Hallo zusammen,
ich möchte mich zuerst einmal bei allen Beteiligten bedanken für die ungewöhnlich vielfältige und bislang überwiegend "saubere", wirklich interessante Diskussion. Gerade bei Allmystery ist das einigermaßen überraschend (aber vielleicht habe ich mich hier auch zu spät eingelesen und diverse Löschungen und Sperrungen nicht mitbekommen).
Auf meinen persönlichen "Geschmack" möchte ich nicht unbedingt näher eingehen, weil ich in beinahe jedem Jahrzehnt des Automobilbaus richtungsweisende, interessante oder auch einfach nur "schöne" Fahrzeuge finden kann und damit wenig Neues beitragen würde.
Stattdessen kommentiere ich mich lieber kreuz und quer durch ein paar bisherige Aussagen.
Eine grundsätzliche Anmerkung habe ich aber zum Begriff "Design":
Design umfasst immer ein gesamtes Objekt und dessen Nutzung inklusive aller technischen und ggf. philosophischen Aspekte, idealerweise auch seinen möglichst effizienten Herstellungsprozess (Industriedesign) bis hin zur Technikfolgenabschätzung oder gar zu Gesellschaftsutopien/Systemdesign (nach wie vor Teil der Lehrpläne an den gestalterischen Fachbereichen der meisten Universitäten).
Design wird im deutschsprachigen Bereich gern verwechselt mit Styling.
Styling betrifft lediglich die Maßnahmen zur ästhetischen Aufwertung eines ansonsten bereits "fertigen" Produkts, also das "Schönmachen" z.B. im Sinne aktueller Modeströmungen.
Design wäre also, ein Gerät zu entwickeln, das Menschen mit Motorkraft zu deren individuellen Zielen transportiert.
Styling wäre, für dieses Gerät immer neue, modische Verkleidungen und Farben zu entwerfen.
Im Automobilbereich finden wir das eine zumindest ansatzweise mit jedem grundlegend neuentwickelten Modell, das andere mit jedem Facelift und den vielfältigen Tuning-Gadgets, die werksseitig bestellt oder später vom Nutzer hinzugefügt werden können.
1. Aerodynamik als Mythos.Bettman schrieb am 06.05.2019:Letzten Endes ist das Design doch vor allem eine Frage der Sicherheit und einer strömungstechnisch möglichst optimalen Gestaltung. Da macht man sich eben heute mehr Gedanken als noch vor 30 Jahren.
sacredheart schrieb am 06.05.2019:Na, die Zeiten schlechter cw Werte sind doch wohl schon länger vorbei.
Lupo54 schrieb am 06.05.2019:(...) 1. Cw-Wert. Der muß heutzutage stimmen. Also weg mit allem, was übersteht.
kleinundgrün schrieb am 07.05.2019:Aber die eigentliche Frage war ja, warum die Autos nicht mehr schön sind. Der Calibra ist sicherlich kein Auto, das man in eine Reihe mit einem "BMW 507, Ur 911er, Porsche 356er, Der BMW 3.0 CS" stellen würde. Da sieht man eben, dass die Berücksichtigung des cw-Wertes zu Lasten der Freiheit bei der Gestaltung geht.
Die Aerodynamik aktueller Automobile, die von einem Fahrer aktiv in Alltagssituationen gesteuert werden müssen, ist im Wesentlichen seit ca. 30 Jahren ausgereizt und lässt nur noch geringe Verbesserungen zu.
cW-Werte zwischen ca. 0,28 und 0,36 sind nach wie vor üblich und verbreitet, die entsprechenden cW*A-Werte haben sich durch die flächendeckende Verbreitung von SUV, Transporter und "Minivan" insgesamt eher verschlechtert und lassen sich auch durch ausgefeilte "Tricks" bei Detaillösungen nicht völlig auffangen.
Die Berücksichtigung des Luftwiderstands als oberstes und einziges Ziel würde tatsächlich die Formgebung diktieren und müsste sich dabei einer Haakeschen Ogive annähern (jedenfalls unterhalb der ca. doppelten Schallgeschwindigkeit):
Das hat man tatsächlich umgesetzt und es sieht dann bei cW 0,11 in etwa so aus (okay, die Räder könnte man noch verkleiden):
Am Foto des bemannten Acabion erkennt man natürlich sofort die Nachteile einer solchen absolut aerodynamischen Form:
- der Fahrer findet keinen komfortablen Raum vor und kann keine dauerhaft bequeme Haltung einnehmen
- Übersichtlichkeit und Funktionalität leiden (park mit so einem Ding mal rückwärts ein...)
- die Fahrstabilität erreicht nicht das Niveau eines klassischen "Vierrads"
- Unfallsicherheit und Schutz anderer Verkehrsteilnehmer sind zumindest in einigen Situationen fragwürdig
Innerhalb der bis heute üblichen Lufwiderstandsbeiwerte von Personenwagen hat man allerdings nach wie vor einen großen Gestaltungsspielraum, den folgende Beispiele recht gut zeigen.
