Fragen zum Thema Judentum
26.10.2008 um 15:00
Israelischer Bestseller bricht nationales Tabu - Die Idee eines jüdischen Volkes ist erfunden, sagt der Historiker Shlomo Sand.
Keiner ist mehr überrascht als Shlomo Sand, dass seine letzte akademische Arbeit seit 19 Wochen auf Israels Bestsellerliste steht – und dass der Professor für Geschichte solch einen Erfolg hat, obwohl sein Buch Israels größtes Tabu bricht.
Dr. Sand behauptet, dass die Idee einer jüdischen Nation, die dringend einen sicheren Hafen benötige, ursprünglich dazu verwendet wurde, um die Gründung des Staates Israel zu rechtfertigen – ein Mythos, der erst seit gut 100 Jahren bestehe.
Dr. Sand, ein Experte der europäischen Geschichte an der Tel Aviver Universität, machte gründliche historische und archäologische Untersuchungen, um nicht nur diese Behauptung zu bestätigen, sondern noch einige mehr – die alle gleich kontrovers sind.
So behauptet Sand, dass die Juden niemals aus dem Heiligen Land vertrieben worden seien, dass die meisten der heutigen Juden gar keine historischen Verbindungen zum Land, das Israel genannt wird, hätten, und dass die einzige politische Lösung für den Konflikt des Landes mit den Palästinensern der wäre, den jüdischen Staat abzuschaffen.
Der Erfolg des Buches „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“ wird sich wahrscheinlich rund um die Erde wiederholen. Eine französische Ausgabe kam im letzten Monat heraus und wird so schnell verkauft, dass es schon eine dritte Auflage gibt.
Übersetzungen in ein Dutzend Sprachen, einschließlich Arabisch und Englisch, wurden schon in Angriff genommen. Aber der Autor sagte bereits eine scharfe Reaktion von Seiten der Pro-Israel-Lobby voraus, wenn es von seinem englischen Verleger Verso im nächsten Jahr in den USA herausgegeben würde.
Im Gegensatz dazu seien die Israelis – wenn auch nicht gerade hilfreich - so doch wenigstens neugierig auf seine Argumente gewesen. Tom Segev, einer der führenden Journalisten des Landes, nannte das Buch „faszinierend und herausfordernd“.
Überraschenderweise schreckten seine akademischen Kollegen in Israel zurück, sich mit seinen Argumenten auseinander zu setzen, sagte Sand. Eine Ausnahme sei Israel Bartal, ein Professor für jüdische Geschichte an der hebräischen Universität in Jerusalem. Im Haaretz, der israelische Tageszeitung, gibt er sich keine große Mühe, Dr. Sands Behauptungen zu widerlegen. In seinem Artikel geht es dem Kollegen vielmehr allein darum, seinen Berufsstand zu verteidigen: So meint Bartel, dass die israelischen Historiker über das Wesen der jüdischen Geschichte nicht so ignorant seien, wie Dr. Sand es behaupte.
Die Idee zu diesem Buch sei ihm schon vor vielen Jahren gekommen, sagte Dr. Sand, aber er habe lange mit der Realisation gewartet und es erst vor kurzem begonnen. „Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders mutig bin, das Buch erst jetzt zu veröffentlichen, “ich wartete damit, bis ich Ordinarius war. Man muss in der israelischen akademischen Welt für Ansichten dieser Art einen Preis bezahlen.“
Dr. Sands Hauptargument für seine Thesen ist, dass bis vor etwas mehr als einem Jahrhundert Juden sich selbst nur als Religionsgemeinschaft verstanden. Zur Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts stellten zionistische Juden diese Idee jedoch in Frage und begannen eine nationale Geschichte mit der Idee zu erfinden, dass es abgesehen von einer jüdischen Religion auch ein jüdisches Volk gebe. Genauso war den Juden die zionistische Idee, dass Juden verpflichtet seien, aus dem Exil in das „verheißene Land“ zurückzukehren , ganz fremd, fügt Sand hinzu.
„Der Zionismus veränderte die Idee von Jerusalem. Vorher waren die heiligen Stätten nur als Orte der Sehnsucht angesehen, nicht als solche, an denen man leben sollte. 2000 Jahre lang blieben Juden von Jerusalem weg, nicht weil sie nicht zurückkehren konnten, sondern weil es ihnen ihre Religion verwehrte, bevor der Messias kommt.“
Die größte Überraschung während seiner Nachforschungen war, als er nach den archäologischen Beweisen aus der biblischen Ära zu suchen begann. „Ich war nicht als Zionist großgezogen worden, aber wie alle andern Israelis nahm ich es als selbstverständlich, dass die Juden ein Volk waren, das in Judäa lebte, und dass alle von den Römern im Jahre 70 n.Chr. vertrieben worden waren."
