jeffersonbridg schrieb:Gibt es für BD überhaupt noch eine Chance ausser Freispruch Avery oder Begnadigung?
Ich fange mal hiermit an, und komme später zu Steven Avery.
Vorweg ganz kurz eine Skizze des für Deutsche ungewohnten Strafjustizsystems in den USA mit seinen beiden Zügen:
In den USA gibt es zwei verschiedene Strafrechtsysteme, die weitgehend unabhängig voneinander funktionieren: das System des einzelnen Bundesstaates und das Bundessystem. Jeder Bundesstaat hat ein eigenes Strafgesetzbuch, eigene Staatsanwaltschaften, eigene Gerichte durch alle Instanzen. Der Grossteil aller Straftaten wird hier behandelt.
Daneben gibt es noch ein bundesweites System, mit ebenfalls eigenem Strafgesetzbuch und wieder einer kompletten Instanzenkette eigener Gerichte. Erstinstanzlich werden hier ein kleiner Teil der Strafverfahren abgehandelt, aber den höheren Instanzen kommt eine sehr grosse Bedeutung zu.
In Deutschland gibt es dagegen nur ein Strafgesetzbuch, eine Strafprozessordnung und ein einheitliches Gerichtssystem, das in der Verwaltung der einzelnen Bundesländer liegt, bis auf die allerhöchsten Instanzen, die vom Bund verwaltet werden.
In den USA also kann man direkt in erster Instanz vor einem "Bundes"gericht angeklagt werden, wenn man gegen Bundesstrafgesetze verstossen hat. Die sind aber relativ speziell. Ein Beispiel ist hier z.B. Geldfälschung. Da das Geld von einer Bundesbehörde ausgegeben wird, sieht man gefälschte Münzen z.B. als eine Angelegenheit des Bundes an. Und so gerät so ein Fall vor ein Bundesgericht.
Hier in unseren Fällen Avery und Dassey handelt es sich um einen Kriminalfall, der keinerlei Bundesaspekte enthalten hat. Eine Frau wurde im Bundesstaat Wisconsin ermordet, die vermutlichen Täter in Wisconsin gestellt, dementsprechend hat der Bund hier keine Zuständigkeit - noch nicht - und der Fall gerät vor die Gerichte des Staates Wisconsin.
Sowohl die Gesetze als auch die Organisation der Gerichtsbarkeit ist in den meisten Bundesstaat extrem ähnlich, wenn nicht gleich, aber es gibt Unterschiede.
Mord ist ein Verbrechen. Je nach Staat ist das Strafmass zwischen der Todesstrafe und einer langen zeitlichen Gefängnisstrafe, in den meisten Bundesstaaten ist das Regelstrafmass heutzutage lebenslänglich Gefängnis ohne Möglichkeit der Strafaussetzung.
Gemäss der Bundesverfassung und der Einzelstaatsverfassungen hat man bei einer solchen Anklage das Recht auf ein Strafverfahren vor einer Jury.
Dieses findet dann in einem typischen Rahmen in erster Instanz statt: der Angeklagte, der das Recht hat, zu schweigen, das Recht hat einen professionellen Verteidiger zu bestellen, dem ein solcher auch bestellt werden kann (Pflichtverteidiger) steht der Staatsanwaltschaft gegenüber, deren "Hilfsbeamte," wie das früher in Deutschland genannt wurde, die Polizeibehörden sind.
Dem Verfahren sitzt ein Richter vor. Dieser hat, anders als in Deutschland, keinerlei Ermittlerfunktion, er ist nicht dazu da, "die Wahrheit festzustellen," wie das im kontinentaleuropäischen Rechtssystem ist, sondern er ist mehr ein Schiedsrichter, der darauf zu achten hat, dass die Regeln gleich und fair angewendet werden. Dennoch hat er einen grossen Einfluss auf das Verfahren: er genehmigt zum Beispiel Beweisanträge, oder auch nicht.
