Der schwarze Mann/Soko Dennis
06.10.2011 um 12:06
Ich wechsel mal kurz das Thema.Bin gerade auf zwei Artikel über seine ersten Erpressungen gestoßen.
Chronologie des Schreckens und Versagens
Von Peter Voith
Verden·Bremen·Hamburg. Nett, hilfsbereit - so schildern ihn Nachbarn. Freundlich, engagiert und kompetent, das sagt sein ehemaliger Arbeitgeber über ihn. Was sie nicht wissen konnten: Martin N. war eine Art Jekyll & Hyde. Im Alter von 21 Jahren begeht er seinen - mutmaßlich - ersten Mord an einem Kind. Drei Jahre später seinen zweiten und wiederum sechs Jahre später seinen dritten. Das hat er ebenso gestanden wie 40 Fälle von Kindermissbrauch. Es dauerte 19 lange Jahre, bis er geschnappt wurde. Dabei hätte er früher auffallen können - auch den Behörden. Der Versuch einer Chronologie, zusammengestellt anhand von Berichten anderen Medien und eigener Recherchen.
© dpa
Die Bildkombo zeigt Fotos der ermordeten Jungen Stefan Jahr, Dennis Rostel und Dennis Klein (von links) bei der Pressekonferenz der SOKO Dennis in Verden an einer Pinnwand.
Im Dezember 1970 wird Martin N. in Bremen geboren. Er wohnt zusammen mit seinem älteren Bruder in einem Hochhaus am Holzgräfenweg im Stadtteil Schönebeck. Als er wenige Jahre alt ist, verlässt sein Vater die Familie. Seine Mutter, die danach noch einen Sohn bekommt, muss die Kinder alleine großziehen. Mit einem seiner Brüder teilt er sich ein Zimmer. Freunde, so wird später ein Gutachter vor dem Amtsgericht Blumenthal aussagen, habe er nicht mit nach Hause bringen dürfen. Nach der Grundschule besucht er das Schulzentrum Lerchenstraße. Er will Abitur machen. Den Mitschülern fällt er nicht weiter auf, er gilt als Eigenbrötler und Einzelgänger.
Im Mai 1987 beginnt Martin N. seine kriminelle Karriere. Obwohl als 16-jähriger mitten in der Pubertät - die Taten einfach als üblen Streich eines Teenagers abzutun, dazu sind die Opfer bis heute nicht bereit. Bis zum August des folgenden Jahres, also 15 Monate lang, hält der Gymnasiast fünf wohlhabende Familien aus Bremen-Nord und Leuchtenburg unter nervlicher Dauerbelastung. Er schickt ihnen handgeschrieben Erpresserbriefe, in denen er sechsstellige D-Mark-Summen fordert. Andernfalls, so droht er, werde "EINES IHRER KINDER STERBEN", wie es in Großbuchstaben in den Briefen heißt. Die Familien wenden sich an die Polizei. Es werden Fangschaltungen an den Telefonen eingerichtet, das Geld wird besorgt, die Geldübergaben vorbereitet. Doch der Erpresser kommt nicht. Er bleibt zu Hause, will offenbar nur sehen, wie die Familien auf seine Briefe reagieren. Eine Mutter hat den Verdacht, es könnte sich bei dem Erpresser um einen Mitschüler ihrer Kinder handeln. Also setzt sie sich tagelang in die Schule und guckt die Arbeiten von allen Schülern durch. Vielleicht kann sie die Handschrift wiedererkennen. Doch Martin N. besucht zu dieser Zeit bereits eine andere Schule.
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Fotostrecke: Pressekonferenz zum Mordfall Dennis
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Im August 1988 macht der 17-Jährige einen entscheidenden Fehler. Ein neuer Erpresserbrief wird von Kriminaltechnikern in Hamburg untersucht. Darauf können sie Fragmente einer Adresse erkennen, die auf einem Blatt gestanden haben muss, dass unter dem Stück Papier lag, auf das er seine Forderungen schrieb. Die Kriminaltechniker können die Adresse sichtbar machen und den Gymnasiasten festnehmen. Wenig später muss er sich vor dem Amtsgericht verantworten. Nach der Erinnerung einer Opferfamilie wird er zu acht Wochenenden Sozialdienst verurteilt, unter Berücksichtigung seines Alters und seiner sozialen Umstände. Die Akte über diese Jugendstrafe wird Jahre später vorschriftsgemäß vernichtet. Die Familien, die jetzt gewahr werden, in welcher Gefahr ihrer Kinder damals tatsächlich geschwebt haben, müssen erneut mit der Verarbeitung der Vorfälle von damals beginnen.
