Weiterhin passt Frauke Liebs überhaupt nicht in das Opfer- und Tatschema des Folterpaares. Die beiden hatten es überwiegend auf einsame und daher leicht manipulierbare Frauen abgesehen. Opfer die sie in einem psychischen Abhängigkeitsverhältnis einsperren konnten, anstatt in einem physischen Gefängnis.
Ich wäre mir nicht so sicher, ob sich das unbedingt gegenseitig ausschließt. Nur mal als Beispiel: Der Fall Höxter weist einige Parallelen auf zum "Horrorhaus" von Fred und Rosemary West, die jahrzehntelang in Gloucester/UK ihr Unwesen getrieben haben. Zu deren Opfern zählten zwei ehemalige Lebensgefährtinnen von Fred, drei bindungslose junge Frauen, die sie zur Untermiete bei sich aufgenommen hatten, sechs direkt von der Straße entführte Mädchen, und zwei der eigenen (Stief-)Kinder.
Manche Schwerstverbrecher sind eben nicht wählerisch, was ihre Opfer anbelangt. In den meisten Fällen dürfte die "Verfügbarkeit" der Opfer das entscheidende Kriterium sein - und nicht so sehr die Tatsache, dass sie sich auf irgendeinen ganz spezifischen Opfertyps festgelegt hätten. Dass Winfried und Angelika W. es offenbar auf einsame Frauen abgesehen hatten, dürfte ganz einfach damit zu begründen sein, dass diese eben "leichte Beute" waren. Aber vielleicht trifft das aus deren Sicht auch auf ein zierliches junges Mädchen zu, das nachts alleine auf den verwaisten Straßen von Paderborn unterwegs ist...
Außerdem ist ja auch gar nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil eher typisch, dass Täter mit der Zeit eine gewisse Evolution durchlaufen und ihr Vorgehen "optimieren". Darum sehe ich darin jetzt nicht unbedingt ein Entlastungsindiz für die Herrschaften aus Höxter. Zumal ja doch eine beachtliche Fülle von Indizien für die Täterschaft des Paares spricht:
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I) Art und Durchführung der Taten
"Das Paar soll die Opfer im Kofferraum eines Wagens ganze Nächte lang herumgefahren haben" [6]. - Diesen Sachverhalt muss man sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Das ist exakt dasselbe, was auch Frauke widerfahren ist. Und es dürfte selbst unter den abgebrühtesten und verrücktesten Kriminellen nicht viele geben, die so etwas tun. Schon allein deswegen, weil es im Grunde völlig absurd ist. Damit spricht das meines Erachtens ganz massiv dafür, dass wir es hier mit ein und demselben Täter zu tun haben.
Aber wir haben noch weitere bemerkenswerte Parallelen:
Das Höxterpaar hat den Angehörigen seiner Opfer SMS geschickt, um sie zu beruhigen und keinen Verdacht einer Straftat aufkommen zu lassen [8]: "Der Mutter des Opfers schickten sie vom Handy ihrer Tochter Kurzmitteilungen. Sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe ihr gut". - Auch dieses sonderbare Detail ist ganz prominent im Fall von Frauke.
Außerdem hat das Höxter-Paar mindestens einem seiner Opfer Medikamente verabreicht, um es wehrlos zu machen [1]. Laut Chris klang Frauke am Telefon "total benommen, wie auf Drogen, gar nicht sie selbst" [2].
Allein diese Parallelen würde meines Erachtens schon ausreichen, um einen äußerst dringenden Tatverdacht gegen Wilfried und Angelika W. zu rechtfertigen. Schließlich handelt es sich bei den genannten Punkten ja nicht um "Allerweltsverbrechen", wie man sie häufiger antrifft, sondern um ein außerordentlich spezifisches Vorgehen. Und wie wahrscheinlich ist, dass innerhalb eines relativ kleinen Gebiets unabhängig voneinander zwei Täter operieren, deren Tatausführung sich bis in solch winzige Details gleicht?
Und selbst wenn wir bereit wären anzunehmen, dass einzelne Aspekte (wie beispielsweise das nächtliche Umherfahren der Opfer) durchaus bei zwei unterschiedlichen Tätern hätten auftreten können - es bleibt ganz und gar unglaubwürdig, dass in so einem Fall alle genannten Details übereinstimmen: Das länger andauernde Festhalten der Frauen UND das nächtliche Umherfahren UND die Beruhigungs-SMS UND die Verabreichung von Drogen… Das sind einfach zu viele Gemeinsamkeiten, als dass man hier realistischer Weise von zwei unterschiedlichen Tätern ausgehen könnte.
