Allerlei....
26.09.2022 um 10:22Ohne diese Frauen gäbe es unsere Kunstgeschichte nicht. Sie sassen Raffael oder Ferdinand Hodler Modell, waren ihre Geliebte, manche selbst Malerinnen. In «Vor aller Augen» lässt Martina Clavadetscher verspielt und engagiert 19 stumme Frauen von sich erzählen.
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Leonardo da Vinci: Dame mit Hermelin
«Basta! Es wurde genug geschaut!» Das sagt Cecilia Gallerani, nein, sie schreit es uns aus dem Jahr 1489 und von Leonardo da Vincis Gemälde «Dame mit Hermelin» entgegen. Besser gesagt: Martina Clavadetscher legt es ihr in den verschlossen lächelnden Mund. Ohnehin seien es alle die Modelle sitzenden, auf der Leinwand erstarrten Frauen der Kunstgeschichte leid, sentimentale oder erotische Projektionsflächen zu sein. Es ist der Fluch der reinen Körperlichkeit: Ob nackt oder in weissem Kleid, ob Kindfrau oder Sterbende - die Frauen auf den Gemälden müssen sich seit Jahrhunderten den Blicken des Publikums stumm aussetzen.
Unfair, befand Martina Clavadetscher: Über die Maler weiss man alles, über die gemalten Frauen fast nichts. Also entschied sie: Ein radikaler Perspektivenwechsel muss her. Für ihren feministisch-dystopischen Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» gewann sie vergangenes Jahr den Schweizer Buchpreis. Nun knöpft sie sich mit rächendem Schalk die grossen Meister vor. Leonardo da Vincis «Dame mit Hermelin», Jan Vermeers «Mädchen mit dem Perlenohrgehänge», Edouard Manets «Olympia», Ferdinand Hodlers «Valentine Godé-Darel im Krankenbett» und 15 Gemälde mehr, allesamt Meisterwerke, Glanzstücke in den grössten Kunstmuseen der Welt.
Sie reden mal eloquent, mal ruppig, aber immer unverblümt
Natürlich hat Clavadetscher keine Zeitzeugen-Interviews führen können, hat sich aber in der Forschung schlau gemacht. Sie nimmt sich biografische Freiheiten heraus und passt den Tonfall ihren Protagonistinnen an: So lässt sie etwa die von da Vinci gemalte Poetin Gallerani leidenschaftlich und eloquent von ihrer Schwangerschaft berichten, die vom Hermelin in ihrem Arm gleichzeitig symbolisiert und verdeckt wird; in ruppigen Kurzsätzen spricht Rembrandts Haushälterin und Geliebte; Lina Franziska Fehrmann hält eine Wutrede gegen ihren pädophilen Porträtisten Ernst Ludwig Kirchner. Bei letzterem strapaziert Clavadetscher etwas übereifrig die bekannten Fakten.
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Ernst Ludwig Kirchner: Artistin
Wie sie allerdings ihre Frauen bezaubernd, charmant und schambefreit sprechen lässt, ist nicht nur sprachlich ein grosses Vergnügen.
Am Ende setzt sie einem Idol ein Denkmal
Denn man mag das Buch zwar als literarisch-feministische Fingerübung ansehen. Aber darin liegt gerade ein spielerischer Reiz, der sie Variationen ausprobieren lässt. Dabei serviert sie viele herrliche kunstgeschichtliche Episoden. Mal dominiert mangelnde Wertschätzung, dann verhöhnen die nackt posierenden Modelle die Prüderie des 19. Jahrhunderts und eine mütterliche Beschützerin bedauert den verwirrten Vincent van Gogh. Während Cecilia Gallerani die wissenschaftlichen Durchleuchtungen als indiskret und aufdringlich kritisiert, ist Raffaels «La Fornarina» genau darüber glücklich, weil die Forschung sie Jahrhunderte später als Verlobte des Malergenies rehabilitierte.
Dass Clavadetscher ihren Reigen mit dem 1950 entstandenen Porträt der US-Dramatikerin Alice Childress abrundet, ist doppelt schlüssig. Alice Neel hat sie als starke, elegante und empathische Schriftstellerin gemalt. Vielleicht ein Idol von Martina Clavadetscher? Childress war «die erste Schwarze Frau, die ein Stück schreibt, das am Broadway gespielt wird». Dass sie konzentriert aus dem Fenster auf das unsichtbare Geschehen in Harlem schaut, macht sie zur souveränen Gesellschaftsbeobachterin, zur Ikone der Emanzipation. Die Botschaft ist elegant verpackt. Eigentlich schade, lässt Clavadetscher die Gelegenheit aus, den Frauen verschlingenden Macho Pablo Picasso aufs Korn zu nehmen. Aber diese Geschichten sind ihr wohl schon zu abgedroschen.
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