Fragwürdige Polizeiarbeit beim Maskenmann-ProzessSTORKOW –
Schläge, Schüsse, Kidnapping – seit einem Jahr steht in Frankfurt an der Oder ein Mann vor Gericht. Doch in dem Prozess geht es schon lange nicht mehr um ihn und die Taten. In den Mittelpunkt gerückt ist die merkwürdige Ermittlungsarbeit der Polizei.tDas rot-weiße Flatterband sieht verwittert aus. Es spannt sich seit zweieinhalb Jahren von einem Baum zum anderen. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Polizeiabsperrung aufzuheben. Warum auch? Der Weg dorthin führt durch ein sumpfiges Gebiet, durch dichtes Gestrüpp, das ins Gesicht peitscht, vorbei an abgestorbenen Erlen, über grünlich schimmernde Wassergräben, durch Moorlöcher, deren Oberfläche von braun gewordenem Laub abgedeckt wird und trügerisch wie sicherer Waldboden wirkt. Die wirklich kleinen, festen und doch schwankenden Inseln wölben sich um die dünnen, morschen Baumstämme, die brechen, wenn man sich an ihnen festhalten will. Freiwillig geht niemand hier durch.
Das Flatterband umschließt ein Gebiet, in dem sich die Opferinsel befindet. Ein zwei Quadratmeter großes Eiland, auf der ein verschleierter Täter, der Maskenmann, einen entführten Investmentbanker abgelegt und fest mit Paketband verschnürt zurückgelassen haben soll. Das Areal liegt am Ufer des Großen Storkower Sees zwischen dem Storkower Ortsteil Hubertushöhe und der Gemeinde Wendisch Rietz. Ein schmaler, holpriger Knüppeldamm führt hundert Meter vom Ufer entfernt durch dieses unwirtliche Sumpfgebiet.
Axel Weimann und Christian Lödden haben an einem sonnigen Tag Mitte März ihre Anwaltsroben und auch ihre Anzüge im Schrank gelassen. Sie haben das Auto am Ortsrand abgestellt, sind in ihre Wathosen gestiegen und durch den Wald zum Knüppeldamm gelaufen. Vorbei an einer menschenleeren Badestelle und einem Hochsitz, an dem ein Schild darauf hinweist, dass der Weg von einer Kamera überwacht wird.
Vom Knüppeldamm springen die Anwälte, die wie Angler aussehen, hinunter auf den leicht wogenden Boden des sumpfigen Erlenbruchwaldes. „Keine 100 Meter sind es von hier bis zur Opferinsel“, sagt Weimann, er zeigt durch das Gestrüpp in Richtung Wasser, das weit hinter dem Flatterband hell durch die Bäume schimmert. Weimann, 52, ist das vierte Mal hier.
Der Gang zu der Opferinsel ist mühsam. Selbst für Christian Lödden, 30, der erst vor Kurzem beim Tough- Guy-Lauf in England mitgemacht hat und ein versierter Rugbyspieler ist. Immer wieder versinken die Männer im Morast, immer wieder saugen sich die Gummistiefel ihrer wasserundurchlässigen Hosen am Boden der Sumpflöcher fest. Es ist die Strecke, die im Oktober 2012 auch die Geisel auf der Flucht zurückgelegt haben muss. Nur in die entgegengesetzte Richtung. Von der Insel im Sumpf zum Knüppeldamm. Im Dunkeln und auf Strümpfen.
Angeklagter Mario K. hat kein AlibiWeimann und Lödden sind die Verteidiger von Mario K., der in Frankfurt an der Oder seit knapp einem Jahr vor Gericht steht. Mario K., 47, soll der unheimliche Maskenmann sein, der in den Jahren 2011 und 2012 in Bad Saarow und Storkow mit einer Art Gaze vor dem Gesicht zwei wohlhabende Berliner Familien überfallen und dabei auch den Banker entführt hat. Hass auf Reiche soll das Motiv gewesen sein. Dass die Taten irgendwie zusammenhängen, ist klar. Bei den Überfällen schoss der Täter aus derselben Waffe, einer Ceska. Aber ist Mario K. dieser Maskenmann? Der Sumpf, da sind sich die Anwälte sicher, entlastet ihn.