Aber es gibt noch mehr.
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II) Die geographische Lage
Die beiden lebten zur Tatzeit in Schlangen. Das sind ca. 20 Autominuten in die Paderborner Innenstadt, 20-30 Minuten in den Sendebereich Nieheim-Entrup, 16 Minuten nach Dreihausen, 12 Minuten nach Dören, 17 Minuten nach Münkeloh und 24 Minuten zum Ablageort der Leiche.
Das entspricht exakt dem Bild, das man erwarten würde. In der Tat erscheint das wie ein Fallbeispiel aus dem Lehrbuch für "Geographical Profiling":
Jeder einzelne "Tatort" ist weit genug vom Ankerpunkt Schlangen entfernt, dass sich der Täter dort sicher fühlen konnte, aber keiner so weit, dass es umständlich oder besonders zeitaufwendig gewesen wäre dorthin zu gelangen (vgl. "least effort principle" [3]). Es gibt nur wenige Orte im Umkreis von Paderborn, auf die beide Kriterien tatsächlich in dieser Form zutreffen.
Mehr noch: Vier von sieben Kontaktaufnahmen erfolgten aus einem nahe gelegenem Gebiet im Osten Paderborns (ca. 12 Minuten Fahrtzeit). Zwei weitere dürften innerhalb von ca. 16-17 Minuten zu erreichen gewesen sein. Und nur ein einziger Ort der Kontaktaufnahme war mehr als 20 Minuten von Schlangen entfernt. Also mit anderen Worten: Die "Konzentration" der Tatorte ist also umso höher, je näher man sich am Wohnort des Täters befindet. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das in der Kriminalistik sehr häufig antrifft und das man als "distance decay" bezeichnet [3]. Auch das ist hier also lehrbuchmäßig vorhanden.
Der Ablageort der Leiche ist mit ca. 24min Fahrtzeit wieder deutlich weiter entfernt vom Wohnort des Täters. Ebenfalls typisch.
Schlangen passt also perfekt, wenn es um die Frage des Täterwohnortes geht.
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III) Ortskenntnisse
Täter operieren in der Regel innerhalb ihrer "Komfort-Zone" - d.h. an Orten, mit denen sie gut vertraut sind [3]. Wilfried lebte in den 90er Jahren in Paderborn-Benhausen [4] - also lediglich 2 km (!) entfernt von Dören, von wo aus die meisten (4 von 7) Kontaktaufnahmen stattgefunden haben. Zufall?
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Was verbindet das Höxter-Paar mit den anderen tatrelevanten Orten? Gibt es eine plausible Begründung für potentielle Ortskenntnisse?
Was Nieheim-Entrup betrifft können wir nichts genaues sagen, weil es nicht möglich ist den Sendeort geographisch ausreichend präzise einzugrenzen. Aber: Alle anderen Kontaktaufnahmen erfolgten aus Gewerbegebieten, in denen Geschäfte angesiedelt sind, die Kfz-Zubehör- und Bauteile verkaufen. Das ist (soweit mir das heute ersichtlich ist) die einzige (!) Branche, die in allen drei fraglichen Gewerbegebieten gleichzeitig angesiedelt ist.
Wilfried absolvierte eine Lehre zum Kfz-Mechaniker [4][5], war als Gebrauchtwagenhändler tätig [6] und auch sonst autobegeistert [7]. Anscheinend hat er auch selbst hobbymäßig an denen herumgeschraubt ("umgebauter Krankenwagen"? [6]).
Natürlich ist das alleine noch kein Beweis für irgendetwas - aber es ist ein weiteres Mosaiksteinchen. Hier haben wir nämlich eine realistischer Erklärung für die Vertrautheit des Täters mit allen drei betreffenden Gewerbegebieten, die offenbar so weit ging, dass er sich dort "sicher" fühlte. Immerhin: Dieses Maß an Vertrautheit bekommt man nicht, wenn man ein oder zweimal mit dem Auto dran vorbei gefahren ist - das setzt schon voraus, dass man sich zuvor regelmäßig dort aufgehalten hat. Und Winfried hatte durch seine Profession bzw. Vorliebe (anders als der allergrößte Teil der Bevölkerung, wohlgemerkt) einen Grund, sich regelmäßig in allen drei Gewerbegebieten aufzuhalten.
