Stoizismus als lebenspraktische Philosophie?
15.03.2023 um 15:21Die Seite 'Stoizismus Heute' https://www.stoa-heute.de/ bietet sehr gute Angebote für moderne Stoiker.
Ich habe den Autor schon angeschrieben.
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Laura_Maelle schrieb:Ich kam über den Minimalismus zum Stoizismus, nachdem mir der innere Minimalismus unvollständig erschien. Irgendwie suchte ich eine philosophische Fortsetzung davon.Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie genau ich darauf kam bzw. was mich dazu bewegte, die wichtigsten Werke zu lesen sowie mich näher mit der Philosophie des Stoizismus zu beschäftigen. Es war eher ein sukzessiver Prozess in Bezug darauf, wie man das eigene Leben im Rahmen einer Wertetheorie leben könnte. Die Ethik als wissenschaftlich-philosophische Disziplin beschäftigt sich seit Jahrhunderten eher mit der Entwicklung verschiedener Moralsysteme und wie man mit seinen Mitmenschen innerhalb einer Gesellschaft (oder sonstigen sozialem Gefüges) umgehen sollte. Allerdings umfasste die antike Ethik auch, wie man das *eigene* Leben - auf Basis gewisser Werte - leben könnte. Dies sollte auch heutzutage meiner Meinung nach wieder in den Fokus gerückt werden!
Mr.Dextar schrieb:Der Stoizismus schafft dahingehend mit dessen Kernwerten eine sehr gute Grundlage und bietet außerdem eine spirituelle Freiheit fernab von jeglichem Dogmatismus. Man kann z.B. theistischer oder atheistischer oder naturalistischer etc. Stoiker sein.Ja genau. Die Werte des Stoizismus sind sozusagen der Grundethos von ansonsten unterschiedlichen Weltbildern.
Laura_Maelle schrieb:Was meinst Du genau mit "naturalistischer Stoiker"?Die antiken Stoiker hatten teils pantheistische sowie vielleicht auch panENtheistische Weltbilder, in welchen sie die Natur als eine (nahezu) göttliche Instanz betrachteten. Wobei natürlich anzumerken sei, dass sie dennoch den griechischen und römischen Göttern huldigten oder zumindest Respekt zollten - sich aber dennoch nie von ihnen ernsthaft abhängig gemacht haben wie es bspw. Anhänger monotheistischer Religionen von ihrem Gott tun.
Mr.Dextar schrieb:Ich selbst würde mich dementsprechend ebenfalls als atheistischen / naturalistischen Stoiker bezeichnen.Ah okay, jetzt verstehe ich. Das tun viele heutige Stoiker, aber es gibt tatsächlich auch noch theistische Stoiker, denn der Stoizismus hatte großen Einfluss auf die Religionen.
Momjul schrieb:Aus meiner Sicht sollte es aber auch institutionelle Strukturen wie bei den Kirchen geben!Da der antike Stoizismus großen Einfluss auf das Christentum gehabt hat und z. B. Epiktet bei den Franziskanermönchen zur Grundausbildung gehörte, könntest Du ja mal dort vorbeischauen.
Wonne des WeisenQuelle: https://www.textlog.de/lukrez-wonne-weisen.html
Wonnevoll ist's bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer
Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht,
Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet,
Sondern aus Wonnegefühl, daß man selber vom Leiden befreit ist.
Wonnig auch ist's ohn' eigne Gefahr die gewaltigen Schlachten,
Die durch das Blachfeld toben im Kriege, mit Augen zu schauen.
Doch nichts Süßeres gibt's als die heiteren Tempel zu hüten,
Welche die Lehre der Weisen auf sicheren Höhen errichtet.
Ruhevoll kannst du von dort auf das Treiben der andern herabsehn,
Wie sie da schweifen und irren den Pfad zum Leben zu finden,
Wie das Talent wetteifert, wie Adelsstolze sich streiten,
Wie sie bei Tag und bei Nacht mit erheblicher Mühsal streben,
Aufzusteigen zum Gipfel der Macht und den Staat zu beherrschen!
