@Heide_witzka In der Tat gibt es Prophezeiungen, die erst erstellt wurden, nachdem sie sich "erfüllt" hatten. Und es gibt Prophezeiungen, die zwar alt genug sein dürften, die sich aber eben auch nicht erfüllt haben. Und es gibt auch überarbeitete, erweiterte Prophezeiungen, sei es, um das Eintreffen zu "verdeutlichen", sei es, um dem angekündigten - und eingetroffenen - Unheil noch ein "danach aber wird es wieder besser" zur Hoffnung anzuhängen. Und ja, es gibt "schwammige" Prophezeiungen, aber es gibt auch durchaus deutliche. Die Mehrheit des "Schwammigen" dürfte aber gar nicht an den Prophezeiungen selbst liegen, sondern an den späteren Umdeutern. Wenn Jesus sagt (Matthäus16,28): "Wahrlich, ich sage euch: Es sind einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Sohn des Menschen haben kommen sehen in seinem Reich", dann "wissen" heutige Umdeuter, daß Jesus ja unmöglich "einige von denen, die dort bei Jesus standen" gemeint haben könne. Dabei sind Jesu Worte sowas von eindeutig und überhaupt nicht schwammig.
Gitt jedenfalls beruft sich bei seiner Berechnung nicht auf die Zahl der Prophezeiungen, sondern auf die Zahl der Verse jener Prophezeiungen, welche für ihn als "bereits erfüllt" gelten. Für Gitt gibt es alternativ zu den "erfüllten" also nicht "fehlgeschlagene" Prophezeiungen, sondern "noch ausstehende". Unter den Beispielen für erfüllte Prophezeiungen, die Gitt selbst anführt, sind jedenfalls genau solche vaticinia ex eventu ("Ankündigungen" aus (=nach) dem Eintreffen) dabei, ferner solche, deren Erfüllung erst nachträglich "erzeugt" wurde (selbst die Evangelien wissen, daß Jesus nicht aus Betlehem stammt).
Daß die altisraelitischen Propheten realpolitisch weitsichtige Männer waren, wurde immer wieder mal gern angeführt, selbst heute noch kann man sowas lesen. Hab ich so meine Zweifel, wenn sie erklären, daß die Sünde des Volkes zum Untergang durch die Assyrer führt, aber Gottvertrauen besser vor den Assyrern schützt als ein politisches Bündnis mit den Feinden Assurs: Ägypten und Babylon. Das klingt ein bisserl danach, als müßten diese Propheten erst mal die politische Großwetterlage abchecken um zu wissen, ob sie heute Israels Sünden anprangern müssen oder seine Gerechtigkeit loben.
Hingegen sind Propheten getrieben. Egal, ob man Prophetie für möglich hält oder nicht, die Propheten selbst schienen es zu glauben. Und Prophet zu sein war nicht ihre Wahl, es war mehr ein Zwang. Im Buch des Unheils- und Untergangspropheten Jeremia lesen wir ein Gebet, das dies recht gut wiedergibt. Jeremia20,7-9.14-18:
HERR, du hast mich betört, und ich habe mich betören lassen. Du hast mich ergriffen und überwältigt. Ich bin zum Gelächter geworden den ganzen Tag, jeder spottet über mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien, `Gewalttat und `Zerstörung rufen; denn das Wort des HERRN ist mir zur Verhöhnung und zur Verspottung geworden den ganzen Tag. Und sage ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen reden, so ist es in meinem Herzen wie brennendes Feuer, eingeschlossen in meinen Gebeinen. Und ich habe mich [vergeblich] abgemüht, es [weiter] auszuhalten, ich kann nicht [mehr]! [...] Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde; der Tag, an dem meine Mutter mich gebar, sei nicht gesegnet! Verflucht sei der Mann, der meinem Vater die frohe Botschaft brachte und sagte: `Ein Sohn ist dir geboren, [und] der ihn [damit] hoch erfreute! Dieser Mann werde den Städten gleich, die der HERR umgekehrt hat, ohne es zu bereuen! Und er höre Geschrei am Morgen und Kriegsgeschrei zur Mittagszeit, weil er mich im Mutterleib nicht [schon] getötet hat, so dass meine Mutter mir zu meinem Grab geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre! Wozu nur bin ich aus dem Mutterleib hervorgekommen? Um Mühsal und Kummer zu sehen? Und dass meine Tage in Schande vergehen?
