Münchens ungeklärte Mordfälle
21.12.2013 um 16:39
Dieser Artikel ist im STERN Ausgabe 49 vom 28.11.2013 erschienen:
Am Abend des 28. Mai 2013, gegen neun Uhr, sitzen zwei junge Italiener in
einem Cafe am Münchner Gärtnerplatz und trinken einen
Absacker. Domenico, 31, und Marta, 28, freuen sich über
den ersten schönen Tag des Jahres, den sie wie viele hier
ausklingen lassen.
Nur etwas mehr als eine Stunde später ist Domenico tot. Ermordet.
Manche Verbrechen nimmt man nur kurz wahr, sie rauschen an einem vorbei,
bevor sie in der Nachrichtenflut verschwinden.
Andere verändern eine Stadt.
Egal, mit wem man in München über den Fall Domenico spricht, alle wissen sofort,
was vor einem halben Jahr an der Isar passiert ist.
Man verspürt Angst, weil es jeden hätte treffen können und der Täter nicht
gefasst ist. Man merkt, dass das so sichere München mit Domenicos Tod wieder ein
wenig seiner Unschuld verloren hat. Es ist wie nach dem Mord an Dominik Brunner,
der 2009 aus dem Nichts von zwei Jungen auf einem Bahnsteig totgeschlagen
wurde. Auf einmal denkt man beim Joggen an der Isar an das Böse und lässt es sein,
wenn es dunkel wird.
An diesem Abend am Gärtnerplatz geht es Domenico und Marta so gut wie nie
zuvor: Nach vielen Jahren anstrengender Fernbeziehung wohnen sie endlich zusammen.
Marta lebt schon länger in München, Domenico musste oft umziehen.
Rom. Liverpool. Fürth. Hamburg. Wie viele junge Europäer können die beiden
sich Heimat nicht mehr leisten. Wer Geld verdienen will, nomadet von einem
befristeten Vertrag zum nächsten. In München hat Domenico einen Job als
IT-Ingenieur bei Airbus gefunden, Marta arbeitet als Übersetzerin.
Am nächsten Morgen wollen sie nach Potenza reisen,
ihre Heimatstadt in Süditalien, und ihre Familien mit der Nachricht überraschen,
dass sie heiraten werden. Marta möchte allen ihren Verlobungsring zeigen.
Sie trägt ihn immer noch, heute.
Marta heißt eigentlich nicht Marta, auch der Ort, an dem man sie trifft, muss geheim
bleiben. Die Italienerin ist die einzige Zeugin der Tat. Der flüchtige Mörder weiß das.
Sie nennt ihn nicht Mörder, sondern nur „diese Person".
Marta spricht Deutsch ohne Akzent, macht einen gefassten, aber leeren Eindruck.
Gott gebe ihr die Kraft, den Alltag einigermaßen zu bewältigen, sagt sie,
verhehlt aber nicht, dass sie oft keinen Sinn darin sieht, morgens aufzustehen. Marta weint nicht. Sie hat ihre Tränen aufgebraucht.
Nur einen Drink hätten sie an diesem Abend getrunken, weil sie noch packen
mussten. Einen mehr und - sie schaut nur auf die Tasse Tee, die vor ihr steht.
Um kurz vor zehn radeln Domenico und Marta vom Gärtnerplatz los, Richtung Isar.
Ihre Wohnung am Wiener Platz in Haidhausen liegt auf der anderen Flussseite.
Ein Mann spuckt ihr ins Gesicht.
Domenico, groß und sportlich, Fan des AS Rom und von Francesco Totti, fährt schneller
als Marta und ist ein paar Meter vor ihr.
Zur Rechten fließt nun die Isar, zur Linken lärmt die vierspurige Erhardtstraße, eine
viel befahrene Einfallstraße.
Auf Höhe des Europäischen Patentamts passieren sie einen Mann, der sehr eng am Radweg in die
andere Richtung geht. Als Marta an ihm vorbeifährt, spuckt der Mann ihr ins
Gesicht. Er sagt kein Wort, geht schnell weiter.
Marta versteht nicht, was da gerade passiert ist. Und warum.
An der nächsten Ampel erzählt sie Domenico, mehr erstaunt
als verärgert, dass der Typ da hinten sie angespuckt habe.
Anspucken, das sendet eine schlimmere Botschaft als eine Ohrfeige.
Es bedeutet pure Verachtung. Domenico ist ein sehr gläubiger Mann.
Geprügelt hat er sich noch nie, er gebraucht niemals Schimpfworte.
Und dennoch will er es nicht zulassen, dass die Würde seiner Verlobten einfach so besudelt
wird.
Er dreht um und fährt zu dem Mann.
Marta kann in der Dunkelheit nicht viel sehen. Sie erkennt eine Rangelei.
Dann lässt der Mann von Domenico ab und läuft weg. Alles geht sehr schnell.
Sie eilt zu Domenico, ruft seinen Namen, aber etwas stimmt nicht.
