So, habe jetzt einen Teil des Buches von Alexander Horn gelesen und insbesondere die Ausführungen zum Thema.
Tatsächlich gibt es 1,5 Kapitel, die sich konkret mit dem Fall Martin N. befassen, eines thematisiert die Morde und Missbrauchstaten inklusive der Fälle in den Niederlanden und in Frankreich, im anderen Kapitel geht es darum, wie N. überführt wurde. Ich geb einfach mal eine Zusammenfassung ab, sicher wird vielen der Inhalt mehr oder weniger bekannt sein, dann bitte überlesen.
Horn und sein Team erstellten 1997 eine Fall-Analyse zu Stefan Jahr, und nach dem Tod von Dennis Klein wurden sie 2001 erneut beauftragt. Die drei Morde galten bis dahin nicht als Serie, sondern es wurde von mehreren Tätern ausgegangen. Horn und sein Team diskutierten die drei Fälle und kamen zu dem Schluss, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Serientäter für alle drei Taten zuständig war. Das mag rückblickend als banale Erkenntnis erscheinen, aber es gab Kollegen, die diese Theorie nicht teilten, etwa weil es eben doch gewisse Unterschiede gab oder weil man für eine der Taten schon einen Verdächtigen im Auge hatte, der nicht alle drei Taten begangen haben konnte. Die auffallenden Gemeinsamkeiten waren vor allem: das hohe Entdeckungsrisiko, das der Täter einging, indem er in einen geschützten Raum eindrang, statt wie eher üblich tagsüber ein Kind beim Spielen oder auf dem Schulweg wegzulocken, die sorgfältige Planung statt einer Spontantat, das Ablegen der Opfer in bis zu 280 km Entfernung (Dennis Rostel).
Dann gab es eben aber auch Unterschiede, sodass Zweifel an der Serientäter-Theorie eben durchaus verständlich waren: Stefan Jahr war älter als die beiden anderen Opfer, er war als Einziger gefesselt, Stefan und Dennis Rostel waren im Sand vergraben worden, Dennis Klein dagegen im Unterholz versteckt, nur bei Stefan war die Kleidung gefunden worden. Diese scheinbaren Unstimmigkeiten konnten sich Horn und sein Team jedoch jeweils erklären (der Täter hat hinzugelernt, Stefan als Älterer musste wegen seiner Wehrhaftigkeit gefesselt werden), sodass man von nun an die Serientäter-Theorie fokussierte.
Die Umstände bei Nicky Verstappen und Jonathan Coulom waren sehr ähnlich, sodass Horn und Team diese Taten dem Mörder mit hoher Wahrscheinlichkeit zuordneten. Besonders auffallend: drei Tage nach dem Mord an Nicky 1998 gab es einen typischen Missbrauchsvorfall mit einem schwarz gekleideten Mann in einem Schullandheim in genau dem Zimmer, aus dem 2004 dann Jonathan verschwand. Die französische Rechtsmedizin stellte allerdings zunächst fest, dass Jonathan erst drei Wochen nach seiner Entführung gestorben sei (er wurde im Wasser gefunden). Erst 2008 kam ein neues Gutachten zu dem Schluss, den auch Horn und Team favorisierten, dass Jonathan schon am ersten Tag ermordet wurde - auch interessant, wie die Rechtsmediziner da unterschiedliche Schlüsse aus den Untersuchungen der Wasserleiche zogen und für Fallanalytiker frustrierend, wenn sie ahnen, dass die erste Erkenntnis nicht zu ihrer Theorie passt.
Weiter geht es dann im Kapitel "alternative Ermittlungsstrategien". Noch im Jahr 2010 gab es keine Spur zum Täter. Im Sommer lief dann die Folge von "Ungeklärte Morde", woraufhin sich der Zeuge meldete, der damals Dennis Klein im Entführerauto gesehen zu haben meinte; erst nach Martin N.s Verhaftung erwies sich, dass er sich geirrt haben musste. Das Auto, das der Zeuge damals gesehen hatte, schien nach zehn Jahren nicht mehr ausfindig zu machen, sodass man sich eine alternative Strategie überlegte, und zwar eine gezielte Medienstrategie. Es kam zu der Pressekonferenz und der Spiegel-TV-Sendung. Wie wir wissen, kam noch vor der Sendung der Hinweis auf Martin N. durch
@Anonym233, was hier im Thread ja ausführlich Thema war, und Martin N. konnte dadurch festgenommen werden. Er passte auf die grobe Vorstellung, die Horn und Team von ihm gezeichnet hatten: Zwischen 1963-1974 geboren (1970), Bezug zu Bremen, pädagogischer Hintergrund. Er reagierte körperlich sehr auffällig, brach fast zusammen, stritt aber alles ab. Das gefundene Foto eines missbrauchten Opfers auf seiner Festplatte hatte er seiner Aussage nach im Internet heruntergeladen, und man sah sich unter Druck, ein Geständnis von ihm zu erhalten, um sicherzugehen, da es keine DNA-Treffer gab. Horn baute durch stundenlange Gespräche, in denen er N. Verständnis signalisierte, eine Art Beziehung zu ihm auf, sodass dieser ihm zu vertrauen schien, bis N. schließlich unter Tränen die drei Morde und die Missbrauchstaten in Deutschland gestand.
Fazit: natürlich keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse, aber ganz interessant zu lesen.