Welchen Glauben gab es nun wirklich zuerst?
12.11.2023 um 23:31
Die Frage nach dem Ursprung von Religion bzw. der ältesten Religion ist sehr vielgestaltig. Wie hier schon angesprochen wurde, ist Religion nicht direkt an eine Vorstellung von einem Gott (oder mehreren) gebunden, und auch das Konzept "Gott" kann sehr unterschiedlich ausfallen. Für die einen mag zu Gott notwendig sowas wie Allmacht gehören, für andere dagegen überhaupt nicht. Die Götter der Germanen waren zum Beispiel alles andere als allmächtig. Ebenso die Götter im Buddhismus, die in dieser Religion beileibe nicht die Rolle spielen wie etwa Gott in den abrahamitischen Religionen.
Religionen können auch auf einer unpersönlichen Wesenheit aufbauen, auf (Natur)Geistern. Dennoch sind es Religionen mit Schöpfungsvorstellung, Ritualen, Gebeten, Jenseitsvorstellungen...
Man könnte fragen, welche heute bekannte gegenwärtig oder in der Vergangenheit am weitesten in die Geschichte zurückverfolgt werden könnte. So weit mir bekannt ist, wäre dies "Vater Zeus", griechisch Zeus patêr. Das Griechische ist eine indoeuropäische Sprache. Und in weiteren Kulturen indoeuropäischer Zunge gibt es ebenfalls einen Gott dieses Namens - jedenfalls mit namentlich großer Nähe. So gab es bei den Germanen den Gott Ziu, den alten Himmelsgott, der auch Ziu Fadr ("Vater") genannt wurde, der alte Göttervater und oberster Gott des früheren germanischen Pantheons (bevor Odin / Wodan diese Stellung einnahm). Ziu war auch der oberste Rechtsherr, der Patron der germanischen Rechtsversammlung des Things. Hier ist noch Zius ursprüngliche Stellung als oberster Gott zu erkennen, der innerhalb eines Götterpantheons nicht nur "Vater" war sondern stets der oberste Rechtsprecher. Sehr ähnlich wie Ziu Fadr klingt schon (Z)Jupiter bei den lateinischen Römern. Auch er der oberste Gott, der Himmelsgott wie Zeus und Ziu. Und schließlich am anderen Ende des indoeuropäischen Sprachraums, im Indischen gibt es den Gott Dyausch Pita, früher Dyausch Pitar, übersetzt: "Vater (Morgen)Himmel".
Hier scheint sich in verschiedenen Kulturen des indoeuropäischen Sprachkreises eine Gottheit aus den Anfangstagen der "Ur-Indoeuropäer" erhalten zu haben, welche "Vater" genannt wurde und mit dem Himmel verbandelt war. Selbst das Wort für "Gott", griechisch theos und latein deus, scheint damit zusammenzuhängen. - Demnach hätten wir hier eine Gottheit, die bereits vor vielleicht 7000 Jahren verehrt wurde, und zwar unter einem Namen, der dem Zeus patêr, Ziu fadr, Jupiter, Dyausch pitar sehr ähnlich geklungen haben dürfte und für die damaligen Ur-Indoeuropäer schlicht als "der Gott" bzw. der "Vater Himmel" galt.
Dies ist noch ziemlich nahe an der Frühzeit von Ackerbau und Viehzucht in unserem Teil der Erdregionen dran ist. Mit dem Ackerbau könnte in der Tat die Bedeutung von Regenzeit und Trockenzeit für die menschlichen Gesellschaften stark zugenommen haben, sodaß der Himmel für diese Menschen quasi zur obersten "himmlischen" Macht für das Schicksal der Menschen aufsteigen konnte.
In den semitischen Sprachen gibt es ein vergleichbares Phänomen unter den dortigen Göttern. Während es im Nordwestsemitischen die Göttin Astarte (Aschtart) gibt, gibt es im Ostsemitischen die Göttin Ischtar. Aus dem Südsemitischen ist noch ein Gott namens Attar bekannt, ein weibliches Pendant hätte Attart heißen müssen. Der T-Laut (im Semitischen gab es ursprünglich, z.T. heute noch zwei verschiedene T-Laute) in Attar und Aschtart ist übrigens ein solcher, der bei Verdopplung dazu führt, daß das erste T von den beiden von einem hörbaren Zischlaut (sch) gefolgt wird. Also ursprünglich "tscht". Daraus können sowohl Aschtart als auch Istar her aus "Attart" hergeleitet werden.