Anfang der 1990er Jahre beginnt Martin N. sein Lehramtsstudium in Bremen. Wann genau und wo er als Referendar in Bremen gearbeitet hat, lässt sich momentan nicht nachvollziehen. Die entsprechende Personalakte hat das Landesinstitut für Schulen Ende März an die Soko Dennis übergeben. 1997 soll er jedoch noch als Referendar an einer Klassenfahrt nach Juist teilgenommen haben. Sein Studium, so hieß es, hat er danach nicht zu Ende gemacht, sondern auf Sozialpädagogik umgesattelt.
Anfang März 1992 im Schullandheim Hepstedt, das vor allem von Bremer Grundschulklassen genutzt wird: Eine Lehrerin überrascht nachts im Gebäude einen Unbekannten. Der Mann kann fliehen.
Am 31. März 1992 oder kurz danach begeht Martin N. seinen - mutmaßlich - ersten Mord an einem Kind. Der 13-jährige Stefan Jahr verschwindet in der Nacht aus seinem Zimmer im Internat in Scheeßel. Keine fünf Wochen später, am 3. Mai, finden Spaziergänger seine im Sand verscharrte Leiche in den Verdener Dünen - unweit des Schullandheims Verdener Brunnen, das ebenfalls häufig von Bremer Kindern frequentiert wird.
Bis Ende Oktober 1992 häufen sich Fälle, in denen Kinder, die in Hepstedt übernachten, von einem "Schwarzen Mann" oder auch einem "Doktor" erzählen, der sie nachts am Bett überrascht hat. Obwohl das Heim Ketten an den Türen anbringt und Schlösser auswechselt, gelingt es dem Täter Ende Oktober, in mehrere Zimmer einzudringen und Kinder sexuell zu missbrauchen Die Polizei geht mit einer Täterbeschreibung an die Öffentlichkeit. Die Sicherheitseinrichtungen im Heim werden nochmal verschärft. Danach gibt es keine weiteren Vorfälle in Hepstedt.
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Fotostrecke: Die Suche nach dem Mörder von Dennis
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Im Jahr 1994 - Martin N. müsste zu dieser Zeit bereits in der Rembrandtstraße in Schwachhausen gewohnt haben - gerät er in Verdacht wegen sexuellen Missbrauchs. Das Verfahren wird eingestellt. Dem Vernehmen nach gibt es darüber keine Unterlagen mehr, lediglich einen Kurzeintrag im Polizeicomputer.
Im Juli 1995 verschwindet der achtjährige Dennis Rostel aus einem Zeltlager am Selker Noor (Kreis Schleswig-Flensburg). Eine der größten Suchaktionen in der Geschichte des Kreises beginnt. Im Folgemonat findet ein Jogger die Leiche des Jungen in den Dünen der dänischen Stadt Holstebro. Später wird sich herausstellen: Martin N. hatte zu dieser Zeit ein Ferienhaus angemietet, in dem er das entführte Kind einige Zeit gefangen hielt.
In diesen Monaten des Jahres 1995 missbraucht Martin N. auch einen zehnjährigen Jungen aus Bremen. Beide, der Junge und der Lehramtsstudent, waren sich bei einer Jugendfreizeit begegnet. Der Student fragt den Jungen intensiv danach, wo er wohnt, wo sich sein Zimmer befindet und wo das seiner Eltern. An dieses Detail wird sich der Junge aber erst im Frühjahr 2011, also 16 Jahre später erinnern. Dieser Hinweis wird für die Polizei zum Schlüssel.
Im Jahr 1998 zieht Martin N. von Schwachhausen in die Hegelstraße (Neustadt). Nachbarn fällt er hier kaum auf. Angeblich studiert er inzwischen Sozialpädagogik. Wie er sein Studium finanziert, ist unklar. Nur, dass er hier und da "in der Jugendbetreuung arbeitete", wie es hieß. Möglicherweise weist das Jugendamt ihm auch Pflegekinder zu. Ob es wirklich so war, ist noch immer unklar. Die Sozialbehörde prüft das, heißt es aktuell weiterhin.
Im Juni betritt ein maskierter Mann das Schullandheim Badenstedt in Zeven. Er geht nachts in den Schlafraum und berührt mehrere Kinder. Die Kinder fangen an zu schreien, so dass der Mann fliehen muss.