Er geht zwei Schritte auf sie zu, wankt, streckt ihr wortlos seinen blutenden rechten Arm entgegen. Dann bricht er neben seinem Rad zusammen.
Marta wählt die 112, bittet Passanten um Hilfe, stützt Domenico, der auf dem Gehsteig
liegt. Seine Brust ist warm vom Blut, er kann nicht mehr sprechen. •
Menschen kommen, reden auf Marta ein, sie erinnert sich nur an einen Nebel
aus Stimmen. Sie zeigt in die Richtung, in die der Mann gelaufen ist, aber niemand
verfolgt ihn. Viele Passanten vermuten, dass es sich um einen Radunfall handelt.
Sie wollen dem Verletzten helfen.
Nur sie hat den Täter gesehen.
Notarzt, Polizei und Kriseninterventionsteam erreichen den Ort, der seit 22.05 Uhr
ein Tatort ist.
Es wird abgesperrt, die Spurensicherung macht sich unter Scheinwerferlicht
an die Arbeit. Ein junger Betreuer bittet Marta in ein Auto.
Vom Rücksitz sieht sie, wie Domenico im Krankenwagen liegt,
die Sauerstoffmaske im Gesicht, viele Menschen in Weiß um ihn herum.
Sie spürt, dass der, mit dem sie bis vor ein paar Augenblicken
den Rest ihres Lebens verbringen wollte, um den Rest seines Lebens ringt.
Tatsächlich gelingt es, ihn auf dem Weg ins Krankenhaus kurz zu reanimieren.
Marta möchte bei ihm sein, aber die Polizisten brauchen ihre Hilfe.
Ohne eine Beschreibung wissen sie nicht, nach wem sie fahnden sollen.
Sie ist die Einzige, die den Täter gesehen hat, doch sie kann nicht
viel anbieten: Der Mann war mittelgroß, schwarzer Mantel, er wirkte gehetzt und
gereizt, als ob ihn etwas sehr aufgeregt hätte.
„Was ist mit Domenico, wie geht es ihm?" fragt sie immer wieder.
Als ihr der Betreuer sagt, dass Domenico im Krankenhaus gestorben sei, weint Marta, sie schreit,
sie weint und schreit nicht mehr, fühlt sich wie in Trance.
Mehr als 30 Polizisten schwärmen aus, suchen in Streifenwagen
und zu Fuß nach dem Täter, einen Verdächtigen finden sie nicht.
Marta wird in der Nacht über Stunden verhört. Sie hat Verständnis für die Fragen
der Polizisten, die eine Beziehungstat ausschließen müssen, die wissen wollen, ob sie
den Täter kannte. Sie würde gern mehr Hinweise geben, aber in ihrer Erinnerung
kam ein nervöser Kerl aus der Dunkelheit und zerstörte ihr Leben. Einfach so.
Am nächsten Morgen wird Domenicos Leiche obduziert. Er ist wegen der vielen
Schnitt- und Stichverletzungen verblutet, die der Täter ihm mit einem Messer zugefügt
hat. Der muss sich, das stellt man fest, dabei auch selbst verletzt haben.
Es gelingt, DNA sicherzustellen. Sie wird in den folgenden Tagen durch die Datenbanken
der bayerischen Polizei, des Bundeskriminalamts und auch der ausländischen
Partner gejagt. Vergebens.
Mord mitten im Hipsterviertel
Die Polizei schließt eine Beziehungstat bald aus, auch ein fremdenfeindliches
Motiv erscheint unwahrscheinlich. Am nächsten Morgen berichten die Zeitungen:
ein Mord am Rande des Glockenbachviertels, Heimat von Hipstern, Werbeagenturen
und Boutiquen? Hier, wo man an der Isar joggt, seinen Hund ausführt und Kinder
spielen? Auf offener Straße, scheinbar ohne Grund und mit einem Täter, der frei
herumläuft? Wie kann das sein?
Für Markus Kraus, 40, beginnen anstrengende Wochen.
Kraus ist ein zuvorkommender Mann, der sich seinen Bart nach
Kevin-Kuranyi-Art modelliert hat. Er leitet das Kommissariat 11, die Mordkommission
München. Die Einheit ist für ihre schnellen Ermittlungserfolge bekannt.
Aber diesmal ist es besonders schwer.
Es habe keine „gezielte Opferauswahl" gegeben, sagt Kraus heute.
Die Soko Cornelius wird gegründet, benannt nach der Brücke, in deren Nähe
sich die Tat ereignete. Über die nächsten Monate bearbeiten die Ermittler 600 Hinweise,
verfolgen 260 Spuren. Sie nehmen fast 3000 Speichelproben, Fallanalytiker
erstellen Täterprofile. Die Fahnder besuchen auch psychotherapeutische Einrichtungen,
bitten Krankenhäuser und Ärzte um Hilfe.
Für Hinweise schreiben sie eine Belohnung von 10 000 Euro aus.
Den Täter finden sie nicht.
