderen Menschen zu erzählen. Während dieser Erzählungen
musst du dann immer auf deiner himmlischen Harfe spielen, damit sie das Herz der
Menschen aufschließt. Alles was in der Weihnachtsgeschichte erzählt wird, wird dann
direkt in das Herz der Menschen dringen und dann ist die Welt bestimmt gerettet."
So einfach war das also. Jonny war begeistert. Da Heiligabend nicht mehr fern war,
machte er sich auch gleich auf den Weg zu den Menschen. Er überlegte, welche
Menschen die Weihnachtsgeschichte wohl am dringendsten nötig hätten. Nachdem
er einige Zeit auf die Erde heruntergeschaut hatte, kam er auf die sogenannten
zivilisierten Menschen in diesen sogenannten reichen Ländern.
Es war aber gar nicht einfach in diesen Ländern einen Menschen zu finden, der als
Erzähler oder Erzählern in Frage käme.
In einer Einkaufsstraße fand Jonny einen Mann mit einem gemütlich aussehenden Bart,
einer Zipfelmütze und mit Kindern um ihn herumstehend, der erzählte
Weihnachtsmärchen. "Das muss er sein," dachte Jonny und schwebte zu ihm herunter.
Aber um so näher er kam um so verwirrter wurde er: die Kinder hörten ja gar nicht
zu! Woran lag das nur? Und dann merkte er, dass der Mann in ein Mikrophon sprach so dass die Kinder gar nicht seine wirkliche Stimme hörten sondern nur ein hässliches
Gekrächze. Und der Bart war nicht echt, die Mütze war aus Pappe und als er dann noch in die Gedanken des Mannes schaute, sah er dort nur seine nächste
Gehaltsabrechnung. Die Geschichte, die er erzählte, interessierte ihn überhaupt
nicht, obwohl sie wirklich sehr schön war. Außerdem war er noch von so hellen Lampen angeleuchtet, dass er seine Zuhörerschaft gar nicht anschauen konnte.
Das war es also nicht. Schnell schwebte Jonny weiter. "Sind die Menschen etwa alle
so?" fragte er sich verzweifelt. Da kam er an einer Kirche vorbei, die war zu Ehren
Gottes aufgebaut worden, erinnerte er sich. Das musste also eine Stelle sein, wo
die Menschen noch von Gott und seiner Liebe wussten. Schnell schwebte Jonny
herunter. Tatsächlich, der Oberpriester erzählte gerade die Weihnachtsgeschichte.
Aber was war das? Die wenigen Zuhörer waren ja gar nicht von der Liebe der
Geschichte erfüllt!
Wäre das der Fall gewesen hätten sie sich doch umarmen müssen, zumindest ab und zu
einmal anlächeln. Aber nichts von alledem. Jonny spürte auch den Grund. Der Pastor
glaubte und fühlte selbst nicht, was er erzählte. Er hatte die Geschichte jahrelang
studiert, zerpflückt, analysiert, hinterfragt, so dass von der Wärme, den feinen
unberührbaren Zusammenhängen nichts mehr übrig war. Deshalb konnte er die
Geschichten auch nicht mehr erzählen. Er erzählte den Menschen daher Dinge aus ihrer
Welt, einer Welt, die sie kannten, deren Einsamkeit sie kannten und in der sie es
dem Pastor natürlich auch nicht glaubten, wenn er von Gemeinsamkeit und
Nächstenliebe sprach.
Niedergeschlagen verließ Jonny die Kirche. Sollte es auf dieser Welt etwa niemanden
mehr geben, der die Weihnachtsgeschichte wirklich erzählen konnte? Er schwebte
weiter, vorbei an den hektischen, geschenkehortenden Menschen, den stinkenden
Autos und dem Lärm. Solange, bis es stiller wurde, bis die Menschen weniger und
stiller wurden, bis dahin, wo die Stadt den Schnee nicht mehr zu einem endlosen
grauen Matsch einschmolz und noch weiter.
Und Jonny fand ein kleines Dorf, im Norden eine Kirche, in der Mitte ein Haus,
darin ein warmes Zimmer mit einem Ofen und daneben ein Mädchen hinter einem
Spinnrad. Es spann Wolle und dachte dabei an die Schafe, die die Wolle für die
Menschen hergaben und an die Hirten, die dort draußen in der Kälte auf die Schafe
aufpassten. Und das Mädchen mochte die Schafe und die Hirten und überhaupt die
Menschen und ganz besonders die Kinder. Es spürte deshalb, was die unschuldige Liebe eines Kindes der Welt der Erwachsenen geben konnte und dass manche der Hirten dort draußen in der Kälte sehr viel mehr Wärme übrig hatten, als dieser Landpfleger in seinem warmen Palast.
Und was das Wichtigste für Jonny war, das Mädchen kannte auch die
Weihnachtsgeschichte. Sie erzählte sie manchmal kleinen Kindern, auf die sie
aufpasste um Geld zu verdienen und sie wurde auch verstanden. Die Augen der Zuhörer
fingen dann an zu leuchten und die Wärme der Geschichte sprang auf sie über. Nur die
meisten älteren Leute verstanden nur wenig. Deren Herzen waren schon zu fest
verriegelt.
"Endlich," dachte Jonny, "hier ist meine Aufgabe, hier habe ich den Menschen
gefunden, der die Welt retten kann.
Und Jonny holte seine Harfe heraus und schlug sie an. Plötzlich war die Welt um das
Mädchen wie verzaubert. Menschen, die vorher gar kein Interesse an der Geschichte
hatten, kamen plötzlich herbei, baten, die Geschichte zu erzählen, hörten zu, tauten
innen drin auf, wurden lebendig und verstanden die Geschichte mit Begeisterung.
Ihre Herzen schlugen höher und die Menschen erzählten die Geschichte weiter, denn
sie hatten gemerkt, wie viel Liebe sich Menschen geben können.
Die Menschen sahen auf einmal, wie grau die Welt, die sie sich erschaffen hatten
war. Sie wollten auf einmal leben, weil sie an das lebende Kind im Stall von
Bethlehem dachten. Sie nahmen alle ihre Bomben auseinander und verbuddelten sie tief
unter der Erde. Dann trafen sie sich überall, um die Weihnachtsgeschichte zu hören
und sie nahmen sich die Zeit dazu, die sie vorher nie gehabt zu haben glaubten.
Jonny spielte sich die Finger wund und das Mädchen begann heiser zu werden aber die
beiden waren froh. Und Jonny merkte, dass sein Plan oder vielmehr der des lieben
Herrgottes aufgegangen war.
Und so gaben die beiden so viel von ihrer doppelten Liebe, der Liebe des Menschen,
die mit himmlischer Hilfe auf offene Herzen traf, an die Menschen weiter, dass die
Welt ein ganz kleines Stück besser wurde.
Das Einzige, was das Mädchen und auch Jonny nicht wussten und was ihnen manchen
Zweifel erspart hätte, war folgendes: Gott hatte viele, viele, viele Jonnys auf die
Erde geschickt und in jeder Ecke und überall fanden sie Menschen, ein Mädchen, einen
Jungen, einen Mann, eine Frau, die die Weihnachtsgeschichte noch verstanden. Und all
die Jonnys halfen all den Menschen, sie weiter zu erzählen. Und darum scheint es
doch so zu sein, dass die Welt noch nicht ganz verloren ist.
Verfasser unbekannt