Barschels WiederkehrDer Fall Barschel beschäftigt wieder die Ermittler: Genetische Fingerabdrücke könnten zu den Tätern führen. Doch nicht einmal die Staatsanwaltschaft weiß, welche Beweise überhaupt noch da sind
Der Mann, der Barschel als Erster obduzierte, lebt heute als Pensionär in Genf. Dr. Oldrich Fryc war 1987 der zuständige Gerichtsmediziner, als Uwe Barschel im Schweizer Hotel "Beau-Rivage" tot aufgefunden wurde. Gemeinsam mit zwei Kollegen untersuchte er noch am Tag des Auffindens den Leichnam, sezierte ihn, zog seine Schlüsse. Oldrich Fryc, heute ein freundlicher älterer Herr, ist ein wichtiger Mann bei der Bewertung des mysteriösen Falls. Seit jeher gilt er als ein zentraler Zeuge für die These, der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein habe Selbstmord begangen. Das soll Fryc nach der Obduktion irgendwo zu Protokoll gegeben haben - wo, ist unklar, in seinem offiziellen Obduktionsbericht steht davon nichts, aber es wurde in der Schweizer Presse kolportiert. Heute, 15 Jahre nach Frycs Pensionierung, ist die Barschel-Debatte in Deutschland wieder aufgeflammt, und der Gerichtsmediziner will seinen Beitrag leisten. Fryc sagt: "Ich habe nie behauptet, dass es Suizid war." Die Reihen derer, die Uwe Barschel für einen Selbstmörder halten, lichten sich.
Von denen, die den Fall aus erster Hand miterlebt haben, hat seit Jahren keiner mehr die Selbstmordthese öffentlich vertreten. Es würde bei Kennern der Ereignisse auch Kopfschütteln hervorrufen. Das offizielle Ermittlungsergebnis der Lübecker Staatsanwaltschaft lautete im Jahr 1998, anders als diese Woche oft in Zeitungen zu lesen war: Es bestehe der Verdacht auf Mord, aber ein Verdächtiger habe sich bisher nicht aufspüren lassen. Die Ermittlungen seien mangels Erfolgsaussicht einzustellen, könnten aber jederzeit wieder aufgenommen werden, wenn neue Erkenntnisse vorlägen.
Der damalige Leiter der Untersuchung, Heinrich Wille, war von seinen Vorgesetzten zuvor immer wieder angehalten worden, die Ermittlungen zu einem schnellen Ende zu bringen. "Es gab Druck von oben. Dass wir weiterhin den Fall Barschel bearbeiten, war nicht erwünscht", sagte Wille der "Welt am Sonntag". Er geht bis heute davon aus, dass Barschel von einem professionellen Killerkommando getötet wurde. Für ihn sind die Anhänger der Mordthese keine Verschwörungstheoretiker. Eher die Anhänger der Selbstmordthese.
Derzeit gibt es im Fall Barschel wieder so viel emsige Aktivität wie seit Einstellung des Verfahrens vor dreizehn Jahren nicht mehr. Staatsanwaltschaften, Politiker und Regierungsbehörden liefern sich hinter den Kulissen ein langwieriges Gezerre in der Frage, ob man das Verfahren nicht doch noch einmal aufrollen müsse, um der Wahrheit Genüge zu tun. Jüngster Höhepunkt dieses Gezerres, das schon seit Monaten hin und her geht, war an Pfingsten die Nachricht, dass die Lübecker Staatsanwaltschaft Kleidungsstücke von Uwe Barschel auf erhaltene fremde DNA-Spuren hin untersuchen lassen wird. Eine spektakuläre Entwicklung: Der Fall Barschel beschäftigt wieder die Ermittler. Vor einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen. Vom Ergebnis der Analysen hängt es ab, ob das Verfahren 705.JS.33247/87 gegen unbekannt "wegen Verdachts des Mordes an Dr. Dr. Uwe Barschel" sogar offiziell wieder aufgenommen werden könnte
Auslöser der allgemeinen Barschel-Betriebsamkeit sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft zwei Veröffentlichungen aus dem Herbst vergangenen Jahres. Die eine war ein neues Gutachten, das der renommierte Schweizer Toxikologe Hans Brandenberger in der "Welt am Sonntag" publiziert hatte. Darin verdächtigt er den israelischen Geheimdienst Mossad, den früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten ermordet zu haben. Demnach stimmen die chemischen Analysedaten bis in Details mit dem Ablauf des Barschel-Todes überein, wie ihn der ehemalige Mossad-Agent Victor Ostrovsky in einem Buch schildert.
