Jesussah schrieb:Ich bin nicht hier um dir etwas zu beweisen.
Dafür gibt´s aber eine Menge Erklärungen von Dir.
Was treibt Dich an, Dein Wissen hier zu verbreiten?
Deine Vorstellung von Liebe ist sicherlich ein schöndes Ideal: die totale Selbstlosigkeit, Hingabe, u.s.w..
Sehr schön, wenn man in einer idealen Welt lebt, in der niemand niemanden braucht, in der man sich auf niemanden verlassen können muss, in der Familie und Biografie hinter sich gelassen werden können.
Sicher ist es schön, nach einem solchen Ideal zu streben.
Wir leben aber in einer Welt, die von Fehlern, glücklichen und unglücklichen Biografien, Unvollkommenheit und menschlichen Schwächen geprägt ist.
Und mir liegt es mehr, mit dem umzugehen, was mir in den Menschen begegnet. Sonst wäre ich Nonne in einem buddhistischen Kloster.
Deine Idee, man wäre nur jenen Keimen ausgeliefert, denen man sich durch Stress aussetzt, mag eine hübsche esotherische Idee sein. Funktioniert aber nicht zwangsläufig ... denn das Leben ist in jedem Fall endlich, an irgendwas stirbt man früher oder später. Ob das Organversagen bei meiner 99-jährigen Grossmutter letztendlich durch Bakterien oder einfaches Aufhören des Herzschlages ausgelöst wurde, würde nie jemand durch Obduktion versuchen zu erfahren. Deine Theorie ist also nicht beweisbar - es gab noch niemanden, der durch Vollkommenheit das ewige Leben erlangt hat. Oder auch nur älter als 120 geworden wäre.
Meine ziemlich starrsinnige, ihr Leben lang etwas verbiesterte Tante wurde 106.
Ein Freund, der der so ziemlich freundlichste, entspannteste, zufriedenste Mensch war, den man sich vorstellen kann, starb 20 Minuten, nachdem er mit seiner geliebten Frau über Kinderwünsche gesprochen hatte, bei einem Unfall.
Einem putzgesunden, starken, geliebten und glücklichen Bekannten blieb mit 32 eines Nachts aus vollkommen unerfindlichen Gründen das Herz stehen. (Kein Herzinfarkt)
Wir sterben also alle irgendwann ... und laut Deiner eigenen Theorie ist es eigentlich auch egal, ob früher oder später. Es ist also auch auch egal, woran.
Seltsamerweise wird aber der Tod durch Krankheit als etwas gesehen, was man durch innere Ausgeglichenheit u.s.w. vermeiden kann ... da ist es auf einmal wichtig und ein Zeichen von persönlicher Integrität, wenn man länger und gesünder lebt.
Stirbt ein Mensch dann, trotzdem er sich so weit wie denkbar dem Ideal angenähert hat, dann folgen prompt ebenso esotherische Erklärungen: Er habe seine Aufgabe erfüllt/eine höhere Ebene erlangt/nichts mehr hier in diesem Leben zu erfahren gehabt ... wie auch immer.
Oder es heisst: er war eben nicht so vollkommen, wie es schien. Da war wohl doch noch ein Ungleichgewicht.
Eine Erklärung findet sich immer - zumindest wird sie immer gesucht. Und ehrlich gesagt, geht mir das seit dem Unfalltod des Freundes zunehmend auf die Nerven.
Die geliebte Ehefrau des Freundes wurde monatelang mit solchen Erklärungsversuchen gequält, und quälte sich mit ihrer "Unvollkommenheit", nicht loslassen zu können, mit ihrer grenzenlosen Sehnsucht, die in dieser Philosophie Egoismus ist.
Sie ist beinahe daran zerbrochen ... bis sie begriff, dass es da keine Erklärung, keine Gerechtigkeit, keinen Sinn gibt.
Genausowenig wie es einen Sinn darin gibt, ob man an einem Keim, gegen den auch der perfekteste Körper und Geist nicht immunisiert sein kann, erkrankt.
Das Leben ist nicht mit dem Versprechen auf Vollkommenheit entstanden. Es ist vielmehr aus Unvollkommenheit, durch tausenderlei Versuche und Fehlschläge, Veränderung und Zufälle entstanden. Ich denke, es steht dem Menschen nicht zu, zu glauben, er könne mit seinem Geist sich von etwas befreien, was in Jahrmillionen diesen Geist erst ermöglicht und geformt hat.
Wie wär´s, wenn man einfach versuchte, sich mit den Unvollkommenheiten zurechtzufinden und z.B. nicht in jeder Scheidung oder Krebserkrankung eine Niederlage zu sehen?