Mordfall Karen Gaucke - Täter verstorben
25.02.2012 um 11:59
Menschen, die ihr Leben in Gerichtsgebäuden zubringen, scheinen im Lauf der Zeit deren Farbe anzunehmen. Sie werden grau. Diese Beobachtung gilt unabhängig davon, welche Rolle die Menschen im Gericht spielen, sie trifft für Richter ebenso zu wie für Staatsanwälte oder Verteidiger, sogar regelmäßige Zuschauer werden grau.
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Mit der ruinösen Wirkung langjähriger Nahrungsaufnahme in Gerichtskantinen lässt sich das Phänomen nicht erklären. Es muss etwas damit zu tun haben, dass bei Prozessbeteiligten ursprünglich die Vorstellung existierte, mit ihrer Tätigkeit etwas zur Herstellung von Gerechtigkeit beizutragen; dass diese Vorstellung aber in der Realität des Gerichtsalltags immer mehr versprödet, verblasst und ergraut. Die Verfahrensbeteiligten im Saal 127 des Landgerichts Hannover haben diese Entwicklung hinter sich. Richter, Schöffen, Staatsanwälte, die Verteidigerin, der Anwalt der Nebenkläger: grau.
Grabsteine für ein Grab ohne Leichen
Das Gericht betritt den Saal, das Publikum erhebt und setzt sich wieder, Zeugen werden vernommen, Sachverständige gehört, Tatortfotos besichtigt, Spurenbilder begutachtet. Bisher an 14 Verhandlungstagen. Ist etwas in Augenschein zu nehmen und alle Verfahrensbeteiligten schreiten zum Richtertisch, sieht man, wie klein die Verteidigerin ist und dass der füllige Staatsanwalt unter der Robe Jeans trägt. Ein Verbrechen wird eingekreist. Nachmittags scheint manchmal die Wintersonne in den Saal. Dann eilt ein Justizbeamter zu den hohen Fenstern, lässt Jalousien herab, und das Licht ist wieder grau. An den meisten Tagen ist ein Ehepaar aus Freiburg anwesend, Hans und Gabriele Gaucke, ehemalige Gymnasiallehrer, beide über 70. Die Nebenkläger. Bei einem Steinmetz haben sie einen Grabstein in Auftrag gegeben, der zwei Namen tragen soll: Karen Gaucke, geboren 1968, und Clara Gaucke, geboren 2005. Nach Lage der Dinge wird dieser Grabstein nie über den beiden Toten stehen, für die er bestimmt ist. Deren Körper liegen irgendwo, versenkt in einem Teich, vergraben in einem Moor, einem feuchten Waldstück. Trotz der größten Suchaktion in der Geschichte Niedersachsens wurden sie nicht gefunden. Der Mann, der nach Überzeugung der Staatsanwälte und Nebenkläger den Ort kennt, sitzt auf der Anklagebank. Und schweigt. Ihm gegenüber die Nebenkläger - Eltern und Großeltern der Toten. Und schauen ihn an. Zwischen ihnen 20 Schritte und ein Doppelmord. Aber für den existiert kein Zeuge, kein direkter Beweis - nicht einmal die Leichen.
