Was hat der Islam zur Entwicklung unserer Zivilisation beigetragen?
04.03.2011 um 18:16
ein lesenswerter Artikel
Muslimische Pioniere der Mathematik
Shirali Kadyrov
Vor allem in den Jahren zwischen 622 und 1600 haben Muslime auf dem Feld der Mathematik außergewöhnliche Leistungen vollbracht. In dieser Epoche besaß der Islam nicht nur als Religion, sondern auch als Kultur großen Einfluss - von Anatolien bis nach Nordafrika und von Spanien bis nach Indien, mit anderen Worten: überall in der damals bekannten Welt. So spricht man zu Recht auch vom goldenen Zeitalter des Islams.
Die Mathematik, oder "die Königin der Wissenschaften", wie der berühmte deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß sie einmal nannte, spielt eine enorm wichtige Rolle in unserem Leben. Eine Welt ohne Mathematik ist unvorstellbar. Im Laufe der Geschichte haben unzählige Forscher und Gelehrte bedeutende Beiträge zu dieser Wissenschaft geleistet, darunter auch sehr viele Muslime. Alle ihre Leistungen aufzuzählen würde hier bei weitem den Rahmen sprengen. Deshalb möchte ich mich auf vier Aspekte konzentrieren: auf Übersetzungen früherer Werke sowie auf einzigartige Verdienste in Algebra, Geometrie und Trigonometrie. Um wirklich nachvollziehen zu können, wie bedeutsam die Werke jener Wissenschaftler der Vergangenheit waren, sollte man versuchen, sie mit den Augen eines Menschen der damaligen Zeit zu betrachten; denn zahlreiche Fakten, die heute jedes Kind kennt, waren zu ihren Lebzeiten noch gänzlich unbekannt. Wissenschaft und Islam haben nie im Konflikt miteinander gestanden. Muslime betrachten alles, was im Universum existiert, als ein Sendschreiben Gottes des Allmächtigen, mit dem Er uns einlädt, Kenntnisse über Ihn zu erlangen. Der erste offenbarte Vers des Korans lautet: Lies im Namen deines Herrn, der erschuf. (96:1) Er fordert uns nicht nur auf, den Koran zu studieren, sondern lenkt unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf das Universum, nämlich indem er die Erschaffung erwähnt. Es gibt viele Verse im Koran, die die Muslime ermahnen, zu denken, sich Wissen anzueignen, zu lernen und so weiter. Darüber hinaus existieren auch mehrere Worte des Propheten Muhammed, die den Muslimen nahelegen, nach Wissen zu suchen. Zum Beispiel: Ein gläubiger Mensch hört erst dann auf, nach Wissen zu suchen, wenn er ins Paradies eingeht. (Tirmidhi) Oder: Die Suche nach Wissen gehört zu den Pflichten eines jeden Muslims. (Bukhari) Von daher kann es kaum überraschen, dass die frühen muslimischen Gelehrten zumeist in gleich mehreren Wissenschaften bewandert waren.
Übersetzungen
Der Prophet Muhammad sagte einmal: Das Wissen ist der verlorene Besitz eines Muslims; wer ihn findet, muss ihn an sich nehmen.1 Also begannen die Muslime, nach Wissen zu streben, und machten sich an die Arbeit, bedeutende Werke, von denen sie glaubten profitieren zu können, aus fremden Sprachen ins Arabische zu übersetzen. Mit dem Ziel, die Wissenschaft voranzubringen, griffen muslimische Gelehrte vor allem auf zwei Quellen zurück: auf die Werke der Inder und der Griechen. Der Abbasidenkalif Al-Mamun (804-832) ließ eine Universität bauen und befahl seinen Gelehrten, zahlreiche Bücher der griechischen Wissenschaft ins Arabische zu übertragen. Zwischen 771 und 773 wurden die indischen Ziffern in der muslimischen Welt eingeführt - ein Resultat der Übersetzung des Buches Brahmasphutasiddhanta (Der Anfang des Universums) aus dem Sanskrit ins Arabische durch Abu Abdullah Muhammad Ibrahim al-Fazari. Die indischen Ziffern bilden die Grundlage des Dezimalsystems, das sich längst weltweit durchgesetzt hat. Ein anderer großer Mathematiker, Thabit ibn Qurra, übersetzte nicht nur selbst die Werke von Euklid, Archimedes, Apollonius, Ptolemäus und Eutocius, sondern gründete auch eine Übersetzerschule und betreute viele weitere Übersetzungen von Büchern aus dem Griechischen ins Arabische. Hadschadsch ibn Yusuf übertrug Euklids Elemente ins Arabische, und Al-Dschayyani verfasste einen Kommentar dazu, der im Fihrist (Index) erschien, einem Werk, das 988 von dem Buchhändler Ibn an-Nadim herausgegeben wurde. Eine vereinfachte Version vom Almagest des Ptolemäus präsentierte Abu-l Wafa al-Buzdschani in seinem Buch Kitab al-Kamil. Er kommentierte und schematisierte außerdem die Werke von Euklid, Ptolemäus und Diophantos. Auch die Söhne von Musa ibn Schakir gaben Übersetzungen der griechischen Werke in Auftrag.
