Vermisste Familie aus Drage
20.08.2015 um 12:28
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Taucher im Mühlenteich
Im Fall der vermissten Sylvia und Miriam Schulze verfolgt die Polizei eine Spur. Und erstmals äußert sich ein Freund der Familie. von Alexander Tieg
DIE ZEIT Nº 34/201520. August 2015 11:16 Uhr
Die letzte Nachricht seines Freundes Marco Schulze steht auf einem Kontoauszug, Montag, 13. Juli. "Danke. Viele Grüsse aus Drage", hat Marco als Verwendungszweck eingetragen und 125 Euro überwiesen, für Zigaretten, die der Freund den Schulzes aus Polen mitgebracht hatte. Es hat lange gedauert, bis das Geld von einem Konto aufs andere geflossen ist, die Männer scherzen später am Telefon noch über Marcos langsame Dorfbank, lachen ein letztes Mal. Dann wünscht Marco Schulze dem Freund einen schönen Urlaub. Nichts deutet auf Verzweiflung hin oder auf tödliche Absichten, die er im Sinn haben könnte.
Verschwunden, hatte die ZEIT vergangene Woche in ihrer Hamburg-Ausgabe getitelt. Im Dorf Drage bei Winsen waren ein Ehepaar und seine elfjährige Tochter vermisst gemeldet worden. Die Leiche des Vaters, Marco Schulze, wurde nach wenigen Tagen, am 31. Juli, aus der Elbe geborgen. Seine Frau Sylvia und die Tochter Miriam blieben unauffindbar.
Am Montag dieser Woche findet sich laut Polizei endlich eine "heiße Spur", die erste seit Langem. Beamte mit Spürhunden suchen den Seppenser Mühlenteich bei Buchholz ab, etwa 35 Kilometer von Drage entfernt.
Marco Schulzes Freund, der in der Nähe von Berlin lebt, zeichnet ein Bild jenes Mannes, der sich nach Erkenntnissen der Polizei selbst umgebracht hat. Zuvor soll Marco Schulze seine Frau Sylvia und die Tochter Miriam getötet haben. Die Ermittler gehen von einem erweiterten Suizid aus, Beweise gibt es nicht.
"Das ist für mich nicht real, ich kann mir das einfach nicht vorstellen", sagt Marcos Kumpel. Er sitzt in einem Café an der Berliner Stadtgrenze, es ist Montagmittag, die Spur zum Mühlenteich ist noch nicht bekannt. "Das passt für mich alles nicht, das ist nicht der Marco, den ich kenne." Erst wollte der Mann nicht über seinen Freund reden. Aber dann telefonierte er mit dessen Mutter, sie war einverstanden. Die Bedingungen: Er werde sich nicht an Spekulationen beteiligen. Und sein Name soll nicht genannt werden.
Die Männer kennen sich seit den späten neunziger Jahren. Damals arbeiteten beide in einer Wäscherei, Marco, der Berliner, hilfsbereit und zurückhaltend, und sein Kumpel vom Land. Sie waren Mitte 20, mit ihren Lkw fuhren sie Wäsche aus, im Radio lief 104.6 RTL, auf langen Touren brachte Marco für beide Kekse und Kaffee mit.
Zum Jahrtausendwechsel kündigte Marco in der Wäscherei. Er wollte wieder als Landwirt arbeiten, in seinem Ausbildungsberuf. Er fand Arbeit bei einem Schweinebauern bei Lüneburg, lernte Sylvia kennen, sie bekamen ein Kind, heirateten. Die Freunde telefonierten noch alle paar Monate. "Ey, Schnullerbacke, wie geht’s?", fragte Marco dann. "Keule, allet chic", antwortete der Freund.
Vor elf Jahren bauten Marco und Sylvia ihr Haus. Wenn der Freund sie besuchte, saßen die Männer in einem Schuppen hinter dem Carport, "Café zur Laterne" hatte Sylvia diesen Ort getauft: Den ganzen Abend brannte ein Teelicht in einer Laterne auf dem Tisch. Das letzte Mal saßen die Freunde dort im September 2014, sie tranken Bier, Marco rauchte. "Er wirkte nicht trauriger als sonst", sagt der Freund. Allerdings habe Marco gesagt, dass er viel zu tun habe gerade. Es sei ein Spagat zwischen den beiden Jobs.
Marco Schulze arbeitete in den letzten Jahren in einer Chemiefabrik in Geesthacht. Nebenbei, an den Wochenenden, belieferte er Supermärkte. Zu Hause hatte er gerade eine Terrasse gesetzt, als Nächstes wollte er einen Torbogen mauern. Seine Tochter brachte er regelmäßig zum Reiterhof, kümmerte sich auch um den Papierkram dort, bestellte das Futter. "Ich weiß nicht, ob er sich vielleicht nicht ein bisschen zu viel zugemutet hat, er wollte immer für jeden da sein", sagt der Freund.
Den August wollten Marco und Sylvia Schulze in Mexiko verbringen, die Tochter war zu Reiterferien angemeldet. "Ich hatte nie den Eindruck, dass da irgendwas schiefläuft in der Familie", sagt der Freund. "Und ich will Marco jetzt so in Erinnerung behalten, wie er war, als ich ihn das letzte Mal gesprochen habe. Er war kein schlechter Mensch."
Vergangene Woche stellte die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY... ungelöst den Fall Schulze vor. Wenn überhaupt, gebe es nur noch ein Fünkchen Hoffnung für Sylvia und Miriam, sagte der Moderator. 16 Hinweise gingen nach der Ausstrahlung bei der Polizei ein, darunter einer, der auf die Spur vom Montag führte, an den Seppenser Mühlenteich in Buchholz. Dort will eine Zeugin die Familie am Tag ihres Verschwindens gesehen haben.
Noch am Montagnachmittag nehmen Spürhunde die Fährten auf. Sie enden am Ufer. Erst kommen Taucher zum Einsatz, dann ein Sonarboot. Bislang ohne Erfolg.