Rumpler Tropfenwagen, 1921, cW 0,28 trotz freistehender Speichenräder:
Mercedes W124, 1984, cW 0,29 und damit bis heute sehr gut, aber schlechter, als der olle Rumpler:
Opel GT, 1968. Sieht aerodynamisch und "schnell" aus, gell?
cW 0,39 - 0,41, je nach Scheinwerferstellung. Die Neuauflage von 2007 erreichte übrigens cW 0,42.
Original anzeigen (4,4 MB)VW Scirocco 1, 1974. Sieht eckig und schrankwandig aus, aber: cW 0,4 = Opel GT.
Das mag ein zufälliges Ergebnis gewesen sein, aber die Erkenntnis daraus war: Wichtig ist auch, wie die Luft unterm Auto und durch den Motorraum läuft.
Porsche 924, 1975, noch so eine "optische Aeroflunder", cW 0,36 mit geschlossenen Scheinwerfen:
Opel Calibra, 1989, cW 0,26:
Mercedes W211, 2002, ebenfalls cW 0,26:
Original anzeigen (0,2 MB)Schlörwagen, 1939, cW 0,186 mit bereits deutlich erkennbaren Nachteilen im Allgasverkehr:
Original anzeigen (1,3 MB)VW XL-1, 2014, cW ebenfalls 0,186 mit anderer Gestaltung, aber ebenfalls einschätzbaren Nachteilen im Alltag:
Eine cW-Liste vieler Autos aus allen Baujahren, in der man viele aktuelle Modelle mit cW 0,22 - 0,34 korrekt wiedergegeben findet:
http://rc.opelgt.org/indexcw.phpEin guter Artikel dazu:
https://www.sueddeutsche.de/auto/autos-suv-aerodynamik-spritverbrauch-1.4507368Man könnte also in etwa festhalten, dass:
- cW-Werte unterhalb von ca. 0,22 bei aktiv gesteuerten Alltagsautos mit nebeneinander angeordneten Sitzen ohne erhebliche Nachteile sehr schwierig werden
- die großen Stirnflächen heute so beliebter "hoher" und generell größerer Autos den Luftwiderstand insgesamt verschlechtern
- im Rahmen der aktuellen Gegebenheiten folgende Maßnahmen Sinn ergeben und weitgehend umgesetzt wurden:
Verkleideter Unterboden, abgerundete A-Säulen, hohes Heck bei Limosinen bzw. möglichst steiles Heck mit Abrisskante bei Kombis
- weitere Verbesserungen zulasten der Alltagstauglichkeit möglich wären u.a. durch:
Längeren vorderen Überhang mit stark abgerundeter "Nase", sehr langes, schmales Heck mit deutlich geringerer Spurweite hinten und komplett verkleideten Rädern, stark gewölbtes Dach mit höchster Stelle möglichst weit vorn, generell möglichst schmale Bereifung.
- sich an dieser Stelle wenig tun wird bzw. getan hat, solange Abgasnormen nur "Regelzyklen" mit vergleichsweise geringen Geschwindigkeiten zugrundeleg(t)en: Durchschnittsgeschwindigkeit im aktuellen WLTP-Prüfzyklus ist 47 km/h
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2. Dicke Dachsäulen als Gestaltungsgelement shadowline schrieb am 12.05.2019: (...) Wenn heute agressives Frontdesign und "schmale" Fensterflächen gefragt sind und bei Klein(st)wagen teils eiförmiges Design - wer will es den Herstellern verdenken, dass genau das auf den Markt gebracht wird? Von den übriggebliebenen 5%-10% "gestrigen" lässt sich kein brauchbarer Marktanteil hereinholen.
Das können wir nach einem kurzen Blick in die Anforderungen zu Unfallsicherheit und die verwendeten Materialien recht schnell abhaken.
Alle halbwegs aktuellen Normen zur Unfallsicherheit erfordern eine gewisse Stabilität des Aufbaus bei Zusammenstößen und Überschlägen.
Mit geeigneten Werkstoffen sind sie ohne weiteres auch bei schlanken Dachsäulen zu erreichen, aber das wird teuer (höherer Materialpreis für höherfesten Stahl, Schweißen dann kritisch -> Löten, Kleben oder Nieten). Ausgerechnet der Fiat Multipla zeigte mit seiner "umlaufenden Zelle" übrigens recht gut, was damit möglich wird: Dachholme und Schweller aus höherfestem Material waren elementarer Designbestandteil und damit auch Teil der direkt sichtbaren Außenform; für ein Auto dieser Größe waren sie ausgesprochen schlank.
Baut man weiterhin preisbewusst mit dem bewährten "Karosseriefeinblech DC", müssen die Dachsäulen dann eben dicker und z.T. auch mehrwandig ausgeführt werden. Das schränkt fast zwangsläufig die Übersichtlichkeit ein, lässt sich aber prima in "aggressives Styling" verpacken und dem der Egozentrik zugeneigten Standardkunden auch bestens unterjubeln - wozu hat er heute schließlich Einparkhilfen.
Und dann müssen natürlich noch diverse Airbags und eine Ambientebeleuchtung darin untergebnracht werden, also wird es auch bei ordentlichem Basismaterial heute relativ fett.
Dicke Dachsäulen sind also gleichermaßen Teil von Design und Styling - mal mehr, mal weniger.
Später gerne mehr dazu - muss jetzt erstmal weg.