Jeremia haßt es, Zerstörung und Untergang anzukündigen, er fühlt sich dazu gezwungen, wie sehr er sich auch sträubt. Und er haßt es, für seine Unheilsbotschaft angefeindet zu werden (er wird geschlagen, inhaftiert, mehrmals von Hinrichtung bedroht). Er haßt schließlich sogar sein Leben, und zwar so heftig, geradezu schmerzvoll, daß er selbst dem unschuldigen Freudenboten seiner Geburt eine völlig ungerechte, übermäßige Bestrafung an den Hals wünscht.
Dieser Zwang, unter dem sich der Prophet erlebt, ist nicht singulär. Amos, einer der frühesten sog. Schriftpropheten, sagt (Amos3,8):
Der Löwe hat gebrüllt, wer fürchtet sich [da] nicht? Der Herr, HERR, hat geredet, wer weissagt [da] nicht?
Prophet zu werden, wenn der HERR einen anspricht, das vergleicht Amos mit etwas sehr Negativem, aber zugleich auch sehr existentiellem, unvermeidbarem, dem niemand entfliehen kann.
Solche Propheten sagen, was sie hören - oder: was sie glauben, gehört zu haben - nicht, was ihre realpolitische Weitsicht ihnen tagesaktuell empfiehlt.
Kann das ausgedacht sein? Kann das Gebet Jeremias ausgedacht sein? Grundsätzlich denkbar, daß man sich ausdenkt, daß die Propheten nicht aus sich selbst reden können, sondern unter einem Zwang stehen, Gottes Wort verkünden zu müssen, selbst wenn ihnen das Unbill einbringt. Aber kann man wirklich den Propheten Gottes etwas sagen lassen, was einer massiven Versündigung gegen Gott gleichkommt? Denn Jeremia wünscht sich, nie geboren zu sein, ja er verflucht seine Geburt. Dabei verdankt im Glauben Israels jeder Mensch sein Leben, seine Geburt dem Schöpfungshandeln Gottes, und der Prophet Jeremia sogar insbesondere (Jeremia1,4-5):
Und das Wort des HERRN geschah zu mir so: Ehe ich dich im Mutterschoss bildete, habe ich dich erkannt, und ehe du aus dem Mutterleib hervorkamst, habe ich dich geheiligt: zum Propheten für die Nationen habe ich dich eingesetzt.
Streng genommen verflucht Jeremia hier also Gott.
Sowas denkt sich dann doch keiner aus, um das Prophetenamt als "echt göttlich" zu basteln. Das wäre eher kontraproduktiv.
Heide_witzka schrieb:Welche Prophezeiungen hältst du aus deiner Sicht für die "stärksten"?
Hmmm. Was meinst Du mit "stark"? Wortgewaltig? Eindrücklich? Punktgenau in der Erfüllung? Da gibts so einige, und wirklich Favoriten hab ich da keine. Aber da ich schon den Amos erwähnt habe, der den prophetischen Zwang so kurz und knackig auf den Punkt gebracht hat, zitier ich mal was von ihm (Amos5,18-20):
Wehe denen, die den Tag des HERRN herbeiwünschen! Wozu soll euch denn der Tag des HERRN sein? Er wird Finsternis sein und nicht Licht: Wie wenn jemand vor dem Löwen flieht, und es begegnet ihm der Bär, aber er kommt [noch] nach Hause und stützt seine Hand an die Mauer, da beisst ihn die Schlange. Wird so nicht der Tag des HERRN Finsternis sein und nicht Licht? Ja, Dunkelheit und nicht Glanz ist ihm [eigen].
Zu Amos' Zeiten war der "Tag des HERRN" für Israel ein Gerichtstag Gottes - über die Feinde Israels, und also ein Tag der Freude, des Heils und des Lichts für Israel selbst. Amos kehrt dies radikal um, er bricht mit jeder religiösen Tradition. Das Bild von der erfolgreichen Flucht vor der einen Bedrohung, die nur in die nächste Bedrohung führt, und selbst im sicheren Heim wartet nur der Tod, auch dieses Bild ist vergleichbar eindrücklich wie das mit dem brüllenden Löwen. Und es zeigt die Unentrinnbarkeit und das völlig sichere Unheil und Ende.