Die Staatsanwaltschaft hat vor Gericht eine scheinbar lückenlose Indizienkette präsentiert, die die Schuld von Mario K. belegen soll. Der durchtrainierte Mann hat für die Tatzeiten kein Alibi. Er ist ein Einsiedler, der sich in sumpfigen Gebieten auskennt. Er saß bereits mehrere Jahre im Gefängnis. 1997 hatte er in einem Lokal in Berlin um sich geschossen – mit einer Ceska. Im Jahr 2004 wurde Mario K. gefasst, nachdem er mehrere Jachten angezündet hatte.
Er war dabei mit einem Kajak unterwegs. Ein Förster entdeckte sein Zelt auf einem morastigen Eiland im Köpenicker Seddinsee, er rief die Polizei. Den Beamten sprang Mario K. mit schwarzem Neoprenanzug und geschwärztem Gesicht entgegen. Für fünf Jahre und drei Monate musste er ins Gefängnis.
Nach seiner Haftentlassung trainierte er in einem Schützenverein – mit einer Ceska. Und bei Mario K. wurden die gleichen Briefmarken entdeckt, die auch auf den Erpresserbriefen klebten, mit denen der Täter seine Geisel freipressen wollte. Die Marken „600 Jahre Universität Leipzig“ wurden im Jahr 2009 gedruckt. In einer Auflage von 912 Millionen Stück. Doch trotz allem haben selbst erfahrene Ermittler Zweifel, dass Mario K. der Täter ist. Er selbst beteuert, der Falsche zu sein
Die Kugel trifft den LeibwächterIn dem Prozess geht es schon lange nicht mehr um Mario K., um die Taten. Im Mittelpunkt steht die merkwürdige Ermittlungsarbeit der Polizei. Es geht um berechtigte Fragen, die die Fahnder den Opfern aber nicht stellen durften. Um Spuren, die bewusst unbeachtet blieben. Um Dinge, die Mario K. entlastet hätten, die aber, so sieht es jedenfalls aus, aus Polizeiberichten gestrichen wurden. Offenbar war alles irgendwann nur noch dem einen Ziel untergeordnet: nach zwei Jahren Fahndung nach einem Phantom sollte der Öffentlichkeit endlich ein passender Täter präsentiert werden. Mario K. passte.
Die erste Tat, die er begangen haben soll, ereignet sich am 22. August 2011 in Bad Saarow. Petra P. ist an diesem Montag allein in ihrer Villa. Sie lebt getrennt von ihrem Ehemann, einem einflussreichen Berliner Immobilienunternehmer. Zunächst ist es ein Tag wie jeder andere, sagt sie später im Prozess. Nur ihre drei Hunde bellen wie wild. Gegen 22 Uhr lässt die 58-Jährige die Tiere noch einmal hinaus. Sie öffnet die Tür. Die Hunde stürzen in die Dunkelheit. Als Petra P. ihnen folgt, kommt eine dunkle Gestalt mit Sturmhaube aus dem Gebüsch gesprungen, tänzelt geduckt wie ein Boxer auf sie zu und prügelt im Stakkato mit einem Schlagstock auf sie ein.
Petra P. fallen an der Sturmhaube die weißen Nähte um die Öffnungen für Augen und Mund auf. Sie beschreibt den Täter als durchtrainiert und nicht sehr groß. Sie sieht sehr markante, sehr helle, furchtbar bösartige Augen, einen rotblonden Drei-Tage-Bart auf der Oberlippe, helle Augenbrauen, Sommersprossen. Petra P. ist sicher: Der Unbekannte will sie töten. Sie überlebt schwer verletzt, weil ihr aus dem Nachbargebäude eine Haushälterin zu Hilfe eilt.
Mario K. passt so gar nicht zu der Beschreibung. Er hat kurze brünette Haare, einen dunklen Vollbart, dunkle Augenbrauen. Er ist 1,85 Meter groß. Trotzdem betont Petra P. vor Gericht immer wieder, dass er der Täter ist.
Zwei Monate bleibt es nach dem Überfall ruhig. Die Polizei rätselt über das Motiv der Tat. Liegt es in den Immobiliengeschäften der Familie in Bad Saarow, den Berliner Unternehmungen oder im privaten Bereich? Noch bevor die Fahnder eine Spur finden, schlägt offenbar derselbe Täter wieder zu.