Im Juli 1999 wird ein Junge draußen vorm Schullandheim Wulsbüttel von einem maskierten Mann missbraucht. Der Täter schärft dem Jungen ein, ja nichts zu erzählen. Erst als der Junge rund ein Jahr später wieder ins Schullandheim soll, vertraut er sich seinen Eltern an.
Im Jahr 2000 zieht Martin N. von Bremen nach Hamburg. Er findet eine Anstellung bei der evangelischen Jugendhilfe Friedenshort GmbH in Harburg. Hier betreut er schwer erziehbare Jugendliche in Wohngruppen.
4. September 2001: Der neunjährige Dennis Klein verschwindet in der Nacht zum 5. September aus dem Schullandheim Wulsbüttel im Kreis Cuxhaven. Hunderte Polizeibeamte, Jäger sowie Soldaten, freiwillige Helfer und die Wasserschutzpolizei suchen zwei Wochen nach dem Jungen. Dann finden Pilzsammler seine Leiche an einem versteckten Feldweg zwischen Kirchtimke und Hepstedt - unweit des Schullandheims, in dem der "schwarze Mann" neun Jahre zuvor sein Unwesen getrieben hatte. Die Polizei gründet die Sonderkommission Dennis, in der jetzt auch die Frage diskutiert wird, ob man es hier mit einem Serientäter zu tun hat.
Im Jahr 2005 wird Martin N. von einer Mutter in Hamburg angezeigt. Er hatte einen sechs- und einen achtjährigen Jungen am Bauch gestreichelt, "um mich zu erregen", wie er Ermittlern später nach Medienberichten gestehen wird. Der Staatsanwalt stellt das Verfahren gegen eine Geldauflage von 1800 Euro ein. Begründung: Es handele sich um einen "unterschwelligen Fall".
Im Juli 2006 wird Martin N. wegen versuchter Erpressung angeklagt. Er hatte dem Leiter eines Jugendheims nahe Berlin gedroht, kinderpornografische Bilder aus dessen Besitz seinem Arbeitgeber zu zeigen, falls er nicht 20000 Euro zahlt. Er wird zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.
Im Jahr 2007 durchsuchen Polizeibeamte die Wohnung von Martin N. in Hamburg. Sie finden kinderpornografische Bilder auf seinem Rechner. Doch das hat für Martin N. keine strafrechtlichen Konsequenzen. Man kann ihm nicht nachweisen, dass er auf die Bilder gerade erst zugegriffen hat. Der letzte nachweisbare Zugriff liegt laut Staatsanwaltschaft so weit zurück, dass die Tat verjährt ist und das Verfahren eingestellt werden muss.
Im selben Jahr nimmt sich die Soko Dennis im Rahmen einer Routinebefragung unter 1000 Männern, die schon mal mit Sexualdelikten aufgefallen waren, auch Martin N. vor. Dem Jugendbetreuer gelingt es, sich herauszureden.
Januar 2008: Der Arbeitgeber von Martin N. erfährt von der Staatsanwaltschaft, dass ein Verfahren wegen Kinderpornografie gegen seinen Mitarbeiter eingestellt werden musste. Die Friedenshort GmbH reagiert und kündigt das Arbeitsverhältnis.
Ende 2008 wird Martin N. im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Kinderpornografie um die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe gebeten. Er kommt der Vorladung aber nicht nach. Der Staatsanwalt wird später sagen, dass man ihn nicht hätte dazu zwingen können, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlagen.
Im Jahr 2010 meldet sich ein Jogger bei der Soko, der Dennis Anfang September 2001 zusammen mit einem bulligen Mann mit Brille und kurzen Haaren, Anfang 30, in einem hellen Opel Omega Caravan gesehen haben will.
10. Februar 2011: Die Fahnder präsentieren diese neue Spur der Öffentlichkeit. Sie führt ins Nichts. Stattdessen erinnert sich jetzt aber angesichts der Medienberichte ein Missbrauchsopfer wieder an Details der Tat im Jahr 1995 - für die Soko der Schlüssel zum Verhaftungserfolg.
15. April 2011: Die Sonderkommission teilt mit, dass sie einen Tatverdächtigen festgenommen hat, der drei Morde an Kindern und 40 Missbrauchsfälle gestanden hat. Er heißt Martin N., geboren in Bremen, wohnhaft in Hamburg, 40 Jahre alt und in der Jugendbetreuung tätig. Jetzt prüft die Soko, ob er für weitere Morde verantwortlich ist.
Seine Jugendtaten belasten die Familien bis heute
Von Peter Voith
Bremen. Es ist 24 Jahre her. Nicht lange genug, um alles zu verarbeiten. Nach unserer Berichterstattung über die Erpressungen, die der mutmaßliche Kindermörder Martin N., im Jahr 1987 begangen hat, meldete sich nun ein weiteres Bremer Opfer.
