An Atheisten
06.11.2005 um 19:18
War Jesus wirklich ein Prophet? Oder einfach nur ein Naturphilosoph? hab da einen Text:
Der gottlose Jesus
Gerade in einer hoch technisierten Gesellschaft wie der unsrigen besteht ein steigender Bedarf nach jenen Geistern, die man einst durch den Glanz der Aufklärung und der Wissenschaft ersetzt zu haben glaubte: den Religionen.
Den modernen Menschen dürstet nach spiritueller Abwechslung, nach einem quasiesoterischen Archimedischen Punkt, der ihm ein wie immer geartetes "Jenseits" der täglich erfahrbaren, scheinbar erklärten, äußeren Welt zugänglich machen soll. Kurz: Das aufgeklärte Ebenbild der Religion, die abendländische Philosophie, reicht ihm nicht mehr aus, das Schmiede- und Maß-Instrument seiner Gedanken zu sein.
Es ist eine ebenso alte wie spannende Frage, inwieweit sich Religion und Philosophie die Hände zu reichen und reichten. Auf den eben angesprochenen modernen Mensch gemünzt: Blendet er sich selbst, wenn er die Philosophie geringschätzt und nach neuem Spiritismus sucht, da sie vielleicht allzuoft als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden können?
Das Problem der Verwandtschaft von Philosophie und Religion lässt sich an einem ebenso ungewöhnlichen wie prominenten Beispiel der Religionsgeschichte verdeutlichen: an Jesus von Nazareth selbst. Die provokante und abenteuerliche Frage lautet: Kann man Jesus als mystischen Naturphilosophen betrachten, der aus eigenem Denken handelte, ohne von Gott beseelt worden zu sein?
Die Antwort ist nichts anderes als ein verblüffendes Ja. Denn der biblische Jesus trägt im philosophischen Gehalt seiner Lehren letztlich sehr ähnliche Züge wie etwa Buddha, der Gründer des Buddhismus – einer Religion, die in der modernen Philosophiegeschichte durchaus auch den Rang einer Philosophie einnimmt und – ähnlich dem Konfuzianismus – als solche anerkannt wird. Diese These unterstützt das von der katholischen Amtskirche nicht anerkannte Thomas-Evangelium, das durchaus Parallelen zwischen der äußeren Form der Lehre Jesu und jener Buddhas erkennen lässt.
So wie Buddha überliefert sich Jesus seinen Anhängern im Thomas-Evangelium als bloße Leitfigur, welche den "rechten Weg", den Weg "in den Himmel" schon gegangen sei und nun den Menschen dazu anleiten wolle, ihm zu folgen. Dabei dürfe der Mensch nur den Himmel alleine vertrauen und müsse dem Weltlichen als Quelle der Sünde entsagen.
Ganz ähnlich sieht dies der Buddhismus. Dieser ist die frühmittelalterliche Antwort auf den Hinduismus und die Veden, deren Ablehnung den Ausgangspunkt der "Abspaltung" des Buddhismus vom Hinduismus bildet: Während die Hinduisten an den Veden als heilige Schriften festhalten, meint der Buddhist, dass das Göttliche keiner Ausdrucksform bedarf. Dieses Göttliche ist im Gegenteil das absolute Leere und Nichts, das Nirvana. Indem der Mensch dem Weltlichen und dann auch noch dem Denken entsagt, geht er den Weg ins göttliche Nirvana – analog zum Jesus, wie ihn Thomas zeichnet.
Fragt man den Buddhisten, wer oder was Buddha sei, so wird er vermutlich antworten, dass Buddha überall und alles sein könne. Dies ist durch das Widerspiel der durch den Buddhisten ersehnten Unmittelbarkeit und der Leere seines Denkens zu verstehen: In der Kombination von unmittelbarem Empfinden und der Entleerung des Denkens findet – so meint der Buddhist – der Meditierende eine Weg, die Grenzen seines Ichs zu sprengen und eins mit der ganzen Welt zu werden.
Hier finden wir abermals eine erstaunliche Parallele zum Thomas-Evangelium. In diesem beschreibt sich Jesus als allgegenwärtig, als jemand, der die Grenzen seines Ichs überwunden habe: "Hebe einen Stein auf, und du wirst mich finden. Brich ein Stück Holz und ich werde da sein!"
An diesem Punkt drängt sich die spannende Frage auf: Kann Jesus vom 500 Jahre älteren Buddha gewusst und dessen Lehren modifiziert haben? Wenngleich dieses Thema zu abenteuerlichen Spekulationen anregt, ein solcher Bezug zwischen Jesus und Buddha lässt sich nicht belegbar herstellen. Den Klein-Asiat Jesus und den Ost-Asiat Buddha trennten nicht nur viele tausend Kilometer, sondern vor allem auch eine kulturelle Barriere, welche jeden Austausch zwischen dem damaligen Römischen Reich und dem Chinesischen Kaiserreich verhinderte. Erst Marco Polo machte chinesisches Denken in Europa bekannt und teilweise en vogue.
Ein weiterer philosophischer Aspekt in Jesus' Lehre mag in seinem Bestreben liegen, ein ethisches Modell vor dem Hintergrund einer Reflexion über Gott und die Auferstehung zu begründen: Das Johannes-Evangelium erzählt uns von Jesus' Lehrer Nikodemus, einem spirituellen Philosophen, und von dessen langen Diskussionen mit seinem Schüler. Besonders bemerkenswert erscheint jene Stelle, wo Jesus seine Behauptung, alle Menschen müssen und würden wiedergeboren, vor dem strengen Denker Nikodemus rechtfertigen will.
Jesus' geradezu philosophische Ansage, alles Lebendige sei von "Wasser und Geist", erinnert nicht nur an die antiken Naturphilosophen wie Thales, Anaximenes oder Anaxagoras, welche alles Bestehende als Ausformungen eines Urstoffes wie Wasser oder Luft zu erkennen glaubten, sondern peilt auch direkt den damals virulenten Punkt des Leib-Seele-Problems an: Jesus tritt Nikodemus als mythischer Philosoph entgegen, wenn er indirekt an die griechischen Naturphilosophen erinnert, indem er den Menschen aus (dem Urstoff) Wasser entsteigen lässt; um gleichzeitig die Seele des Menschen als "Geistiges" zu erklären – womöglich eine Anleihe bei den damals bekannten Vertretern des Leib-Seele-Dualismus.
Der Jesus von Nazareth wie man ihn heute kennt und denkt mag als das ständig modifizierte Bild einer Gemeinschaft von wenigen spirituellen Führern identifiziert werden, die der eigenen Doktrin oft mehr Glauben schenkten als der Bibel. Insofern ist es nicht überraschend, dass der Versuch, in Jesus so etwas wie einen mystischen Philosophen zu erkennen, in heutigen Augen etwas abenteuerlich erscheinen muss.
Quelle: Harald Grobner
Wer nicht weiß, was er selber will, muß wenigstens wissen, was die anderen wollen