Hinzu kommt, daß es in semitischen Sprachen ein Verb 'atar gibt, welches im Hebräischen "beten" bedeutet, im Arabischen "opfern". Auch hier scheint eine Gottheit schon vor Aufspaltung des Ur-Semitischen in die verschiedenen Hauptzweige und Einzelsprachen existiert zu haben, deren Name letztlich sowas wie "die Gottheit" bedeutet haben dürfte, also jemand, zu dem man betet bzw. dem man opfert. Die Aufspaltung der semitischen Sprachen fand allerdings erst vor grob 5000 Jahren oder so statt, sodaß diese Gottheit sich nicht ganz so weit zurückverfolgen läßt.
Auf allen Kontinenten, wo Menschen seit langem leben, gab und gibt es schamanistische Gesellschaften. Verschiedene schamanistische Praktiken ähneln sich kontinentübergreifend sehr stark, bis in Details, sodaß es nicht so abwegig erscheint, daß alle diese schamanistischen Praktiken bzw. Vorstellungen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Da die Kulturen auf dem amerikanischen Doppelkontinent und erst recht die in Australien sehr lange kulturell von den meisten anderen Gesellschaften isoliert lebten, hieße das, daß der schamanistische Ursprung bereits in der Altsteinzeit aufgekommen sein müßte, womöglich sogar schon vor mehreren zehntausend Jahren (manche Kulturen könnten vor 50.000 den Kontakt zu anderen verloren haben). Das wäre dann um einiges weiter in die Vergangenheit zurück als "nur" 5...7000 Jahre!
In diesen schamanistischen Vorstellungen und Praktiken jedenfalls gibt es Vorstellungen von magischen Praktiken, von Ritualen, von Naturgeistern, von Jenseits und Nachleben, von transzendenten Welten. Kann man durchaus "religiöse Vorstellung" nennen. Hier freilich wären nicht die Gottheiten bzw. ein namentlich überall ähnlich klingender Naturgeist das Uralte, sondern die vergleichbaren Praktiken, Vorstellungen usw.
Eine Überlegung zum Aufkommen von religiösen Vorstellungen kenne ich noch. Hierbei wird die geistige Entwicklung der historischen Menschheit mit der geistigen Entwicklung eines einzelnen Menschen verglichen. Recht früh fangen Kinder an, alles um sich herum für "beseelt" zu halten. Ein kleines Kind, das sich an der Tür stößt, kann der Tür einen Klaps geben und "böse Tür!" schimpfen, so als hätte die Tür es (absichtsvoll) "gehauen". Nach dieser (nennen wir es mal) Hypothese wäre also der Animismus eine der frühesten religiösen Äußerungen / Vorstellungen der Menschheit, bei dem alles besselt wäre, der Fluß, der Berg, der Himmel, der Stein... Später finden sich in der kindlichen Entwicklungen Vorstellungen von magischen Fähigkeiten, also daß man nur eine bestimmte Handlungsabfolge tun oder Wortfolge sprechen müsse, damit etwas bestimmtes geschehe. Magische Praktiken und Rituale wären demnach eine weitere Etappe in der religiösen Entwicklung der Menschheit.
Das ist natürlich arg spekulativ, hat aber durchaus seinen Reiz, es gedanklich durchzuspielen. Vor allem, wenn man sich dann fragt, wo wir heute in unserer Entwicklung stehen. Pubertät? Erwachsensein? Hier freilich wird das Spekulative dann sehr deutlich. Denn einen Übergang zum geistigen "Erwachsensein" veranschlagten viele Philosophen, Vordenker usw. in der Menschheitsgeschichte immer wieder mal für ihre eigene Zeit. Am Beginn der Renaissance etwa oder Jahrhunderte später in der Aufklärung, aber auch früher schon.