All diese Übersetzungen haben eines gemeinsam: Sie bereiteten den Boden für höchst bemerkenswerte Leistungen muslimischer Forscher auf dem Feld der Mathematik. Hinzu kommt noch, dass die griechischen Texte der Nachwelt wohl nur dank dieser Übersetzungen erhalten geblieben sind.
Algebra und Geometrie
Der Begriff ,Algebra' geht zurück auf das Wort Al-Dschabr aus dem Buchtitel Hisab al-Dschabr wa-l-Muqabala (Kurz gefasstes Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen) von Muhammad ibn Musa al-Khwarizmi (780-850). Al-Khwarizmi, nach dem der ,Algorithmus' benannt ist, gilt als einer der größten Mathematiker aller Zeiten. Europa kam erstmals mit der Algebra in Berührung, als Al-Khwarizmi's Buch 1143 von Robert Chester ins Lateinische übersetzt wurde. Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste befasst sich mit sechs Normalformen von linearen und quadratischen Gleichungen, auf die alle anderen Gleichungen zurückgeführt werden:
ax2=bx, ax2=b, bx=c, ax2+bx=c, ax2+c=bx; bx+c=ax2
Diese Gleichungen löst Al-Khwarizmi nach Regeln, die geometrisch bewiesen werden. Obendrein führt er hier auch die algebraische Multiplikation und Division ein. Im zweiten Teil des Hisab al-Dschabr geht es um Vermessung. Dort werden Regeln für die Berechnung von Flächen und Körpern beschrieben. Weil der Prophet Muhammad sagte Lernt die Erbschaftsgesetze, und bringt sie den Menschen bei; denn sie bilden die Hälfte des Wissens2, widmet sich der dritte und umfangreichste Teil des Buchs mit der Lösung von Erbteilungsaufgaben, die eine gute Kenntnis des islamischen Erbrechts erfordern. Al-Khwarizmi übernahm die indischen Ziffern. Durch ihn schloss Europa Bekanntschaft mit dem Konzept der Null. Das Wort ,Null' kommt übrigens vom lateinischen Zephirum, das seinerseits vom arabischen Sifr abgeleitet ist.
Die Banu Schakir, die drei Söhne von Musa ibn Schakir (ca. 800-860), waren möglicherweise die ersten muslimischen Mathematiker, die die griechischen Werke studierten. Sie verfassten ein großartiges Werk über Geometrie, das Kitab al-Ma'rifat Masihat Aschkal (Buch der Kenntnis der Ausmessung der ebenen und sphärischen Figuren), das später von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt wurde. In dem Buch verwenden sie ähnliche Methoden wie Euklid und Archimedes, gehen jedoch noch einen Schritt weiter als die Griechen. Sie stellen Flächen und Körper als Zahlen dar und schenkten der Mathematik damit einen ganz neuen Ansatz. Zum Beispiel beschreiben sie die Konstante Pi (?) als den Wert, der multipliziert mit dem Durchmesser eines Kreises den Kreisumfang liefert.
Der berühmte Dichter, Philosoph und Astronom Umar Khayyam (1048-1122) war gleichzeitig auch ein bedeutender Mathematiker. Sein bekanntestes Buch zum Thema Algebra ist das Lehrbuch zur Demonstration der Probleme in der Algebra. Dort stellt er arithmetische und geometrische Lösungen für Gleichungen zweiten Grades vor und beschreibt darüber hinaus auch Lösungen für Gleichungen dritten Grades mit Hilfe von Kegelschnitten. Außerdem entdeckte er auch die binomische Erweiterung. Seine Arbeiten haben der Algebra und der Geometrie große Fortschritte ermöglicht.
