@DerLüger Das ist ein wahrlich guter Rat. Ich verstand in den ersten Klassen der Grundschule schon ausreichend Deutsch, um keine diesbezüglichen Probleme zu haben, aber ich war der totale Weggucker überhaupt, meine Sprechweise war so hastig und schnell, dass ich, unabhängig von der Richtigkeit des Gesagten, kaum zu verstehen war, wo der russische Akzent noch hinzukam. Irgendwann, es wird so in der 6. Klasse gewesen sein, gerade im Alter von etwa 13, wurde mir bewusst, dass alles, was man als meine sozialen Probleme bezeichnen konnte, aus genau diesem Defizit herrührte, meiner Unsicherheit. Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich ein Macho geworden bin, absolut nicht, aber ich trete betont dominant und selbstsicher auf, bin in der Schule z.B. meistens der Leader einer Gruppenarbeit. Am Anfang war es befremdlich, aber weil ich mich so wesentlich besser fühlte, beließ ich es dabei und habe mich seitdem völlig daran gewöhnt, es zu meinem neuen, völlig anderen Ich gemacht. Sicherlich hat es auch Nachteile, man kann unbeabsichtigt provozierend oder arrogant rüberkommen, "abgehoben", wie meine Leute sagen würden, deswegen sollte man das bei Fremden vielleicht in Grenzen halten, die zuvorkommende Seite markieren. Aber unter den Leuten, die man wirklich kennt, fühlt man sich so erst als richtiger, zugehöriger Mensch.
Einen Nachteil hat das für mich aber: Ich entlarve mich in Weißrussland schon mit der Art, wie ich meinen Gegenüber ansehe, als Fremder, ich habe keinen russischen Gesichtsausdruck und bin unmöglich von einem "echten" Deutschen zu unterscheiden, wenn man es nicht weiß, aber in Weißrussland merkt man trotz meinem nicht zu bemängelnden Russisch, dass mit mir etwas anders ist. Der erste Gedanke könnte sein, dass ich ein reicher verwöhnter Managersohn bin, aber im Laufe der Zeit wird man merken, dass ich eher einfache russische Sprache verwende und sich vielleicht entsprechendes denken. Man könnte es fast unsittlich nennen, aber hier ist es völlig normal - man merkt, wie groß die Kluft noch ist.
Man kann die Veränderung meiner Persönlichkeit übrigens noch an etwas anderem festmachen, eine (heutzutage...) radikale politische Meinung zu vertreten, erfordert einiges an Selbstvertrauen und -sicherheit. Ich wurde nicht links erzogen, ganz im Gegenteil, ich sollte versuchen, besser als die anderen zu sein, was mir in vielen Dingen auch nicht abzusprechen ist. Aber je mehr ich mich in einen offenen Menschen verwandelte, desto klarer wurde mir: Man kann nur in etwas Relevantem besser sein, indem man es nicht für sich in Anspruch nimmt, besser zu sein, was überhaupt das Allerletzte ist. Jemand besseres ist jemand, dessen primäres Ziel es ist, die Menschen in seiner Umgebung durch seine Anwesenheit ehrlich zu erfreuen, indem man wirklich etwas besonderes ist, anstatt zu sagen, man sei irgendwie besser, weil man bessere Noten in der Schule hätte oder so. Diese Erkenntnis katapultierte mich zu einem politischen Spektrum, dessen Wärme ich erst mit einem Zeh überprüfte, ehe ich reinsprang und bis heute nicht wieder autauchte.