Am Morgen des 2. Oktober 2011 schießt ein maskierter Mann in Bad Saarow mit einer Ceska auf Louisa P., die 23-jährige Tochter von Petra P. Die junge Frau kann unverletzt fliehen, weil sich ihr Leibwächter, der nach dem Überfall auf ihre Mutter engagiert wurde, dem Täter in den Weg stellt. Ein Schuss trifft den Bodyguard im Rücken. Sieben Monate liegt der 31-Jährige im Krankenhaus, er ist vom zwölften Brustwirbel abwärts gelähmt.
Der Leibwächter rollt jeden Verhandlungstag im Rollstuhl in den Gerichtssaal. Er stellt den maskierten Täter als sportlichen, 1,80 Meter großen Mann dar. Als geübten Schützen, der nicht zum ersten Mal auf einen Menschen geschossen hat. Er sagt nicht, dass er in Mario K. den Schützen wiedererkennt.
Gefesselt mit KlebebandEin Jahr lang passiert nichts. Dann wird Stefan T., das Vorstandsmitglied einer Berliner Kapitalgesellschaft, in Storkow entführt. Der 51-Jährige lebt mit seiner Familie in Wannsee und hat sich in Storkow den Traum von einer Villa am See erfüllt. Die Kleinstadt liegt nur zehn Kilometer von Bad Saarow entfernt.
Stefan T. ist ein großer, schwerer Mann, der vor Gericht mit auffallend emotionsloser Stimme von seiner Entführung erzählt. Eine abenteuerliche Geschichte, die aber vielleicht auch wahr ist, gerade weil sie so unglaublich klingt. Doch die vielen Widersprüche durften die Ermittler nicht aufklären.
Am 5. Oktober 2012 fährt Stefan T. mit seiner Frau Sabine und dem elf Jahre alten Sohn nach Storkow. Die Familie will in ihrem Haus das Wochenende verbringen. Es ist ein windiger, regnerischer Tag. Gegen 17 Uhr kommen sie in der Storkower Villa an. Abends lässt sich Stefan T. im Kaminzimmer nieder, er liest Zeitung und trinkt Rotwein. Später schaut er mit seinem Sohn den Film „Indiana Jones“ auf DVD. Gegen 21.30 Uhr lässt seine Frau den Hund in den Garten, die Tür bleibt wie immer offen. Der Hund bellt ungewöhnlich laut.
Plötzlich steht ein Mann in der Tür. Er ist kleiner als Stefan T., der 1,81 Meter misst. So schildert es Stefan T. zumindest der Polizei. Der Hausherr greift nach der halbleeren Weinflasche und schleudert sie in Richtung des Maskierten. Die Flasche verfehlt ihr Ziel. Der Unbekannte schießt in die Decke. Schon bald wird feststehen, dass es dieselbe Waffe ist, die in Bad Saarow benutzt wurde.
In dem Moment weiß Stefan T., dass Widerstand zwecklos ist. Der Täter will Geld. Er befiehlt Sabine T., ihren Ehemann mit Paketband zu fesseln. Der Manager bittet, zuvor noch einen blauen Kaschmirpullover über sein Polohemd ziehen zu dürfen. Doch woher weiß er, dass ihn der Täter hinausführen wird?
Sabine T. ist wie versteinert, der Sohn nimmt das Klebeband. Er bindet seinem Vater die Hände auf dem Rücken zusammen. Auch die Augen werden verklebt. So gefesselt, wird Stefan T. ins Freie geführt. Der Täter droht, Stefan T. zum Krüppel zu schießen, sollte die Polizei alarmiert werden. Für das, was die Geisel nun schildert, gibt es keine Zeugen.
Verschleppt in den SumpfDer Investmentbanker muss über eine Hecke auf das Nachbargrundstück steigen. Dann wird er durch das Gartentor zum See geführt. So die erste Aussage. Ein Spürhund findet später keine Spur des Mannes an dem Tor, sondern einige Meter davon entfernt auf beiden Seiten des Zauns. Als Stefan T. davon hört, korrigiert er seine Angaben. Es könne auch sein, dass er über den Zaun steigen musste, sagt er nun. Das Hindernis ist 1,10 Meter hoch. Und noch etwas erschließt sich nicht: Der Spürhund der Polizei verfolgt die Spur von Stefan T., sie führt nach rechts, zu einem Steg.
