sommerday schrieb:@Rick_Blaine wie lange kann die U-Haft unter diesen Umständen aufrecht erhalten werden. Ist es nicht so, dass in Frankreich Untersuchungshaft bis auf 3 Jahre ausgedehnt werden kann? Welche Voraussetzungen müssen dazu gegeben sein?
Tja, das ist hier die Frage. Aus meiner persönlichen Berufserfahrung würde ich jeden Tag mehr mit einer für die Staatsanwaltschaft unangenehmen Nachfrage der Haftrichter rechnen, aber ich praktiziere freilich nicht in Frankreich.
In Frankreich klaffen Theorie und Praxis in diesem Punkt leider unglaublich weit auseinander.
Die Theorie sagt, wenn kein Haftgrund mehr vorliegt, muss der Inhaftierte freigelassen werden, denn er gilt vor dem Gesetz ja als unschuldig bis er verurteilt wird. Untersuchungshaft soll nach der Theorie in Frankreich nur "das letzte Mittel, eine Ausnahme" sein.
Haftgründe sind u.a. Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr, Schutz der Öffentlichkeit und Erfordernis der Ermittlungen, sie sind den deutschen Gründen ähnlich.
In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. In Frankreich wird U-Haft sehr oft verhängt und es muss sich regelmässig vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen seiner Untersuchungshaftpraxis rechtfertigen und wird regelmässig wegen Verstössen gegen die Menschenrechtskonvention verurteilt, ohne dass sich irgendetwas ändert.
Viele Juristen sehen dieses Thema als eines der dringendst reformbedürftigen in Frankreich an, aber Politiker sehen das ganz anders.
In der Praxis bedeutet das: Viele Juristen würden hier sagen, dass angesichts des scheinbaren Stillstands der Ermittlungen (wir wissen freilich nicht, was sich hinter den Kulissen so tut) ein Ende der Untersuchungshaft angemessen wäre: entweder müsste nun eine Hauptverhandlung anberaumt werden und die Staatsanwaltschaft muss versuchen, mit den dürftigen Indizien eine Verurteilung zu erreichen, oder Reiser müsste freigelassen werden.
Tatsächlich aber kann man wohl erwarten, dass er noch eine ganze Zeit lang inhaftiert bleiben wird. Drei bis vier Jahre sind normalerweise das Maximum, wobei es auch Fälle gegeben hat, in welchen die U-Haft sechs oder mehr Jahre betrug - das sind die Fälle, die regelmässig vor dem EGMR landen.
Allerdings sind diese Fälle mit sehr langen Haftzeiten oft anders gelagert: Ermittlungen werden im Ausland geführt, Ermittlungen sind sehr komplex und beziehen sich auf mehrere Taten usw.
Wenn es wirklich so ist, wie es scheint, dass man Reiser vermutlich nachweisen kann, dass Sophie am Tag ihres Verschwindens in seiner Wohnung gewesen ist, dass man dort ihr Blut gefunden hat - und sonst gar nichts anderes, und sich auch gar nichts mehr bewegt, dann wird die Staatsanwaltschaft irgendwann die obige Wahl treffen müssen.
Für uns hier ungewöhnlich ist die französische Praxis, so gut wie nichts über die laufenden Ermittlungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Das macht es schwer, die Ermittlungen einzuschätzen. Zum Beispiel wissen wir gar nicht, was die Laboruntersuchungen in Paris erbracht haben. Man erinnere sich: vor einiger Zeit wurden Untersuchungen der in seinem Fahrzeug gefundenen Gegenstände angeordnet.
Wir wissen auch gar nichts über Ermittlungen hinsichtlich potentieller anderer Opfer oder ähnlicher Verhaltensweisen. Bis heute ist nicht bekannt, was "Betsy" den französischen Ermittlern denn nun ausgesagt hat.
Irgendwann aber muss die Staatsanwaltschaft Farbe bekennen.