© Christian Kosak
In diesem Hochhaus am Holzgräfenweg wohnte Martin N., während er fünf Familien mit Erpresserbriefen bedrohte.
Er ist ebenfalls Mediziner aus Bremen-Nord und Vater von fünf Kindern. Während er die Ereignisse von damals schildert, ringt der inzwischen im Ruhestand befindliche Arzt um Fassung. Er schluckt. Und er weint. Immer wieder muss er seine Ausführungen unterbrechen. Darüber ist er heute selbst am meisten überrascht: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Ereignisse offenbar immer noch nicht verarbeitet habe.“
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Fotostrecke: Pressekonferenz zum Mordfall Dennis
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Und er erinnert sich, als wäre es gestern. Dass er die Erpresserbriefe vor seinen Kindern geheim halten musste. Einer seiner Söhne war sogar ein Klassenkamerad von Martin N. Sie gingen zusammen in eine Klasse am Schulzentrum Lerchenstraße. Er erinnert sich, wie er am helllichten Tag einen Geldkoffer mit den geforderten 100.000 Mark am Leuchtturm von Meyer-Farge deponieren sollte, während ein Beamter der Polizei Osterholz-Scharmbeck die Szenerie aus der Entfernung per Fernglas beobachtete.
Martin N. wollte nur die Reaktionen sehen
Denn der Täter hatte auch diesem Nordbremer Arzt in seinen Erpresserbriefen eingeschärft: Keine Polizei, sonst werde eines seiner Kinder sterben. Dabei hatte Martin N. offenbar gar nicht vor, das Lösegeld abzuholen. Wie es in Medienberichten über den Fall im Jahr 1988 hieß, habe er offenbar nur sehen wollen, wie die Familien reagierten. Wie die Opferfamilie des anderen erpressten Arztes, möchte auch der Mediziner im Ruhestand seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Aber sprechen möchte er darüber schon. „Ich merke, dass es mir gut tut, wenn man sich die Ereignisse von damals von der Seele reden kann.“
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Fotostrecke: Die Suche nach dem Mörder von Dennis
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Inzwischen interessiert sich auch die Soko Dennis für die kriminelle Energie, die in Martin N. offenbar schon als 17-Jähriger steckte. Beide Ärzte wollen gern mit der Polizei reden, auch um eventuell die Frage aufwerfen zu können, ob man vielleicht auch mit jugendlichen Straftätern, die erpressen und mit Mord drohen anders umgehen müsste, als sie nur – wie im Fall Martin N. – zu acht Wochenenden Sozialdienst zu verurteilen. Beide Mediziner kommen in der Rückschau zu einem einhelligen Urteil: „Hätte man die Tat damals nicht als Jugendsünde eines pubertierenden Gymnasiasten abgetan – vielleicht wäre alles anders gekommen.“
Gutachter warb für Verständnis
Tatsächlich, so erinnert sich die Ehefrau eines der beiden Ärzte, habe der Gutachter – ein Psychologe – in der Gerichtsverhandlung um Verständnis für die Jugendtat geworben. Der Junge – er wohnte zusammen mit Bruder und Mutter in einem Hochhaus am Holzgräfenweg – habe kein eigenes Kinderzimmer gehabt, habe keine Freunde mit nach Hause mitbringen dürfen. Und er habe gesehen, dass Mitschüler aus wohlhabenden Häusern sich hätten mehr leisten können. Deshalb, so erinnert sich die Ehefrau, habe der Psychologe von einer Mischung aus Hass und Neid gesprochen und darum geworben, dem angehenden Abiturienten durch eine höhere Strafe nicht das weitere Leben zu verbauen.
Ihr Mann sagte am Dienstag gegenüber unserer Zeitung: „Damals, nach der Gerichtsverhandlung war ich überzeugt, dass er die Kinder nicht umgebracht hätte. Heute sehe ich das anders.“
Als Martin N. 1988 im Gerichtssaal saß, war auch eines der Arztehepaare dabei. Martin N., so erinnert sich die Frau, habe immer nach unten geschaut und sein Gesicht verborgen. Im Gerichtssaal saß auch seine Mutter, völlig aufgelöst. Sie, so sagt die Arzt-Gattin, habe es nicht fassen können, dass ihr Sohn so etwas gemacht habe. „Nach der Gerichtsverhandlung hat sie geweint. Da habe ich sie in den Arm genommen. Sie tat mir leid.“