Doch Stefan T. will an einen Anleger linkerhand vom Gartentor geführt worden sein. Er muss dort nach eigenen Angaben zehn bis 15 Meter weit ins kalte Wasser steigen. Bis zur Hüfte. Der Täter bindet ihm dort die Arme los und legt ihm eine Schlinge um den Oberkörper. Unter der Wasseroberfläche holt Stefan T. seine Hausschlüssel, die er immer bei sich trägt, aus der Hosentasche und lässt sie unbemerkt ins Wasser gleiten.
Das Schlüsselbund wird später von Tauchern gefunden. In kniehohem Wasser. Unklar ist auch, wie Stefan T. so einfach ins Wasser laufen konnte, war doch am Steg offenbar ein Boot festgemacht. Da man wegen des dichten Schilfs nur auf einer Seite des Liegeplatzes ins Wasser kommt, hätte er mit verbundenen Augen umständlich an dem Boot vorbei durch das bis an den Liegeplatz heranwachsende Schilf waten müssen. Von einem Hindernis hat er aber nichts berichtet.
Stefan T. muss sich, mit der Schlinge um die Brust, am Heck eines Kajaks festhalten, er kann nach eigenen Angaben durch kleine Seeschlitze etwas erkennen. Er wird etwa 20 Minuten durch den See gezogen, ohne vom Heck des Bootes abzurutschen. An einer schilffreien Stelle am Ufer hält der Täter. Er steigt aus, bläst mit 20, 25 kräftigen Luftstößen eine Luftmatratze auf und sucht sein Opfer „mit einer sehr professionellen Leibesvisitation“, so Stefan T., selbst an intimsten Körperstellen nach Ortungsgeräten ab. Warum aber sollte der Banker so etwas an seinem Körper versteckt haben?
Es sind fünf Grad Lufttemperatur. Stefan T. muss sich, nass wie er ist, auf die Matratze legen. So wird er weiter über den See gezogen. Nach einer halben Stunde endet die Fahrt am sumpfigen Ufer unweit des Knüppeldamms. Stefan T., dessen Augen noch immer verklebt sind, muss seine Schuhe ausziehen.
Er wird nach eigenen Angaben durch den Morast dirigiert. Manchmal stolpert er in ein Wasserloch, er bewegt sich mehr auf allen vieren. Das Ziel ist ein zwei Quadratmeter großes Stück festeres Land. Der Täter legt es mit Plastiktüten aus. Stefan T. nennt es seine Opferinsel. Daneben liegt, getrennt durch einen Wasserlauf, die doppelt so große Täterinsel, auf der sich der Maskenmann aufhält.
Allein auf der OpferinselStefan T. bekommt trockene Sachen: ein Kapuzenshirt, eine Jogginghose und fünf Paar Socken. Der Täter bindet ihm die Hände über dem Kopf an einem Baum fest. Stundenlang muss der Manager so ausharren. Stefan T. hat keine Probleme damit.
Als es hell wird, löst der Täter die Fesseln und reist die Augenverklebung ab. Er verbietet Stefan T. aber hochzuschauen. Die Geisel sieht den Mann nur einmal kurz von hinten: Wathose, Gummistiefel, sehr kräftiger Po. Dann muss der Entführte Briefe schreiben. Der Geiselnehmer diktiert. Er verlangt ein Lösegeld von einer Million Euro. Er nennt es seine Altersvorsorge.
Der erste Brief, mit zittrigen Händen geschrieben, gefällt dem Täter nicht. Daran würde die Polizei erkennen, dass sich die Geisel im Freien aufhalte, sagt er. Stefan T. muss von vorn beginnen. Das misslungene Schreiben allerdings lässt er heimlich in seinem Hosenbund verschwinden. Obwohl der Täter alles, was auf seine Spur führen könnte, später penibel zusammenrafft und verbrennt. Unklar bleibt, warum Stefan T. den Brief versteckt und so ein Risiko eingeht.
Am Nachmittag regnet es stark. Der maskierte Unbekannte drückt Stefan T. Spezial-Ohropax in die Ohren, es sind seltsamerweise dieselben, die der Manager beim Schwimmen im See verwendet. Dann verschnürt er seine Geisel wie ein Paket mit Panzer- und Paketband. Zum Schluss sticht er einen Plastikschlauch durch das mehrfach um den Kopf gewickelte Band in den Mund seiner Geisel. Damit soll Stefan T. Wasser aus einem Sumpfloch trinken. Alle Versuche einiger Ermittler, einen solchen Schlauch später durch mehrere Schichten Paketband zu stechen, misslingen.
