Prosa
28.12.2007 um 11:46"Die erste Aufgabe des Menschen, der Dichter werden will, ist die volle Kenntnis seiner selbst, er taucht nach seiner Seele, gewinnt Einsicht in sie, erprobt sie, lernt sie kennen. Sobald er sie begriffen hat, muß er sie weiterbilden … – Ich sage, man muß Seher sein, sich sehend machen. Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und bewußte Ent-Regelung ALLER Sinne. Alle Arten von Liebe, Leiden, Wahnsinn: er sucht sich selbst, er erschöpft alle Giftwirkungen in sich, um nur die Quintessenz zu bewahren. Unsägliche Folter, wo er volles Vertrauen, alle übermenschliche Kraft braucht, wo er unter allen der große Kranke, der große Gesetzesbrecher, der große Geächtete sein wird – und der höchste Wissende! – Denn er kommt an beim Unbekannten! Weil er seine schöne reiche Seele weitergebildet hat, weiter als irgendjemand sonst! … Da im Übrigen jedes Wort eine Ein-Sicht ist, wird die Zeit einer universellen Sprache kommen! Diese Sprache reicht unmittelbar von Seele zu Seele, faßt alles zusammen: Düfte, Klänge, Farben. Der Dichter würde das Feld des Unbekannten bestimmen …; das Maßlose, von allen angeeignet, würde zum Maß; so wäre der Dichter wahrhaftig ein Vervielfältiger der Veränderung! … Die nie endende Kunst hätte eine Aufgabe, und die Dichter wären Glieder der Gemeinschaft. Die Poesie wird nicht mehr das Tun rhythmisieren, sie wird ihm voraus sein! Diese Dichter werden kommen!"*
Aus Arthur Rimbaud: Das poetische Werk. Frankfurt 1980.
Progression heißt nichts weniger, als daß man das, was man einmal als dumm, unmenschlich, verlogen erkannt hat, hinter sich läßt und nicht weiter perpetuiert. Rimbaud hat gespürt, daß eine wirklich kompromißlos mit überkommenen Schablonen brechende Literatur nicht mehr länger begleitender, aber im Grunde überflüssiger Wurmfortsatz einer regressiven Scheuklappenkultur wäre, sondern diese Scheuklappenkultur von Grund auf ausmisten würde. Und als er sah, daß sich auf dieses radikale Wagnis, diese ungeheuerliche Mission niemand außer ihm, nicht einmal Izambard und Verlaine, so richtig einlassen wollten, da sagte er: Na schön, dann halt nicht! Wenn ihr keine "absolument moderne" Literatur haben wollt, dann lassen wir das Projekt sein. Eure Wurmfortsatzliteratur braucht niemand. Ich auch nicht. Adios! – Sprach es und verschwand und stopfte seine zusammengeknüllten Gedichte ins Klavier.
Aus Arthur Rimbaud: Das poetische Werk. Frankfurt 1980.
Progression heißt nichts weniger, als daß man das, was man einmal als dumm, unmenschlich, verlogen erkannt hat, hinter sich läßt und nicht weiter perpetuiert. Rimbaud hat gespürt, daß eine wirklich kompromißlos mit überkommenen Schablonen brechende Literatur nicht mehr länger begleitender, aber im Grunde überflüssiger Wurmfortsatz einer regressiven Scheuklappenkultur wäre, sondern diese Scheuklappenkultur von Grund auf ausmisten würde. Und als er sah, daß sich auf dieses radikale Wagnis, diese ungeheuerliche Mission niemand außer ihm, nicht einmal Izambard und Verlaine, so richtig einlassen wollten, da sagte er: Na schön, dann halt nicht! Wenn ihr keine "absolument moderne" Literatur haben wollt, dann lassen wir das Projekt sein. Eure Wurmfortsatzliteratur braucht niemand. Ich auch nicht. Adios! – Sprach es und verschwand und stopfte seine zusammengeknüllten Gedichte ins Klavier.