In einem Strafverfahren soll begangenes Unrecht gesühnt und dadurch die ins Ungleichgewicht geratene Welt wieder in Balance gebracht werden. Dazu bedarf es zuallererst des Verstehens einer Tat - nicht des Verständnisses für sie, aber des Begreifens, was den Täter bewegt und getrieben hat; Habgier, Eifersucht, Wut, deformierter Sexualtrieb, das Feld ist weit. Ohne Begreifen keine angemessene Strafe, keine Gerechtigkeit. Wahrscheinlich ist das, was Zuschauer schon um sieben Uhr morgens vor dem Gerichtsgebäude in Hannover anstehen lässt, der Wunsch zu verstehen. Dieser Angeklagte im Saal 127 kommt nicht vom Rand der Gesellschaft. Michael P. ist Anzugträger. Ein Abteilungsleiter. Einer, dem man bedenkenlos einen Gebrauchtwagen abkaufen und seine Tochter anvertrauen würde. Wer ist dieser Mann?, wollen die Anwesenden im Saal 127 wissen.Der Angeklagte schweigt
Die einzigen Aussagen, die er zu Beginn des Prozesses macht - machen muss, sind die zur Person. Seinen Namen nennt er, "geboren am 23. November 1968 in Göttingen; erlernter Beruf: Diplomkaufmann; letzter Beschäftigungsort: Tui". Zum Familienstand sagt Michael P.: "Ledig." Und: "Zwei Kinder, ca. ein Jahr alt." Bei seiner Einlieferung in die Untersuchungshaft hatte er noch angegeben, "ein Kind". Das andere, glauben die Ermittler, hat er getötet und beseitigt. Die Vorgeschichte beginnt 2004. Michael P. führt ein angenehmes Leben. Der schlanke sportliche Mann mit den straff zurückgekämmten mittelblonden Haaren ist in der Tui-Zentrale Abteilungsleiter im Controlling, rund 3000 Euro netto im Monat. Er hat einen Audi Kombi als Dienstwagen, unbegrenzte Kilometer und Sprit umsonst. Auch dass der Reisekonzern unter seinen Mitarbeitern einen Frauenanteil von 80 Prozent hat, weiß der Single zu schätzen. Seine Feierabende verlebt er in wechselnder Gesellschaft, seine Urlaube in der Karibik oder in Mexiko, am Wochenende Motorradausflüge in den Harz, er läuft Ski, spielt Basketball und Golf. Er ist fleißig, kompetent, kontaktfreudig, beliebt, aufstiegsorientiert. Er hat Aussicht auf anhaltende Karriere und glasklare Vorstellungen von seiner Zukunft: Reihenhaus mit Garten, gutes Auto, passende Frau, Kind, Hund. Das Auto soll ein großer Audi, der Hund ein Golden Retriever sein.
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Auf einem Ägypten-Trip trifft er im Dezember 2004 auf eine Tui-Kollegin: Karen Gaucke. Beide Mitte 30, beide allein. Eine Affäre, im Februar ist sie vorbei. Sie passen nicht zueinander - Karen ist nicht die Frau, die sich für Michaels Traum eignet, wie er einem Freund anvertraut. Aber nun ist Karen schwanger. Eine Panne. Pflichtschuldig versuchen sie es noch einmal miteinander, stellen aber schnell fest, dass es nicht funktioniert. Inzwischen hat Michael P. auch Christina kennengelernt, die sich besser in seinen Zukunftstraum fügt, und hat sie ebenfalls - ungeplant - geschwängert. Karen ist schockiert. Im November 2005 wird ihre Tochter Clara geboren, zwei Monate später deren Halbbruder Ole. Dass es in Michaels Leben noch eine weitere Frau gibt, die Tui-Kollegin Judith - eine rein sexuelle Beziehung, sagt er später den Vernehmungsbeamten -, wissen beide Frauen nicht. Oder weiß es Karen? "Der vögelt sich durch die ganze Tui", sagt sie verletzt und zornig zu ihrem Vater, als der sich nach ihrem Ex erkundigt.
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Das Leben wurde kostspielig
Das Leben ist kompliziert geworden für Michael P. Und kostspielig. Zwei Kinder, drei Frauen, alle bei der Tui. Aber "er hat zu beiden Kindern gestanden", sagt Freund Holger, Unternehmensberater aus Göttingen, der ihn schätzt: Ein guter Typ - "kameradschaftlich, pflichtbewusst, sehr zuverlässig, hat zu seinem Wort gestanden, Termine und Verpflichtungen eingehalten, finanziell großzügig". Und die Gesamtlage, der Klatsch und Tratsch? Na ja, räumt der Freund ein, "unangenehm". Bringt man deswegen zwei Menschen um? Tatsache ist, dass Michael P. zusehends genervt ist von Karen Gaucke. Sie misstraut dem, was er ihr über sein Gehalt erzählt. Sie will seine Abrechnung sehen, mehr Unterhalt. Es geht um rund 100 Euro im Monat. Andererseits scheint er seine Tochter zu mögen. Er besucht sie, spielt mit ihr, beklagt sich sogar, dass er sie nicht so oft sehen kann, wie er möchte.