Ebenfalls im Herbst 2010 forderte der schleswig-holsteinische CDU-Landtagsabgeordnete Werner Kalinka in der "Welt", an Barschels Kleidung und Organen sollten mit neuesten technischen Methoden DNA-Spuren gesichert werden. Kalinka, der innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist, richtete diese Forderung auch direkt an den Justizminister in Kiel. Die zuständige Staatsanwaltschaft Lübeck sah sich nach den Presseveröffentlichungen veranlasst, erstmals seit Einstellung des Verfahrens die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zu prüfen.
In den folgenden Monaten sollen die Fachleute in Lübeck die treibende Kraft gewesen sein bei der Entscheidung, dem Vorschlag Kalinkas zu folgen und die Asservate auf verwertbare genetische Spuren hin zu untersuchen. Die Lübecker leiteten ihre Einschätzungen nach Schleswig weiter, wo sie beim Generalstaatsanwalt geprüft wurden. Der Fall Barschel gewann wieder an Brisanz - auch das Justizministerium von Schleswig-Holstein wurde auf dem Laufenden gehalten. Von dort heißt es heute offiziell, man habe die Überlegungen "selbstverständlich nicht beeinflusst".
Die Behörden in Schleswig und Lübeck sollen schließlich gemeinsam zu der Meinung gelangt sein, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens wenig Aussicht auf Erfolg hätte. Aber geprüft wird jetzt trotzdem. Eine Art Wiederaufnahme light. Niemand will sich den Vorwurf machen lassen, man habe etwas unversucht gelassen.
Die Entscheidung macht Barschels Witwe Freya Hoffnung. "Vielleicht gelingt es jetzt, den Mörder meines Mannes zu finden", sagte sie dieser Zeitung. "Ich glaube fest daran, dass die Wahrheit ans Licht drängt. Dann, wenn es keiner erwartet, wird die Spur zum Täter sichtbar werden." Und der Anwalt der Familie, Justus Warburg, sieht plötzlich eine Chance, dass sein jahrelanger und zermürbender Kampf um weitere Ermittlungen doch nicht umsonst war. Er befürchtet seit Langem, dass staatliche Stellen die Aufklärung des Falles behindern. Warburg: "Die Wahrheit muss trotzdem ans Licht. Mord verjährt nie."
Nach Informationen der "Welt am Sonntag" gibt es in der Justiz von Schleswig-Holstein jedoch erneut starke Kräfte, die die Aktendeckel im Fall Barschel geschlossen halten wollen. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Lübeck, Oberstaatsanwalt Günter Möller, hat bereits öffentlich erklärt, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens eher unwahrscheinlich sei. Ein Ermittler erklärte gar, dass man ja wohl kaum von ehemaligen Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad Speichelproben nehmen könne, um DNA zu sichern.
Trotzdem werden nun erst einmal Fachleute des Landeskriminalamtes (LKA) in Kiel Beweisstücke vom Tatort auf DNA-Spuren untersuchen. Eine Methode, die in den vergangenen Jahren stetig verfeinert worden ist. Spezialisten können heute genetische Fingerabdrücke sichtbar machen, die jahrzehntelang unentdeckt blieben. Erst am vergangenen Freitag konnte die Staatsanwaltschaft Kiel mit dieser Methode einem Mann Morde an vier jungen Frauen nachweisen, die zum Teil mehr als vierzig Jahre zurücklagen. "Dass diese Untersuchungen im Fall Barschel jetzt durchgeführt werden, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein", sagt der Landtagsabgeordnete Kalinka. Er hat über Barschel unter anderem das Buch "Der Fall B. Der Tod, der kein Mord sein darf" geschrieben und vertrat stets die Mordthese. Kalinka kritisiert die Justiz dafür, dass sie mehr als ein halbes Jahr gebraucht habe, um über seine DNA- Forderung zu entscheiden.
Noch ist allerdings nicht klar, welche Beweismittel überhaupt noch verfügbar sind - geschweige denn, welche untersucht werden sollen. Die Lübecker Staatsanwaltschaft gibt widersprüchliche Auskünfte. Meistens ist die Rede von Hose, Hemd, Socken, Handtuch, Badewannenvorleger und Schuhen des Verstorbenen, mal wird auch Barschels Krawatte erwähnt, manchmal auch das Jackett (das zum Todeszeitpunkt im Schrank des Hotelzimmers hing). Oberstaatsanwalt Möller sagt: "Wir wollen uns jetzt erst einmal einen Überblick darüber verschaffen, was noch da ist."