Die Wahrheit festzustellen und zu bewerten ist ausschliesslich Aufgabe der Jury, das sind juristische Laien, Staatsbürger, die zufällig für einen Prozess auserwählt werden. Typischerweise werden die potentiellen Juroren aus dem Wählerregister oder einer anderen staatlichen Liste ausgelost und einem Prozess zugeteilt. Jeder Amerikaner wird ein oder mehrmals im Leben zu einem "Jury Duty" verpflichtet. Damit ist das Verfahren anders als bei deutschen "Schöffen."
Die Jury soll nun die entscheidende Frage beantworten: Ist der Angeklagte schuldig oder nicht. Je nach Fall kann es um einen einzigen oder um mehrere Anklagepunkte gehen. Die Jury hat in der Regel nicht die Möglichkeit, selbst Fragen zu stellen oder gar den Angeklagten zu "verhören," wie das Richter im kontinentaleuropäischen System (deshalb auch inquisitorisches System genannt, es beruht auf römischem und vor allem französischem Recht).
Die Jury schaut und hört sich an, was beide Seite vortragen. Die Staatsanwaltschaft beginnt mit dem Vortrag der Anklage und präsentiert dann ihre Zeugen. Sie muss die Jury von der Schuld des Angeklagten so überzeugen, dass es keine vernünftigen Zweifel an dieser gibt. Das muss ihr bei jedem einzelnen Juroren gelingen, denn nur ein einstimmiges Votum aller 12 Geschworenen führt zu einem Schuldspruch.
Die Verteidigung hat das Recht gar nichts zu tun, aber in der Regel wird auch sie Zeugen präsentieren, manchmal sogar den Angeklagten aussagen lassen. Jeder Zeuge kann auch von der Gegenseite vernommen werden.
Am Ende plädieren dann beide Seiten, das heisst sie bitten die Jury um einen Frei- oder Schuldspruch.
Befindet die Jury dass der Angeklagte nicht schuldig ist, ist das das Ende des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft kann weder Berufung noch Revision einlegen und den Angeklagten auch nicht ein zweites Mal wegen dem gleichen Delikt anklagen. Der Angeklagte ist frei.
Kann sich die Jury dagegen nicht auf einen einstimmigen Urteilspruch einigen, erklärt der Richter einen "mistrial." In diesem Fall kann die Staatsanwaltschaft erneut Anklage erheben und einen neuen Prozess beantragen, muss es aber nicht. Tut sie es nicht, bleibt der Angeklagte frei und gilt unschuldig.
Findet die Jury einstimmig, dass der Angeklagte schuldig ist, ist ihr Job in der Regel getan. In einem weiteren Verfahrensschritt wird jetzt über das Strafmass entschieden. Das wird vom Richter festgesetzt (nur bei der Todesstrafe ist das anders). Vorher werden mildernde oder strafverschärfende Gründe vorgebracht usw.
Mit der Strafmassfestsetzung ist das Verfahren erst einmal beendet.
Nun aber zu den Rechtsmitteln:
Noch während dem laufenden Verfahren kann jede Seite beantragen, dass der Prozess gestoppt wird, von vorne angefangen werden soll usw. Das muss mit Verfahrensfehlern begründet werden. Der Richter entscheidet. Auch direkt nach Ende des Verfahrens kann ein solcher Antrag gestellt werden, z.B. indem die Verteidigung argumentiert, dass das Urteil der Jury völlig irrational ist.
Diese Anträge auf "directed verdict, new trial" u.ä. Rechtsmittel haben selten Erfolg.
Nun wird die Sache spannend. Das nächste typische Rechtsmittel ist die Revision. Diese wird innerhalb einer bestimmten Frist beim Revisionsgericht, dem "Court of Appeals" eingereicht. Ganz wichtig ist, dass man versteht, dass es von nun an keine sogenannte "Tatsacheninstanz" mehr gibt, das ist in den USA genauso wie in Deutschland. Das bedeutet, die Revision bezieht sich ausschliesslich auf den vergangenen Prozess und muss sich auf Verfahrensfehler beziehen. Nur wenn das Revisionsgericht (zwischen drei und oft 9 Richtern) einen solchen erkennt, UND wenn es der Meinung ist, dass dieser schwerwiegend genug ist (das wird hier in der Diskussion oft nicht begriffen) wird das Revisionsgericht das Urteil aufheben. Normalerweise wird das Verfgahren dann an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen. Dieses Gericht muss dann eventuell einen neuen Prozess ansetzen.