Später, als er in U-Haft sitzt, wegen Suizid-Gefahr in einer psychiatrischen Station, freundet er sich mit einem Mithäftling an. Dem sagt er angeblich: "Es ging nicht bloß um die monatliche Zahlung. Die muss man hochrechnen, dann sind es 30.000 Euro." Und: "Von so einer lass ich mir doch mein Leben nicht kaputt machen." Von hier an sprechen die Indizien. Sie sind lückenhaft, erzählen aber, so die Ermittler, eine eindeutige Geschichte: Im Frühjahr oder Frühsommer 2006 muss Michael P. entschieden haben, das, was sein Leben unangenehm macht, aus dem Weg zu räumen.
Kennt den Unterschied zwischen Mord und Totoschlag
Im Mai versucht er, bei Ebay ein Bolzenschussgerät zu ersteigern, das angeblich lautlos tötet. Ein anderer bietet mehr. Anfang Juni informiert er sich über die Unterscheidungsmerkmale zwischen Totschlag und Mord. Die Internetdaten löscht er sorgfältig. Nicht sorgfältig genug, Kripobeamten gelingt die Rekonstruktion. Am 14. Juni bestellt er bei einer Autovermietung in Braunschweig einen Toyota Avensis Kombi für den nächsten Tag. Am 15. Juni fährt er mit der Bahn nach Braunschweig und kehrt mit dem Toyota zurück nach Hannover. Am Abend ist er mit Karen Gaucke in deren Wohnung verabredet, um ihr Gehaltsunterlagen zu präsentieren und den Streit um den Unterhalt zu beenden. Gegen 20 Uhr ist er bei ihr.
Auf seinem Handy ist eine SMS gespeichert, die er um diese Zeit verschickt: "Wo bist du, wir waren verabredet! Ich warte noch, melde dich!" Adressat ist Karen Gaucke. Die Ermittler halten diese Mitteilung für eine bewusst gelegte falsche Spur. Die Empfängerin war zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon tot, ermordet in ihrer Küche. Unter der Waschmaschine und dem Herd finden Kripobeamte später verkrustetes Blut. Das Blut von Karen Gaucke, viel Blut. So viel Blut macht es wahrscheinlich, sagt der Gutachter, "dass sich ein Tatgeschehen abspielte, bei dem stark blutende Verletzungen zugefügt wurden". "Blutspritzspuren", die an Küchenmöbeln und hinter dem Herd gesichert werden, sprechen dafür. "Was da geschehen ist", fasst der Anwalt der Eltern Matthias Waldraff zusammen, "war ein Blutbad."
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Unmittelbar nach der Tat macht sich der Täter daran, seine Spuren zu beseitigen. Die "Wischkante", die die Spurensicherer später unter Waschmaschine und Herd entdecken, kann nur entstehen, wenn Blut noch nicht getrocknet ist. Um 20.31 Uhr verschickt Michael P. eine weitere SMS. Empfänger ist einer der Kollegen, mit denen er an diesem Abend im Biergarten zum Fußballgucken verabredet ist. "Hi Roland, bei mir wird es wohl später, ich komme aber in jedem Fall." Er kommt zur Halbzeit. Er habe sich bei seinem Erscheinen ganz normal verhalten, erinnern sich beide Kollegen. Ihnen fällt nichts Ungewöhnliches an ihm auf. Die Atmosphäre ist "wie immer" - lustig und locker. Gemeinsam gucken sie die zweite Halbzeit. England besiegt Trinidad 2 : 0. Dann klönen sie noch, trinken ihr Bier aus und brechen auf. Es ist ungefähr halb zwölf. Einem der beiden fällt ein paar Ecken weiter der Audi von Michael P. an einer roten Ampel auf. Nanu, denkt er, wo will der denn hin, der wohnt doch ganz woanders. Michael P., davon sind die Ermittler überzeugt, fährt zurück zur Wohnung von Karen Gaucke. Zu dem Toyota, den er dort abgestellt hat. Zu Karen, die er getötet hat. Lebt Clara noch, seine sieben Monate alte Tochter? Tötet er sie jetzt? "Das muss alles offenbleiben", sagt Rechtsanwalt Waldraff. "Ich bin aber der festen Überzeugung, dass P. jetzt beide Leichen in den Toyota geladen und zu einer vorbereiteten Stelle gebracht hat, wo er sie dann abgelegt hat." Sein Mithäftling will später von ihm gehört haben: "Das Zeitfenster war ganz eng, hat aber alles gut geklappt."