Der "Welt am Sonntag" liegt eine bisher unveröffentlichte Liste darüber vor, was zumindest einmal da war. Die Zürcher Stadtpolizei hat im Dezember 1988 eine Aufstellung aller Beweismittel ausgefertigt, die man im Zimmer 317 des "Beau-Rivage" fand. Eigentlich waren die Polizeikollegen aus Genf für die Spurensicherung zuständig, aber die machten ihren Job so lückenhaft, dass Zürich als Verstärkung hinzugezogen wurde. In der Asservatenkammer landeten laut Polizeiliste insgesamt mehr als 100 Gegenstände wie Duschvorhang, Schuhe und Klebestreifen mit Faserspuren.
Unter dem umständlichen Titel "Durch Uwe Barschel während dem Ereignis in der Badewanne getragene Kleider" führten die Züricher beispielsweise seine "Unterleibchen, weiss, Marke 'Kapart', Grösse 7, 100 % Baumwolle" und ein "Herrenhemd, weiss, Marke 'Van Laak Royal', Größe unbekannt, 100 % Baumwolle" auf.
Viele der Barschel-Asservate gaben den Ermittlern von Beginn an Rätsel auf. Die Analysten können sich zum Beispiel bis heute keinen Reim auf die dunklen Flecken auf dem Badewannenvorleger machen. Sie scheinen von einer Substanz verursacht worden zu sein, die sich an Barschels linkem Schuh fand. Aber die Gutachter einigten sich nie darauf, um welchen Stoff es sich handelt oder wie er auf Schuh und Vorleger gekommen sein soll. Auch rätselt man bis heute, woher die weißlichen Anhaftungen auf der Hose des Verstorbenen stammen, die Experten als Eiweiß erkannt haben.
Eine besondere Bedeutung kommt dem Schlips zu, den Barschel bei seinem Tod trug. Die blau-grau-braun gestreifte Krawatte der Marke Ascot (70 Prozent Seide, 30 Prozent Wolle) zeigte ebenfalls weißliche Flecken. Allerdings gelang es nie, die Substanz zu identifizieren. Die Tatsache, dass der doppelte Krawattenknoten beim Auffinden von Barschel noch gebunden war, ist außerdem seit jeher ein Argument für die Mordtheorie des pensionierten Barschel-Ermittlers Wille. Denn Barschels zweitoberster Hemdknopf war ausgerissen. Das, so Wille, könne Barschel bei hochgezogener Krawatte nicht selbst getan haben.
Jetzt, bei der bevorstehenden DNA-Analyse, könnte der Schlips erneut wichtig werden, glaubt Wille: Sollten am Mantel oder selbst am Hemd des Verstorbenen fremde genetische Fingerabdrücke gefunden werden, könnte es dafür immer noch eine banale Erklärung geben. Sie könnten etwa durch ein Schulterklopfen auf offener Straße entstanden sein. Aber einen Schlips fasst normalerweise kein Fremder an. Eine DNA-Spur an diesem Kleidungsstück wäre ein starkes Indiz dafür, dass außer Barschel noch jemand im Zimmer war in der Todesnacht.
Aber selbst wenn eine solche Spur existiert, ist es schwer zu sagen, ob die Ermittler damit etwas anfangen können. Sie werden mögliche Ergebnisse mit der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes vergleichen. Aber wenn es dort keinen Treffer gibt, dürfte die Aktion kaum Ansatzpunkte für eine Wiederaufnahme des Verfahrens bringen. Zwar sagt man einigen Lübecker Staatsanwälten nach, dass sie noch andere Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen sehen - etwa in Form von neuen Zeugenvernehmungen. Aber ob sie sich durchsetzen, ist fraglich.
Auch Ex-Chefermittler Heinrich Wille ist skeptisch, was eine Wiederaufnahme des Verfahrens angeht. "Die Chancen stehen schlecht", sagt er. Wille hat Erfahrung mit den ewigen Widerständen, die eine Aufklärung behindern. Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Lange war ihm die Veröffentlichung von seinem Vorgesetzten, dem Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig, verboten worden - jetzt sind beide Juristen pensioniert und Willes Buch darf im September erscheinen. Der Titel lautet: "Ein Mord, der keiner sein durfte".
http://www.welt.de/print/wams/politik/article13437448/Barschels-Wiederkehr.htmlMFG
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