Den Bruch mit allem, "was Israel heilig ist" und ihm Gottes Wohlwollen einbringt, zeigt Amos im gleich folgenden (Amos5,21-23):
Ich hasse, ich verwerfe eure Feste, und eure Festversammlungen kann ich nicht [mehr] riechen: Denn wenn ihr mir Brandopfer opfert, [missfallen sie mir], und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und das Heilsopfer von eurem Mastvieh will ich nicht ansehen. Halte den Lärm deiner Lieder von mir fern! Und das Spiel deiner Harfen will ich nicht hören.
Gott redet hier geradezu "genervt".
Am Ende sagt Amos dem Nordreich Israel noch an (Amos5,27):
So werde ich euch [bis] über Damaskus hinaus gefangen wegführen, spricht der HERR
Das Neuassyrische Reich entstand 911 v.Chr. expandierte schnell und streckte bald seine Fühler in den östlichen Mittelmeerraum. Doch im Jahr 853 v.Chr. bildeten die vielen kleinen Reiche der Levante eine Koalition (in den assyrischen Annalen wird König Ahab von Israel als einer der Koalitionäre mit einem erheblichen militärischen Kontingent erwähnt) und schlugen den assyrischen Vormarsch bei Qarqar erfolgreich zurück (in den assyrischen Annalen wird die Schlacht von Qarqar als assyrischer Sieg dargestellt). Danach war das Neuassyrische Reich nahezu völlig aufs Kernland beschränkt. In der Levante wurde das Aramäerrreich mit der Hauptstadt Damaskus zur vorherrschenden Macht, dem das Nordreich Israel mehr und mehr ausgeliefert war. Erst unter König Jerobeam II. erstarkte Israel wieder und erreichte seine Maximalausdehnung. Kurz nach Jerobeam wurde Israel wieder schwach, verlor Gebiete an das wiedererstarkende Damaskus. Erst mit der Machtergreifung Tiglat-Pilesers III. im Jahre 745 v.Chr. betrat Assur wieder die Bühne im östlichen Mittelmeerraum; 733 fiel Aram-Damaskus, 722 Samaria und damit Israel.
Der Prophet Amos nun wirkte zur Zeit des Königs Jerobeam II. Also zu einer Zeit, als Israel sich erfolgreich gegen die damals größte Macht der Region, Damaskus, erwehrte und sich selber zum Vorreiter aufschwang. In dieser Zeit war Assur so schwach und irrelevant wie seit fast einem Jahrhundert, und nichts deutete darauf hin, daß sich da etwas ändern würde. Wenn es eine Bedrohung gab, dann hieß die Damaskus; wenn Kriegsgefangene fortgebracht wurden, dann nach Damaskus. Amos' Ankündigung "über Damaskus hinaus gefangen" ist mehrdeutig. Das "über hinaus" meint zum einen, daß es einen Feind Israels gibt, der "über Damaskus hinaus" mächtig ist. Und die zweite Bedeutung ist lokal: Gefangene werden in Richtung Damaskus geführt, aber "über Damaskus hinaus". Also in Richtung Assur.
Klar kann diese Prophezeiung auch nachträglich gebildet worden sein, also nachdem es passiert ist. Aber der "Stil", mit einem bildhaften Ausdruck pointiert, kurz und knapp einen Sachverhalt auszudrücken, paßt sehr zu Amos und seiner sonstigen Prägnanz bzw. Eindrücklichkeit. Ist diese Ankündigung aber von Amos, so ist sie auch "unvorhersehbar", fernab jeglicher politischer Weitsicht, aber sehr "erfüllt".
Ein anderes Beispiel für Kürze und Pointiertheit ist ein anderer Spruch des Amos. Ich sagte bereits, Amos verkehrt die Traditionen Israels, etwa den "Tag des HERRN", der doch eigentlich gegen die Feinde gehen soll und für das von Gott erwählte Volk etwas Gutes sein müsse. Hierzu paßt kurz und knapp Amos3,2:
Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt [=erwählt]; darum werde ich an euch alle eure Sünden heimsuchen.
Also das finde ich "stark".