Marta wird anfangs immer wieder befragt, man hofft, dass ihre Erinnerungen
wenigstens so weit zurückkommen, dass sich mit ihren Beschreibungen ein Phantombild
zeichnen lässt. Aber es reicht nicht.
Sie lässt sich über die Ermittlungen in formieren, merkt aber bald,
dass das ihre eigene Aufarbeitung hemmt. Sie bittet die Beamten, ihr nur dann Bescheid zu geben,
wenn sie etwas Konkretes haben.
Anfang Oktober meldet sich ein neuer Zeuge, der nicht in Bayern lebt.
Er berichtet, dass der schwarze Mantel des Täters knöchellang gewesen sei, wie
bei Heavy-Metal- oder Gothic-Fans.
Tatsächlich fand zur Tatzeit ein paar Hundert Meter weiter
ein Konzert der schwedischen Nu-Metal-Band Dead by April statt.
Die Soko beginnt, die Konzertbesucher zu ermitteln und zu befragen. Über diese
neuen Hinweise berichtet die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY" aber auch das
bringt keine heiße Spur. In diesen Tagen wird die Soko Cornelius aufgelöst, die
Arbeit übernimmt dann eine kleinere Ermittlungsgruppe.
Ein halbes Jahr Arbeit ohne Erfolg.
Kraus sagt: „Das nagt schon an einem." Warum gab es keine Sperren?
In Potenza haben sie alle Hoffnung aufgegeben.
Hier fehlt Domenico so sehr, dass man im Wohnzimmer
der Familie Lorusso die Trauer fast körperlich spüren kann.
Wie ein nasser Sack liegt sie auf den Gemütern. Niemand lacht.
Die Welt ist schwarz, auch ein halbes Jahr nach dem Mord.
Durch das Fenster scheint rötlich die untergehende Sonne.
In der gutbürgerlichen Wohnung in der Nähe des Zentrums leben Domenicos
Brüder Stefano, 37, und Paolo, 34, mit ihrer Mutter Maria, 65.
Ihre Schwester Vitina, 40, ist verheiratet und wohnt ein paar Häuser
weiter. Vater Giuseppe ist 1997 bei einem Autounfall gestorben.
Sein Foto steht auf dem Schrank.
Sie hätten sich gewundert, dass direkt nach dem Mord keine Straßensperren
errichtet worden seien, sagt Stefano.
Der Täter müsse doch noch in der Nähe gewesen sein. Anfangs hätten sie noch geglaubt,
dass man ihn findet, schließlich seien die Deutschen für ihre Präzision und Gründlichkeit
bekannt.
Aber heute? „Der ist längst über alle Berge", sagt Paolo.
Maria Lorusso, die Mutter, leidet seit 20 Jahren an Leukämie.
Am Tag, an dem Domenico ermordet wurde, lag sie im Krankenhaus und kämpfte mit den Nachwirkungen einer Knochenmarktransplantation.
Die Geschwister trauten sich nicht, es ihr zu sagen.
Sie fürchteten, dass sie sich aufgeben würde.
Marias Haare sind noch kurz von der Chemotherapie. Sie strahlt Würde und Haltung aus.
Ihre Stärke, sagt sie, schöpfe sie aus dem Glauben und aus der Familie:
Ihretwegen habe sie sich dazu durchgerungen, die Operation zu wagen,
und ihretwegen gebe sie auch jetzt nicht auf.
In ihren Händen hält Domenicos Mutter die Karte mit der Predigt,
die bei seiner Beerdigung gehalten wurde.
Auf der Vorderseite der Karte ein Foto, auf dem er auf einem Steg steht und lacht.
Domenico glaubte an Gott, war ein Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Salesianer.
Er betreute Jugendcamps, engagierte sich für sozial Schwächere.
Wenn es um seinen geliebten Fußball ging, wollte er nicht wie alle anderen ein Stürmer sein, sondern der Schiedsrichter.
Maria Lorusso erzählt, dass zur Trauerfeier mehr Menschen kamen,
als in die Kirche passten. Die, die nicht hineinkamen,
standen davor im strömenden Regen.
In München steht an der Stelle, wo Domenico ermordet wurde, ein Baum.
Ein schöner, alter Baum, einige Äste ragen in die Isar.
Um seinen Stamm herum haben Menschen Kerzen und Blumen gelegt.
Herbstlaub bedeckt sie, bald wird Schnee darauf fallen.
Domenicos Freunde und viele Münchner besuchen den Baum.
Zünden eine Kerze an. Betrachten sein Foto vom Steg. Stehen davor, schweigen.
Manchmal, wenn sie es schafft, kommt auch Marta vorbei.
Sie will sich diesen Ort nicht nehmen lassen. Für sie lebt hier
Domenico.
Felix Hütt wurde bei seinen Recherchen von Luisa Brandl unterstützt.
Ihm ging Domenicos Schicksal besonders nahe,
da er selbst mit seiner Verlobten gern an der Isar entlangradelt