Thabit ibn Qurra (836-901) war ein bedeutender Mathematiker, dem wir ebenfalls viele Entdeckungen verdanken. Er entwickelte die Konzepte der traditionellen Geometrie weiter und war ein Wegbereiter der analytischen Geometrie, der nicht-euklidischen Geometrie, der sphärischen Trigonometrie, der Integralrechnung und der reellen Zahlen. In der Astronomie reformierte Thabit das ptolemäische System, und in der Mechanik wird er als Begründer der Statik geschätzt. Wohlbekannt sind auch seine Überlegungen zu den ,befreundeten Zahlen'. (Unter einem Paar befreundeter Zahlen versteht man zwei natürliche Zahlen, von denen wechselseitig jeweils eine Zahl gleich der Summe der echten Teiler der anderen Zahl ist.) Thabit ibn Qurras Satz dazu lautete:
Für eine feste natürliche Zahl n sei x = 3?2n-1, y = 3?2n?1-1 und z = 9?22n?1-1.
Wenn x, y und z Primzahlen sind, dann sind die beiden Zahlen a = 2n?x?y und b = 2n?z befreundet.
Abu Kamil (ca. 850-930) führte die Arbeiten von Al-Khwarizmi weiter und übertrug algebraische Methoden in die Geometrie. Sein Forschungsfeld umfasste quadratische Gleichungen, die Multiplikation und Division von algebraischen Einheiten sowie auch die Addition und Subtraktion von Wurzeln. Sein Buch der Algebra besteht aus drei Teilen:
Lösungen quadratischer Gleichungen,
Anwendung der Algebra in der Geometrie,
diophantische Gleichungen.
Er entdeckte folgende Formeln:
ax?bx=ab?x2; a(bx)=(ab)x; (10-x)?(10-x)=100+x2-20x
Abu Kamil ist auch Verfasser des Buches über Landvermessung und Geometrie, das den Vermessungstechnikern der Regierung die Arbeit erleichtern sollte. Dort erklärt er die Regeln für die Berechnung von Flächen, Körpern, Perimetern und Diagonalen von unterschiedlichen Objekten in der Geometrie.
Ibrahim ibn Sinan (908-946), ein Enkel von Thabit ibn Qurra, war Astronom und Mathematiker. Der Historiker Fuat Sezgin schreibt über ihn: "Er war einer der bedeutendsten Mathematiker der islamischen Welt des Mittelalters."3 Ibrahim ibn Sinan studierte Geometrie, und besonders geschätzt wird sein Buch über die Berechnung der Fläche unter dem Graph einer Parabel. Darin führt er die Arbeiten von Archimedes weiter und entwickelt eine allgemeine Methode der Integration. Abu Bakr ibn Muhammad ibn al-Hussein al-Karadschi (953-1029), auch bekannt als Al-Karkhi, gilt als der Erste, der algebraische Rechenoperationen entwickelt hat, die ohne einen Rückgriff auf die Geometrie auskommen. Eines seiner wichtigsten Werke war Al-Fakhri fi-l-Dschabr wa-l-Muqabala (Ruhm in der Algebra). Der Historiker Woepcke schreibt, mit diesem Buch beginne die Theorie der Algebrarechnung.4 Dort definiert Al-Karkhi die eingliedrigen Zahlengrößen x, x2, x3... und 1/x, 1/x2, 1/x3 und erläutert, welche Regeln gelten, wenn man zwei von ihnen miteinander multipliziert. Außerdem fand er Lösungen für Gleichungen des Typs ax2n+bxn=c. Al-Karkhi bewies die Korrektheit der Additionsregeln für die dritten Potenzen ganzer Zahlen mit Hilfe eines Induktionsbeweises und war damit der erste Anwender dieser Methode.
Abu-l Hasan ibn Ali l-Qalasadi (1412-1486) war ein andalusischer muslimischer Mathematiker. Seine bedeutendste Leistung war die Einführung algebraischer Platzhaltersymbole, wobei er diese mit arabischen Kurzworten benannte. Zum Beispiel verwendete er für das, was wir als Unbekannte x bezeichnen, das Symbol für den Laut ,sch' aus dem arabischen Wort schay - Sache.
