Boho schrieb:Für sie war es aber das, was sie gebraucht hat und er hat das brav bedient, solange es eben auch seinen Zwecken diente.
Er hat das "brav" bedient, weil es genau das war, was er essentiell brauchte, um seinen eigenen Mangel auszugleichen. Es hat ihm nicht nur irgendein Bedürfnis befriedigt, es war nicht nur ein saurer Apfel, in den er nun mal beißen musste, sondern es war die Voraussetzung (!) dafür, um mit dem versorgt zu werden, was er braucht, um sein Funktionieren grundlegend sicherzustellen. In dieser Hinsicht dürften sich beide in ungesunder Weise ergänzt haben. CW, der Menschen braucht, die IHN brauchen, da sein Selbstbild, d.h. die Grundlage seiner Persönlichkeit (!) andernfalls in Wanken gerät und Shanann, die ihrerseits jemanden braucht, der ihr durch sein Da-Sein und Handeln auf Zuruf eine grundlegende Sicherheit gibt, die sie im Innern womöglich nicht hat. Sie kompensierte damit ungewollt seinen Mangel, während CW nach Schloss-Schlüssel-Prinzip ihren Mangel kompensierte.
Und natürlich muss man im Hinterkopf behalten, dass auch Shanann ein Teil der Dynamik war, die CWs Verhalten letztlich zu Teilen erklären kann. Aber es bedeutet nicht, dass all das nicht passiert wäre, wenn Shanann sich anders verhalten hätte. Im Gegenteil.
Nach Nutgate HAT sie sich anders verhalten. Sie hat ihren eigenen Mangel überwunden und CW durch ihre abgegrenzte Haltung was die Kinder angeht mehr als klar vor Augen geführt, dass sie in diesem Punkt auf seine Versorgung mit Sicherheit, auf den Ausgleich ihres Mangels nicht mehr angewiesen ist. Ihre eigenen Kinder haben ihr zu dem (Entwicklungs-)schritt verholfen, der ihr zuvor womöglich fehlte: nämlich Verankerung in sich selbst, ihren Werten und ihrer Auffassung von Wahrheit zu finden und sich selbst statt von ihm abhängig zu machen, ihr Handeln nun ausschließlich von ihren eigenen Auffassungen abhängig zu machen.
Für einen pathologischen Narzissten ist das, wie bereits mehrmals erwähnt, der absolute Krieg, die absolute Gefahr, in der ihm nun droht, die Grundlage seiner persönlichen Existenz, den Rahmen, der seine Persönlichkeit zusammenhält, zu verlieren. Ohne Menschen, die ihn brauchen und dirigieren, ist er nicht überlebensfähig.
Daher ist es auch kein Zufall, dass er nach Nutgate alles erdenklich mögliche tut, um Shanann in ihrem eigenen Selbstzweifel, ihrem eigenen Defizit zu treffen und das hat er geschafft. Denn nun wurde Shanann ambivalent und schwankte ständig zwischen Abgrenzung und absoluter Verunsicherung (d.h. SELBST-Unsicherheit) hin und her. Nicht umsonst galt ihr erster Gedanke bei Überlegungen zu einer möglichen Scheidung zunächst einem worst-case: "ich schaffe das nicht allein mit 3 Kindern", statt dem Gedanken "egal wie, irgendwie kriege ich das hin, ich hab schon ganz Anderes geschafft!". Nicht umsonst betrieb sie während des anschließenden Business-Trips, wie wir von Nichol, ihrer Freundin wissen, permanentes "Second guessing" und fragte stets nach, ob ihr Verhalten okay, oben-drüber, zu lasch, zu laut, zu extrem oder zu irgendwas ist. Nicht umsonst fing sie an, Deeskalation zu betreiben, indem sie dann wieder ganz liebevoll und anerkennend in ihren SMS an ihn schrieb und ihn bat, bestimmte Dinge zu erledigen (z.B. die Schultaschen der Kinder zu packen, die Kindersitze in den Lexus zu packen). All das zeigt an, dass sie wieder in ihrer eigenen Selbstunsicherheit gefangen war, statt sich an sich selbst aufzurichten.