Der Maskenmann lässt seine Geisel allein, er kündigt aber an, am nächsten Tag noch einmal wiederzukommen. Stefan T. hat Angst zu ersticken. Nach Stunden beginnt er, seine Hände aus dem Klebeband zu lösen. Er macht ein Ohr frei, lauscht. Als er sicher ist, dass der Täter nicht in der Nähe ist, reißt er sich das Paketband aus dem Gesicht und vom Körper. Polizisten fällt später auf, dass er sich dabei weder Wimpern noch Augenbrauen herausgerissen hat.
Tortur ohne SchockStefan T. flieht von der Opferinsel. Er stolpert durch den Sumpf und das dichte Gestrüpp. Er irrt eine halbe Stunde umher, bis er hinter sich den Lichtstrahl einer Taschenlampe bemerkt. „Ich habe mich hingeschmissen, mein Gesicht in den Sumpf gedrückt“, sagt Stefan T. später. 45 Minuten sucht der Maskenmann nach seiner Geisel. Dann verschwindet er.
Stefan T. erreicht schließlich den Knüppeldamm, er kennt den holprigen Weg, der zu seiner Joggingstrecke gehört. Er läuft nicht nach rechts, nach Hause, er hat Angst, der Täter könnte ihn abfangen. Er läuft auf Socken in einem „lockeren Joggingtempo“ in die entgegengesetzte Richtung, nach Wendisch Rietz. Dort klingelt er bei einem Ehepaar, das die Polizei ruft.
Stefan T. ist nach der Tortur weder verletzt noch unterkühlt noch hat er Anzeichen eines Schocks. Das stellt ein Notarzt fest, der ihn im Polizeipräsidium in Frankfurt an der Oder kurz untersucht. Der Arzt verweist darauf, dass Stefan T. noch einem Gerichtsmediziner vorgestellt werden muss. Das ist in solchen Fällen Routine.
Doch bei Stefan T. unterbleibt es. Ein Ermittler, der darauf drängt, bekommt vom Leiter der inzwischen eingerichteten Sonderkommission Imker, Siegbert Klapsch, einen Artikel des Nachrichtenmagazins Spiegel in die Hand gedrückt. Es ist ein Bericht über den Selbstmord von Thomas Bögerl. Bögerl war Sparkassenchef im baden-württembergischen Heidenheim, als seine Ehefrau im Jahr 2010 entführt und getötet wurde.
Er erhängte sich, nachdem die Polizei ihn fälschlicherweise verdächtigt hatte. Vor Gericht sagt Kriminaldirektor Klapsch, er habe doch nur verhindern wollen, dass so etwas auch in Brandenburg passiert. Es sei auch mit der Staatsanwaltschaft abgesprochen worden, nicht gegen das Entführungsopfer zu ermitteln.
Kriminaloberkommissar zeigt selbst anStefan T. präsentiert den Fahndern kurz nach seiner Selbstbefreiung den misslungenen Erpresserbrief, den er in seiner Jogginghose versteckt hat. Das Schreiben hat keine erkennbaren Wasserflecke, obwohl Stefan T. durch den Sumpf gekrochen sein will. Der Mann, der eigentlich völlig entkräftet sein müsste, führt die Polizei noch am selben Tag zum Sumpfgebiet, zur Opferinsel. Es ist helllichter Tag. Der Mann, der ohne sichtbaren Kratzer nachts durch den Sumpf gestolpert ist, bricht sich nun einen Fuß.
Nur einen Tag, nachdem Stefan T. seinem Entführer entkommen konnte, darf der Manager mit seiner Familie in den Urlaub fliegen. Das befremdet viele in der Soko. Sind doch die ersten Stunden und Tage nach einer Entführung die wichtigsten, um den Täter zu fassen. Zwei Jahre hat die Polizei erfolglos nach einem Phantom gefahndet.