Laura_Maelle schrieb:Lucretius Carus stellt aber eine ungewöhnliche Perspektive vor. Interessant und nachdenkenswert.Das Bild ist sehr eindringlich: Einerseits eine gefährliche Situation, die sichtbar wird, andererseits ein relativ sicherer Beobachtungsstandpunkt, von dem man diese Situation betrachten kann, ohne wirklich eingreifen zu können, selbst wenn man es wollte, denn dann müsste man sich selbst in Gefahr begeben, ohne dann wirklich helfen zu können. Man verfolgt dann mitleidend die Vorgänge und hofft, dass die Schiffbrüchigen ihren Überlebenskampf überstehen und das rettende Ufer erreichen.
Graumann schrieb:Das Bild ist sehr eindringlich: Einerseits eine gefährliche Situation, die sichtbar wird, andererseits ein relativ sicherer Beobachtungsstandpunkt, von dem man diese Situation betrachten kannWahrscheinlich bedeutet es auch die periphere Sichtweise der Transzendenz, wodurch sich auch derjenige in Not innerlich retten kann, um ruhig im Sturm zu bleiben und das Bestmögliche zu tun, um in den sicheren Hafen zu gelangen. Denn wer sich dem Sturm ergibt, kommt darin um. Es braucht den ruhigen Steuermann, der das Schiff in den sicheren Hafen steuert. In der Psychologie wird das Zielorientiertheit und Handlungsbereitschaft genannt, im Gegensatz zur Opferrolle und Lageorientiertheit.
Laura_Maelle schrieb:Es braucht den ruhigen Steuermann, der das Schiff in den sicheren Hafen steuert.Ja, es kommt in unruhigen Situationen darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht vom allgemeinen Trubel mitreißen zu lassen, um sich dann dort zu verlieren. Der Weise überblickt die Situation und weiß, sie angemessen einzuschätzen. Was Lucretius Carus andeutet, ist die Eitelkeit des geschäftigen Tuns, wo es um einen Wettbewerb um Macht und Ruhm geht, während der Weise selber bereits in der Gemütsruhe angekommen ist und sich nicht mehr dadurch affizieren lässt, da wieder mitzutun.
Marcus Aurelius Antonius, Selbstbetrachtungen.Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/antonius.html
IV 49, XII 14, II 7, XI 23, XII 22.
"Wie der Fels im Meere,
an dem die Wellen unaufhörlich rütteln
- hier steht,
sodass ringsum der Brandung Ungestüm sich legen muss
- so stehe auch du!
Denke, es sei kein Unglück,
aber ein Glück ist´s,
es mit edlem Mut zu tragen.
So erfreue dich an dem Gedanken, dass du mitten
in solch einem Wogensturm in dir selbst
an der Vernunft eine Lenkerin hast.
Warum dich durch die Außendinge zerstreuen?
Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen
- und höre auf,
dich wie im Wirbelwind
umhertreiben zu lassen.
Sokrates nannte die Meinungen der Menge Poltergeister,
Schreckgestalten für Kinder.
Alles ist Meinung, und diese hängt ganz von dir ab.
Räume also, wenn du willst, die Meinung aus dem Wege,
und gleich dem Seefahrer, der eine Klippe umschifft hat,
wirst du unter Windstille auf ruhiger See
in den sicheren Hafen einfahren."
Laura_Maelle schrieb:Jesus könnte Kyniker gewesen sein.Na ja, ich vermute, dass die Option, in unruhigen Zeiten einen kühlen Kopf zu bewahren, eine allgemein menschliche Fähigkeit darstellt, so dass entsprechende ähnliche Formulierungen über verschiedene Kulturkreise hinweg auffindbar sind, ohne dass es dazu tatsächlicher kultureller Kontakte und Austausche bedurft hätte.
Laura_Maelle schrieb:habe ich für mich eine Handlungsanleitung geschriebenAh ja, das ist natürlich auch eine gute Idee, lebenspraktische Philosophie für den Eigenbedarf zu nutzen. :)