Und dennoch hat sie versucht, einen gesunden Weg, gesunde Veränderungen zu finden. Sie plante, ihm und der Familie mehr Zeit einzuräumen, ihn mehr teilhaben zu lassen, ihr Verhalten zu ändern, sich gemeinsam mit ihm über ihre Ehe auseinanderzusetzen. Sie setzte sich mit zukünftigen Änderungen auseinander - nicht wissend, dass ihr Ehemann aller Wahrscheinlichkeit nach schon eine Entscheidung hierüber traf, als Shanann sich erstmals für sich selbst und die Kinder entschied. Und ich bin der festen Ansicht, dass Shanann ab Nutgate nichts, aber auch gar nichts hätte tun können, um dem, was dann folgte, zu entgehen. Es hätte für CWs Handeln meiner persönlichen Meinung nach nicht den geringsten Unterschied gemacht, ob sie ihn weiter kontrolliert oder nicht, ob sie nett oder nicht nett ist, ob sie ihn konfrontiert oder nicht konfrontiert.
Es gibt einen kleinen Indikator, der anzeigte, dass CW scheinbar anfing, zu schwanken und wo Shanann etwas tat, das IHN womöglich verunsicherte, und das war der Moment, als sie es ihm gleichtat und nicht auf seine eingehenden Anrufe reagierte, obwohl sie zuvor sofort ans Telefon sprang, wenn er anrief. Bezieht man es auf diesen Fall, dessen Outcome wir kennen, könnte man sagen, dass Shananns einzige Rettung wahrscheinlich gewesen wäre, auf Distanz zu bleiben - sowohl räumlich als auch kommunikativ. In dem Moment jedoch, als ihre Kinder bei ihm waren und sie auf Geschäftsreise, war das nicht mehr möglich. Sie musste zurückkehren. Und ich denke, dass CW sehr bewusst war, dass er durch diese Situation (wieder) alle Macht auf seiner Seite hatte. Denn als Shanann ihm nach Nutgate ankündigte, "so" nicht einfach mit ihm nach Hause fahren könne - sie ihm also andeutete, dass der Konflikt dazu führt, dass ihr (räumliche) Distanz zu ihm lieber wäre, wurde CW wieder halbwegs geschmeidig und kommunizierte wieder verstärkter mit ihr. Eine Technik des "Einfangens", so dass Shanann ihre Grenze wieder aufweichen würde.
Ich beschreibe das deswegen so ausführlich, weil es aus meiner Sicht wichtig erscheint, klarzustellen, dass man an diesen Fall einen anderen Maßstab anlegen muss, als jenen, den man bei gewöhnlichen "Beziehungskisten" anlegt. In diesem Fall hier kann eben nicht impliziert werden "hätte Shanann nicht so jämmerlich genervt, dann hätte CW nicht so gehandelt" - wie es mir in deinem Post, Boho, latent anklingt. CW ist aus meiner Sicht eben kein Opfer einer drangsalierenden Ehefrau. Und dennoch: ja, es ist wichtig, auch Shananns Verhalten nicht außen vor zu lassen - ABER: es ist nicht geeignet, um die Schuldfrage zu klären geschweige denn in der Schuldverteilung IHREN Anteil zu verorten. Einen Menschen zu töten entspricht keinem normalen und auch keinem gesunden Verhalten. Nicht Shanann hat diese Familie ausgelöscht, sondern es war Chris Watts. Auch der bloße Umstand, dass er ein pathologischer Narzisst sein dürfte, erklärt an sich noch nicht, weswegen er das tat - denn ein Gros dieser Menschen tötet seine Familie eben nicht, auch nicht nach einer Trennung. Stellt man sich nun also die Frage, was diesen Menschen bewogen hat, es dennoch zu tun, dann MUSS man sich sehr viel intensiver mit SEINER Person und SEINEM Verhalten auseinandersetzen und wie das Verhalten Anderer auf einen solchen Menschen gewirkt haben könnte, statt im Verhalten der Anderen den Ursprung seines Handelns zu suchen.
Es mag für den einen nach Haarspalterei aussehen, aber mir ist mit Erschrecken noch der Fall der Tramperin in Erinnerung, die in Spanien ermordet von dem LKW-Fahrer, der sie mitnahm, aufgefunden wurde. Entsetzen darüber, wie leicht es Menschen fällt, zu sagen: "ja war doch klar! Selbst Schuld, wer sich diesem Risiko aussetzt!" - statt in Betracht zu ziehen, dass kein Mensch auf dieser Welt das Recht hat, einem anderen das Leben zu nehmen. Daher denke ich, sollte man recht umsichtig vorgehen, wenn man Opferverhalten analysiert und noch umsichtiger, wenn man das Opferverhalten in einen kausalen Zusammenhang zur Tat bringen möchte.