Gegen den Beschluss des Revisionsgerichtes können beide Seiten wiederum eine Revision beantragen, und zwar beim obersten Gericht des Bundesstaates (supreme court). Auch hier geht es wieder ausschliesslich um bedeutende juristische Verfahrensfehler.
Weist der oberste Gerichtshof die Revision zurück, ist das Verfahren erst einmal abgeschlossen. Jetzt aber kommen die erheblichen Unterschiede zum deutschen System zum Tragen: anders als dort, hat man in den USA nämlich noch weitergehende Möglichkeiten:
Wenn man feststellt, dass möglicherweise gegen die Rechte des Angeklagten verstossen wurde, die sich aus der Bundesverfassung ergeben, kann man jetzt noch eine Verfassungsbeschwerde einlegen. Diese legt man direkt beim obersten Gerichtshof der USA ein. Das würde in etwa einer deutschen Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht entsprechen.
Man kann aber auch die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, und zwar vor einem Bundesgericht (habeas corpus). Das hat Brendan Dassey getan. Er hat geltend gemacht, dass das Verhör bei der Polizei und dessen Verwendung vor Gericht gegen sein Recht aus der Bundesverfassung (5. Zusatzartikel) verstösst.
Interessant ist hier, dass der zuständige Bundesrichter, der als Einzelrichter entscheidet, einen solchen Verstoss gegen die Verfassung erkannt hat. Er hat angeordnet, dass Dassey entweder freigelassen werden muss oder ihm innerhalb einer bestimmten Frist ein neuer Prozess gemacht werden muss.
Wichtig ist auch hier zu verstehen, dass der Bundesrichter nicht die Tatsachen des Verfahrens bewertet, sondern einen Verfahrensfehler.
Gegen den Beschluss des Bundesrichters hat der Generalstaatsanwalt von Wisconsin dann Revision vor dem nächst höheren Revisionsgericht eingelegt: vor dem United States Court of Appeals in Chicago.
Dort haben drei Richter, ein sogenanntes "panel," die Argumente gehört und den Beschluss des Einzelrichters bestätigt.
Doch noch ist die Rechtsmittelreihe nicht ausgeschöpft: Wieder hat der Staat Wisconsin ein Rechtsmittel eingelegt: er argumentiert, dass das Thema so wichtig ist, und das Gericht seiner Meinung nach so falsch entschieden hat, dass der gesamte Gerichtshof diese Sache noch einmal neu entscheiden soll.
Das gibt es so in Deutschland nicht. Dort entscheiden immer einzelne Senate, z.B. des BGH, und man kann nicht alle Richter aller Senate fragen, ob sie noch einmal alle zusammen den Fall hören.
Hier geht das, obwohl es nicht häufig vorkommt. Die Richter des Gerichtshofs in Chicago haben den Fall erneut vorlegen lassen, den Beschluss ihrer drei Kollegen aufgehoben und alle zusammen erneut entschieden: dieses Mal gegen Brendan Dassey.
Das ist ein harter Schlag, denn wie in Deutschland bei einem Beschluss des BGH ist hier nahezu das Ende der Fahnenstange erreicht. Einzig verbleibendes Rechtsmittel war wieder eine Verfassungsbeschwerde beim obersten Gerichtshof der USA.
Und wie in Deutschland das BVerfG ist dieser hier auch frei, einen Fall anzunehmen oder abzulehnen. Leider hat der Supreme Court es abgelehnt, den Fall zu entscheiden. Damit bleibt der Beschluss des gesamten Gerichtshofs in Chicago bestehen.
Dassey bleiben damit nur noch zwei Möglichkeiten, deren Erfolgsaussichten sehr gering sind: eine Begnadigung durch den Gouverneur von Wisconsin oder, falls das Recht in Wisconsin ihm die Möglichkeit gibt, einen erneuten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sich aussergewöhnliche Hinweise auf seine Unschuld ergeben: z.B. wenn ein ganz anderer Täter als Mörder von Teresa Halbach identifiziert werden sollte und ein ganz anderer Tatablauf.
Soviel zu Brendan.