@all Ich glaube, dass dies ein bisschen Licht ins Dunkel bringt
http://www.gewahrsein.net/ego-selbstEgo und Selbst
Die östliche Forderung nach der Befreiung vom Ego löst bei den meisten westlichen Menschen eher Angst als Zuversicht aus. Man fürchtet die Auslöschung des eigenen Daseins als Individuum, wenn das Ego losgelassen wird. In Wirklichkeit gibt es aber zur Egoauflösung keine Alternative, wenn man man selbst sein will. Der Grund dafür liegt darin, dass unser Ego begrenzt ist, während das Selbst unbegrenzt ist. Das ist keine philosophische Spitzfindigkeit, sondern eine erfahrbare Tatsache.
Unser Ego könnte man mit der Festplatte eines Computers vergleichen und das Selbst mit allen im Internet bereitgestellten Informationen. Dass wir gewöhnlich dem Ego mehr vertrauen als dem Selbst, hängt wohl damit zusammen, dass wir unabhängig von einem Internetzugang jederzeit auf dessen Datenmengen zugreifen können. Wir identifizieren uns mehr mit den Daten, die wir auf unserem eigenen PC gespeichert haben als mit der gigantischen Datenmenge, die uns das Internet potenziell zur Verfügung stellt. Viele Menschen kleben so an ihrem Eigenen, dass sie den Verlust sämtlicher auf ihrem Computer gespeicherten Dateien für gravierender halten würden als die dauerhafte Aussperrung vom Internet. Dass diese Einschätzung irrational ist, bedarf wohl kaum der Begründung.
Doch genau so irrational verhalten wir uns, wenn wir unserem Eigenwillen den Vorrang vor dem Willen des Ganzen geben. Dem Ganzen steht bei jeder zu treffenden Entscheidung die Gesamtheit aller vorhandenen Daten zur Verfügung, während das Ego seine Entscheidungen auf der Basis von Informationen trifft, die im Verhältnis zum Ganzen nur ein Tropfen im Ozean sind. Wer an diesem Tropf hängt, nur weil er sein eigener ist, ringt mitten im Leben mit dem Tod wie ein Patient auf der Intensivstation.
Wem es gelingt, sich aus der Identifikation mit dem eigenen Ego zu befreien, dem steht eine Welt offen, von der er vorher nur die Konturen hat wahrnehmen können. Bezogen auf das Computer-Beispiel hat er einen großen Sprung von einem einzelnen PC ins world wide web gemacht. Doch nun lauert bereits die nächste Gefahr, nämlich sich mit den daraus bezogenen Informationen zu identifizieren. Eine solche Identifikation entspräche innerpsychisch der Identifikation mit dem Selbst, denn das Selbst hat nicht nur Zugang zu allen bewussten Inhalten, sondern auch zu allen unbewussten, die auf das Bewusstsein einwirken. Insofern ist man eigentlich schon am Ziel, wenn man sich mit dem Selbst statt mit dem Ego identifiziert. Jetzt fehlt nur noch ein kleiner aber entscheidender Schritt. Man muss auch noch die Identifikation mit dem Selbst als Illusion durchschauen.
Der indische Gelehrte Ramana Maharshi hat kurz und knapp den Weg beschrieben, wie man über das wahre Selbst in Berührung mit dem ewigen Jetzt kommen kann:
"Zuerst sieht man das Selbst als die Dinge,
Dann sieht man das Selbst als Leere,
Dann wiederum sieht man das Selbst als das Selbst;
Nur im letzten Fall gibt es kein Sehen,
Denn Sehen ist Werden."
Ramana Maharshi: In: Große Meister Indiens, Jyotishman Dam (Hrsg.), 1. Aufl. Darmstadt: Schirner, 2006, S. 214
In der ersten Zeile wird der Zustand beschrieben, in dem das Selbst sich mit den Dingen identifiziert. Hier hält das Ego noch die Einverleibung der Dinge für sein Selbst.
In Zeile zwei hat das Ego die Nichtigkeit seiner Identifikation mit den Dingen erkannt. Es identifiziert sich jetzt mit dem Selbst als etwas, das nicht existiert.
Doch in dieser Leere hält es das Ego nicht aus. Der Weg zurück, zur Identifikation mit den Dingen ist ihm ebenfalls versperrt. Schließlich erkennt es in Zeile drei das Selbst als die Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein. Jetzt erst wird das Selbst als das Selbst erkannt. Es hat eine immanente Dimension, in der es Form annimmt, und eine transzendente, in der es formlos also leer ist. Solange man darin einen Widerspruch sieht, befindet man sich in der Dualität. Sobald man die Einheit der beiden Dimensionen erkannt hat, sieht man das Selbst als das Selbst. Wo die Identifikationen enden, beginnt die wahre Identität.
Das Selbst als das Selbst sehen, heißt nichts sehen (Zeile vier). Nichts sehen heißt nur das sehen, was man selbst nicht sieht, denn was man selbst sieht, ist nicht das Selbst. Was man selbst sieht, ist die bloße Vorstellung vom Selbst, also Projektion. Erst der Verzicht auf das Selbst-Sehen ermöglicht Wahr-Nehmung. In der Wahrnehmung zeigt sich alles als ungeworden (Zeile fünf). Die Illusion von Raum und Zeit ist eine Egoprojektion auf das Selbst. Die Filmrolle selbst kennt keine Zeit. Erst wenn man sie abspielt, also den Film sehen will, entsteht die Illusion von Zeit.
Der Weg vom falschen Selbst (Ego) zum wahren Selbst (das raumzeitlose Ganze) führt also über die Selbstaufhebung des Ego. Den Begriff Selbstaufhebung verstehe ich hier im dreifachen hegelschen Sinne:
Das Selbst ist abgeschafft. Die falsche Vorstellung vom Selbst wurde erkannt.
Das Selbst ist aufbewahrt. Das wahre Selbst geht durch die falsche Vorstellung von ihm nicht verloren.
Das Selbst wird in eine höhere Ebene hinauf gehoben. Im wahren Selbst, das heißt in der Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein sind alle Widersprüche aufgehoben.
Zyniker könnten an dieser Stelle anmerken, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht, als dass ein Mensch zur Selbstaufhebung bereit wäre. Ganz unrecht hätten sie damit nicht. Dennoch gibt es eine kleine Minderheit, die diesen Schritt der Nichtidentifikation wagt. Es sind diejenigen, die bereit sind, mitten im Leben zu sterben, wie ein Zenmeister treffend bemerkt:
"Stirb, während du lebst, und sei vollkommen tot.
Dann tue, was immer du willst - alles ist gut