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IV) Die kriminelle Vor- und Nachgeschichte
In der Regel beginnt kein Krimineller seine Karriere mit einer Entführung, die in Mord gipfelt (- opportunistische Motive wie Habgier vielleicht mal ausgeschlossen, aber das liegt hier ganz sicher nicht vor). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der Mörder von Frauke bereits vorher strafrechtlich in einem ähnlichen, aber nicht ganz so schwerwiegenden Kontext in Erscheinung getreten ist.
Das haben wir wieder eine Übereinstimmung mit der Biographie von Wilfried. Der wurde bereits 1995 wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung (!) verurteilt [4]. Generell erstrecken sich seine bisher bekannt gewordenen Taten auf folgende Zeiträume:
Frühjahr 1994 - September 1994 (ab 1995 Haftstrafe bis vermutl. 1998),
August 2011 - März 2012,
Sommer 2013 - August 2014,
Ende 2015 - April 2016.
Es scheint mir in hohem Maße unplausibel, dass jemand, der später in einer solchen Frequenz Straftaten begeht, zwischen 1998 und 2011 ein tadelloses bürgerliches Leben geführt haben soll.
Und umgekehrt erscheint es mir ebenso unglaubwürdig, dass der Mörder von Frauke keine weiteren bekannt gewordenen Straftaten desselben Typs begangen haben soll.
Beides würde sich aber sehr schön zusammenfügen, wenn wir hier von ein- und demselben Täter ausgehen.
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Um es also zusammenzufassen: Wir haben eine ganze Menge Indizien, die auf die Winfried A. als Täter hindeuten. Zwar haben diese einzelnen Indizien isoliert betrachtet noch keine Beweiskraft - aber in der Summe sprechen sie meines Erachtens ein vernichtend klares Urteil. Ich würde mein letztes Hemd darauf verwetten, dass er es war.
Immerhin scheint es mir völlig ausgeschlossen, dass jemand …
- der eine Vorliebe dafür hatte Frauen tagsüber gefangen zu halten und nachts im Kofferraum umherzufahren
- der versucht hat die Angehörigen dieser Frauen durch das Senden von SMS zu beruhigen
- der bei der Durchführung seiner Taten u.a. auf Betäubungsmittel, Sedativa o.ä. zurückgegriffen hat
- dessen damaliger Wohnort alle Kriterien für den Wohnort des Täters perfekt erfüllt
- der einen Grund hatte alle "Tatorte" persönlich zu kennen
… in diesem Fall NICHT der Täter gewesen sein soll.
Zumal das ja zwangsläufig die Annahme erfordern würde, dass sich zur selben Zeit am selben Ort ein zweiter von seiner Sorte herumgetrieben haben sein muss, dessen Tatausführung die gleichen (sehr spezifischen) "Markenzeichen" aufweist, und der danach aber nicht mehr in Erscheinung getreten ist… Das scheint mir absolut absurd und an den Haaren herbeigezogen.
Ich kann daher nur hoffen, dass sich die Polizei dieses Ehepaar noch einmal vorknöpft. Gerade wenn man sich vorstellt das Wilfried einen IQ von 59 (!) besitzt, sollte es doch eigentlich nicht so schwer sein ihn solange durch kumpelhaftes Verhalten einzulullen oder ihn durch nachbohrende Fragen nervös zu machen, bis er einknickt oder sich verplappert…
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[1]
https://www.westfalen-blatt.de/OWL/Themenarchiv/Kriminalfall-Hoexter-Bosseborn/2580564-Angeklagter-stellt-sich-bereitwillig-den-Kameras-Angelika-W.-soll-ihren-Ex-Mann-noch-immer-lieben-mit-Video-Horror-Paar-vor-Gericht-Der-Auftritt-des-Wilfried-W[2]
https://www.verpe.org/fraukeliebs/[3]
1.5 Geographic Profiling
Externer Inhalt
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[4]
Wikipedia: Kriminalfall Höxter[5]
https://www.focus.de/panorama/welt/urteil-im-folter-prozess-gefallen-er-hat-einen-iq-von-59-sie-autistische-zuege-das-ist-das-folter-duo-aus-dem-horrorhaus-von-hoexter_id_9710200.html[6]
https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/hoexter-bosseborn-hinter-der-idylle/13594974.html[7]
https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=13&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjw2ez_m4jhAhUBQawKHeOMCuwQFjAMegQIABAB&url=https%3A%2F%2Fwww.sueddeutsche.de%2Fpanorama%2Fhoexter-prozess-horrorhaus-1.4118307&usg=AOvVaw3mLbZuiGEF0TWgnlEaAfP6[8]
https://www.welt.de/vermischtes/article154998404/Frauenfaenger-von-Hoexter-uebertreffen-alle-boesen-Befuerchtungen.html