„Aber als ich begann, nach den Beweisen zu schauen, entdeckte ich, dass die Königreiche von David und Salomo Legenden waren. So ähnlich ist es mit dem Exil. Tatsächlich kann man das Judentum nicht ohne das Exil erklären. Aber als ich damit anfing, nach Geschichtsbüchern zu suchen, die die Ereignisse dieses Exils beschreiben, konnte ich nichts finden, nicht eines. Und zwar deshalb, weil die Römer keine ganzen Völker vertrieben hatten. Tatsächlich waren Juden in Palästina vor allem Bauern, und aller Wahrscheinlichkeit nach blieben sie deshalb auf ihrem Land.“
Stattdessen glaubt Sand, dass eine alternative Theorie plausibler ist: das Exil war ein Mythos, der von den frühen Christen erfunden wurde, um die Juden dem neuen Glauben zuzuführen. „Die Christen wollten, dass spätere Juden glaubten, ihre Vorfahren seien als Strafe Gottes vertrieben worden, weil sie Jesus nicht als Messias angenommen hatten."
Der Autor Dr. Shlomo Sand
Wenn es also kein Exil gab, wie ist es dann aber möglich, dass es so viele Juden über den ganzen Globus zerstreut gab, bevor der moderne Staat Israel damit begann, sie zur „Rückkehr“ zu ermutigen?
Dr. Sand sagt, dass in den Jahrhunderten vor und nach der christlichen Ära, die jüdische Religion eine missionarische Religion war, die sich sehr um neue Anhänger bemühte. Dies werde in der römisch-lateinischen Literatur jener Zeit erwähnt. Juden reisten in andere Regionen und versuchten Konvertiten zu gewinnen, besonders im Jemen und unter den Berbern in Nordafrika. Jahrhunderte später konvertierte das Volk der Khazaren im Süden Russlands en masse zum Judentum und wurden so der Ursprung der aschkenazischen Juden Mittel- und Osteuropas.
Dr. Sand weist auf den seltsamen Zustand der Leugnung hin, in dem die meisten Israelis leben, und macht auf Zeitungen aufmerksam, die vor kurzem ausführlich von der Entdeckung der Hauptstadt des Khazaren-Königreichs nahe des Kaspischen Meeres berichteten.
Ynet, die Internetside von Israels meist gelesener Tageszeitung Yedioth Ahronoth, hat die Überschrift: „Russische Archäologen finden die seit langem verlorene jüdische Hauptstadt.“
Doch keine der Zeitungen – so fügt Sand hinzu – hat die Bedeutung dieses Fundes zu den üblichen Berichten jüdischer Geschichte berücksichtigt.
Eine weitere Frage legt Dr. Sands Bericht nahe, wie er selbst bemerkt: wenn die meisten Juden nie das Heilige Land verlassen haben, was wurde aus ihnen?
„Es wird nicht in israelischen Schulen gelehrt, aber die meisten frühen zionistischen Führer, einschließlich David Ben Gurion glaubten, dass die Palästinenser die Nachkommen der ursprünglichen Juden des Gebietes waren. Sie glaubten, dass die Juden später zum Islam konvertierten.
Der Tempel von Jerusalem ... Kernstück wessen Geschichte?
Dr.Sand schreibt seinen Kollegen (eine zu große) Zurückhaltung zu, als dass sie sich mit ihm auf eine stillschweigende Anerkennung seiner Thesen einigen würden, damit das ganze Gebäude der „Jüdischen Geschichte“, wie sie noch an den israelischen Universitäten gelehrt werde, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiele.
Das Problem mit dem Fach Geschichte in Israel hänge mit einer Entscheidung in den 30er-Jahren zusammen, als man die Geschichte in zwei Disziplinen teilte: allgemeine Geschichte und jüdische Geschichte. Man nahm an, dass jüdische Geschichte ein eigenes Studienfach benötige, weil die jüdische Erfahrung als einzigartig betrachtet wurde.
„Es gibt keine jüdische Abteilung für Politik oder Soziologie an den Universitäten. Nur Geschichte wird auf diese Weise gelehrt und hat so Spezialisten jüdischer Geschichte erlaubt, in einer insularen und konservativen Welt zu leben, in der sie nicht von modernen Entwicklungen der historischen Forschung berührt wurden. Ich bin in Israel dafür kritisiert worden, weil ich über jüdische Geschichte schreibe, obwohl mein Fachgebiet europäische Geschichte ist. Aber ein Buch wie dieses braucht einen Historiker, dem die üblichen Konzepte historischer Nachforschungen der akademischen Welt von überall vertraut sind.