Abschließend noch dies: Bestattungen entstehen nicht aus Gründen der Reinlichkeit oder einer profanen Pietät. Wer tot war, wirde liegen gelassen, er wurde nicht mal aus Geruchsgründen odgl. fortgeschafft oder bedeckt. ein typisches Kennzeichen altsteinzeitlicher Siedlungsplätze war, daß überall, wirklich überall Essensreste und Kadaver rumgelegen haben, nichts entsorgt wurde, um sich vor Gestank, Keimen oder Aasfressern zu schützen. Klar, wenn es erst mal den Brauch von Bestattungen gibt, und eine Kultur den religiösen Kontext von Bestattungen verloren hat, dann bleibt der Brauch bestehen, und man spricht von da an von ebenjener profanen Pietät im Umgang mit ehedem geliebten Menschen, von "kann man ja nicht so rumliegen lassen", von "Seuchengefahr" udgl. mehr. Aber so ist der Bestattungsbrauch eben nicht in seinem Ursprung erklärlich. Das Aufkommen von Bestattung wird in der Forschung durchaus weitestgehend in einer religiösen Vorstellung von einem Nachleben in einer mehr oder weniger jenseitigen Welt begründet gesehen.
2015 wurde eine neue Menschenspezies der Öffentlichkeit präsentiert, der Homo naledi, eine ziemlich altertümliche kleinwüchsige Art mit recht kleinem Gehirn. Später stellte sich heraus, daß die in der südafrikanischen Dinaledi-Höhle gefundenen Wesen vor etwas mehr oder weniger als gerade mal 300.000 Jahren gelebt haben müssen, als es längst schon sehr viel weiter entwickelte Menschenformen gab. Da die Überreste an einer extrem schwer zugänglichen Stelle in dieser Höhle lagen und nur dort, mutmaßte der Paläontologe, der sie fand, daß es sich um eine Begräbnisstätte handelte. Auch wenn die Mehrheit der Paläontologen ihm darin nicht folgt, so ist diese Überlegung nicht vom Tisch. Eine alternative sinnvolle Erklärung, wie die sterblichen Überreste dort hingelangt sein könnten, fehlt bis heute.
Übrigens ähnelt der Schädel des Homo naledi in Proportion, Ausmaßen und Gehirngröße am stärksten dem frühen Homo erectus, speziell dem Fund des "Turkana-Jungen" oder "Nariotokome-Boy", einem auch als Homo ergaster bezeichneten männlichen Heranwachsenden, der in Ostafrika vor ca. 1,6 Millionen Jahren gelebt hat. Während Homininen-Skelette in der "freien Natur" nie im "anatomischen Verbund" gefunden werden, sondern über ein größeres Areal verstreut gefunden werden, wurde der Turkanajunge praktisch im anatomischen Verbund gefunden. Dies führte kurz nach dem Bekanntwerden damals zu der Vermutung, es könne ein früher Fall von Bestattung gewesen sein, was in der Forschung aber abgelehnt wurde. Schließlich gab es später lange Zeit nichts Vergleichbares. Und dieser frühe Ergaster stand doch recht nah am Anfang der Entwicklung der Gattung Homo, sodaß eine solche Entwicklung hin zu einer "geistig motivierten Bestattung" inakzeptabel schien. Sollte nun der "ähnliche Naledi" seine Toten bestattet haben, wäre vielleicht eine neue Diskussion um den Narikotomeboy fällig... Wer weiß!
Was die Verehrung von Naturgeistern, etwa "den Geist des Bären" betrifft, so wäre noch auf das thüringische Bilzingsleben zu verweisen. Hier hatten Vertreter des Homo erectus (oder Heidelbergensis) vor knapp 400.000 Jahren (mehrfach) ein saisonales Lager. Man fand Werkzeuge, Waffen, Abschläge, drei Hüttengrundrisse, Feuerstellen, Essensreste (zuhauf), allerdings kaum menschliche Überreste. Jedoch fand man einen sorgfältig angelegten Bereich, dessen Untergrund mit Steinen und (großen) Knochen ordentlich gepflastert wurde. Und auf diesem Areal fand man keine weggeworfenen Essensreste - so als ob dieser Bereich absichtsvoll "rein" gehalten wurde. Auf diesem Areal fand sich etwas wie ein "Amboß", jedoch nicht für Werkzeugherstellung odgl. Hier bzw. in seinem Umfeld fanden sich die einzigen homininen Knochenreste. Und am Rand des Areals fand man Überreste von Bärenschädeln und -tatzen.
Auch für Bilzingsleben hatte der langjährige "Chefausgräber" Mania zumindest zeitweise die Hypothese eines "Bärenkultes" vertreten (weiß nicht, ob bis zuletzt). Auch hier gab es wenig Resonanz in der Forschung. Nicht mal zu den nachweislichen absichtsvollen "ornamentalen" Ritzungen, die um ein mehrfaches älter wären als jede andere "künstlerische" Betätigung des Homo sonst.