Trigonometrie
Auch auf diesem Gebiet hat Al-Khwarizmi besondere Leistungen vollbracht. Er erstellte exakte trigonometrische Sinus- und Kosinustafeln, und er war der Erste, der Tangententafeln benutzte. 1126 wurden die entsprechenden Arbeiten von Adelard von Bath ins Lateinische übersetzt.
Der muslimische Astronom und Mathematiker Al-Battani (oder Albetagnius, ca. 850-929) bediente sich in seinen Arbeiten im Bereich der Astronomie trigonometrischer Methoden, die viel ausgereifter waren als die geometrischen Methoden des Ptolemäus. Er führte den Sinus in die mathematischen Berechnungen ein, berechnete eine Tabelle des Kotangens und formulierte allgemeine Sätze für die Trigonometrie.
Der bereits erwähnte Muhammad Abu-l Wafa (940-998), geboren in Buzdschan, Khorasan, stellte erstmals die Funktionen von Sekanten-, Tangenten- und Kosekanten auf. Er entwickelte neue Berechnungsverfahren für Sinustafeln, die es ihm erlaubten, bis zu acht Dezimalstellen zu errechnen. Er erwarb sich Verdienste auf dem Feld der sphärischen Trigonometrie und bewies den Sinussatz für allgemeine sphärische Dreiecke. Seine berühmtesten Gleichungen lauten:
sin(a+b)=sin(a)cos(b)+cos(a)sin(b)
cos(2a)=1-2sin2(a)
sin(2a)=2sin(a)cos(a)
Abu Abd Allah Muhammad ibn Mu'adh Al-Dschayyani (989-1079) war ein arabischer Mathematiker aus Andalus. Er schrieb die erste Abhandlung über sphärische Trigonometrie. Dort präsentiert er Formeln für rechtwinklige Dreiecke und den Sinussatz. Außerdem fand er die Formel für die Auflösung des sphärischen Dreiecks durch das zugehörige Polar-Dreieck. Al-Dschayyani übte großen Einfluss auf die europäische Mathematik aus.
Ein weiterer herausragender Mathematiker war Nasir ad-Din at-Tusi (1201-1274) Seine Abhandlung über das Viereck gilt als das aufschlussreichste Buch über Trigonometrie des Mittelalters. 1891 wurde es von Alexandre Caratheodory Pascha ins Französische übersetzt. Im Dictionary of Scientific Biography5 heißt es dazu: "Diese Arbeit ist die erste in der Geschichte der Trigonometrie als unabhängiger Zweig der reinen Mathematik und die erste, in der alle sechs Fälle für ein rechtwinkliges sphärisches Dreieck behandelt werden." Auch der bekannte Sinussatz a : b : c = sin ? : sin ? : sin ? findet sich in dieser Arbeit wieder. Ghiyath ad-Din al-Kashi (1393-1449) erstellte auf bis zu acht Dezimalstellen genaue Sinustabellen. 1424 berechnete er 2? auf 16 Dezimalstellen genau. In seinem beeindruckenden Buch Miftah al-Hussab (Schlüssel zur Arithmetik) fasst er für Astronomen, Vermessungstechniker, Architekten, Buchhalter und Händler das mathematische Wissen seiner Zeit zusammen. Dort erklärt er auch, wie man die fünfte Wurzel jeder beliebigen Zahl bestimmt.
Leider werden die wissenschaftlichen Leistungen der Muslime oft völlig übersehen oder zumindest zu wenig gewürdigt. Muslimische Gelehrte konnten sich in vielen Zweigen der Wissenschaft auszeichnen. In der Mathematik ebenso wie in Astronomie, Geographie, Philosophie, Medizin, Kunst, Architektur und anderen Disziplinen. Heute wissen nur noch wenige, dass es eine Zeit gab, in der der Islam in allen Lebensbereichen eine führende Rolle spielte. Übersetzungen ins Arabische haben dafür gesorgt, dass das wertvolle intellektuelle Erbe Europas bewahrt werden konnte und sogar weiterentwickelt wurde. Inspiriert durch den Koran und die Hadithe haben die Muslime nach Wissen zum Nutzen der ganzen Menschheit gesucht. Der Koran fragt: Sind solche, die wissen, denen gleich, die nicht wissen? (39:9) Daher sollten wir die Wissenschaftler aller Epochen für ihre Beiträge zur Wissenschaft schätzen.
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