Nun haben die Ermittler endlich einen Zeugen, der viele Stunden in der Gewalt des Maskenmannes war. Doch die Beamten, die Stefan T. in Storkow besuchen, müssen ihre Befragung abbrechen. Der Manager muss den Flieger erreichen. Die Reise nach Mallorca ist nicht etwa lange geplant. Die Familie hat sie spontan im Internet gebucht.
Kriminaloberkommissar Lutz B., der Stefan T. betreut hat, findet nicht nur das eigenartig. Er hat viele Fragen an den Manager, aber er darf sie nicht stellen. Nach Aussprachen mit seinen Vorgesetzten zeigt er sich im August 2013 wegen Strafvereitelung im Amt selbst an. Er will sich nicht strafbar machen.
Auf 20 Seiten, die der Staatsanwaltschaft zugehen, belastet er vor allem den Leiter der Frankfurter Mordkommission, Falk Küchler. Küchler ist zugleich stellvertretender Leiter der Sonderkommission und hat laut B. alle Widersprüche in der Geschichte von Stefan T. ignoriert. Er sei von Küchler zurechtgewiesen worden, die Aussagen des Geschädigten so zu akzeptieren und keine Zweifel an seinen Schilderungen zum Tathergang zu hegen. Es sollte das gemacht werden, was das Opfer möchte, schreibt B. Und auch, dass seit Monaten nur einseitig ermittelt werde. Gegen Mario K.
Ermittler lassen sich versetzenDie Polizeiführung geht konsequent gegen Zweifler vor. Lutz B. wird versetzt, ebenso ein Kollege. Eine Kriminalistin der Mordkommission bittet darum, freiwillig wieder Streife fahren zu dürfen. Sie wird Praktikantin bei der Polizei in Fürstenwalde. Doch im Prozess treten immer mehr Kollegen auf, die über ihre Bedenken berichten. Eine Beamtin erzählt, sie habe ebenfalls daran gedacht, sich versetzen zu lassen. „Ich kann nicht damit umgehen, wie ermittelt wurde“, erzählt sie.
So habe sie sich gefragt, warum die Wärmebildkamera des Polizeihubschraubers, der in der Nacht nach der Entführung über dem Sumpfgebiet kreiste, keine Menschen wahrgenommen hat. Sie will Stefan T. fragen, wie das sein könne. Doch Soko-Chef Klapsch macht ihr klar, dass man einem Mann mit diesem finanziellen Hintergrund nicht solche Fragen stellt.
Die Kriminalistin bemerkt auch, dass Stefan T. über die Ermittlungen immer bestens informiert ist, seine Aussagen anpasst. Sie erzählt von ihrem Erstaunen, als eine Kollegin, die die Ermittlungsergebnisse auswerten musste, kurz vor Mario K.s Verhaftung erklärte: „K. ist nicht der Täter.“
Schuld scheint zweifelhaftZweifel, dass da vielleicht der Falsche auf der Anklagebank sitzt, schürt auch die Aussage des orthopädischen Gutachters. Der Berliner Professor Bodo Paul hat im Prozess mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Mario K. durch das Moorgebiet mit der Opferinsel laufen kann. Dem Angeklagten ist vor langer Zeit das rechte Knie zerschossen worden. Er leidet an einer Arthrose, kann das Bein nicht mehr richtig beugen.
Gut eineinhalb Stunden dauert der Ausflug der beiden Verteidiger in den Erlenbruchwald – vom Knüppeldamm zur Opferinsel und wieder zurück. Die Richter der Schwurgerichtskammer am Landgericht in Frankfurt müssen in naher Zukunft über die Schuld oder Unschuld von Mario K., über einen Freispruch oder eine lebenslange Freiheitsstrafe entscheiden. Bisher haben sie sich noch nicht selbst in das Sumpfgebiet gewagt.
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/im-sumpf-der-ermittlungen-fragwuerdige-polizeiarbeit-beim-maskenmann-prozess,10809148,30234966.html (Archiv-Version vom 02.04.2015)Sorry, extrem langer Text. Aber lesenswert, wie ich finde.
@eldec Ja, für mich ist das alles eine einzige Farce, und ich zweifel stark daran, das Mario K. der Täter ist.
Man kann nur hoffen, dass der Richter zum Schluss die richtige Entscheidung fällt. Und da bin ich ganz bei: Im Zweifel für den Angeklagten. Wenn du verstehst, was ich meine.