Link: wwwuser.gwdg.de (extern) (Archiv-Version vom 14.04.2005)Die christliche Kirche verdankt diesem jüdischen Mann aus Tarsus fast alles. Er ist der wahre Gründer des Christentums. Er hat Recht behalten: Er hat mehr als alle gearbeitet und die Grundlagen für alles weitere in der Kirche geschaffen. Dabei versetzte er die Religion Jesu, so wie er sie mißverstand, auf heidnisches Territorium und bewirkte, ohne es wirklich zu wollen, die andauernde Trennung zwischen Kirche und Israel.
Damit ist zugleich die tragische Seite seines Werkes angesprochen. Der christliche Antijudaismus auf heidnischem Boden hat entscheidende Anstöße von Paulus empfangen und verheerende Wirkung gezeitigt. Schon hier mag man innehalten und die Frage aufwerfen, ob es Paulus besser nicht gegeben hätte. Wäre dann nicht ein jüdisches Reformjudentum mit christlichem Namen entstanden, welches die Möglichkeit gehabt hätte, eine menschenfreundliche Religion zu entwickeln, unter Wahrung des wertvollen Erbes der jüdischen Mutterreligion? Jedenfalls wäre ohne Paulus und seine Schüler das Judentum nicht an den Abgrund geführt worden.
Gleichzeitig sieht sich Paulus unüberwindlichen Argumenten von seiten der kritischen Vernunft gegenüber. Sie beziehen sich auf die wichtigste Voraussetzung seiner Theologie, das Bild eines exklusiven Gottes (s. sofort), sowie auf nahezu alle Einzelheiten der von ihm ausgeführten Lehre: a) die Vorstellung, daß Gottes Sohn für die Sünden der Welt sühnen mußte, b) die widersinnige Gleichsetzung von Jesus und Christus mit der damit verbundenen Anmaßung, Sprecher eines Menschen zu sein, den er persönlich nie gekannt hat, c) die Auffassung, daß der christliche Erlösungsmythos als einziger den Weg zur Seligkeit eröffne, d) die konfusen Ausführungen zum Gesetz, die beharrlich ihre Voraussetzungen verschweigen, darunter die Annahme, daß eine Lösung bereits gefunden sei, bevor eine Frage gestellt werden könne, e) der Anspruch, ein historisches Ereignis könne das Heil der Welt bedeuten.
Gewiß, man kann vielleicht noch verstehen, daß ein Mensch des ersten Jahrhunderts solche Tollheiten behauptet. Sie werden aber spätestens dann gefährlich, wenn man sieht, daß sie bis heute von den christlichen Kirchen und sogar von akademischen Theologen vertreten werden. Hier heißt es dann, um nur ein Beispiel anzuführen, die Auferstehung Jesu habe eine objektive Bedeutung für die Geschichte der Welt, ja sie sei zusammen mit Jesu Tod deren Wendepunkt und zugleich ein Ereignis auch von kosmischer Bedeutung.
Die Geschichte des Paulus nachzuerzählen, bedeutet gleichzeitig, ein kritisches Urteil über ihn zu fällen. Er war gewiß eine wahrhaft große Gestalt im frühen Christentum, ja, sein Gründer. Aber die bis heute vertretene Auffassung, seine Briefe enthielten Gottes Wort, ist ein trauriger Verrat an der Vernunft und eine Flucht vor dem Leben. Wir Heutigen kommen - bei intensiver Auseinandersetzung mit ihm - an der Erkenntnis nicht vorbei, daß durch die Art seines Denkens gefährliche Weichenstellungen erfolgt sind, die in die Irre führen. Sein Gottesbild stiftet dazu an, die "Ungläubigen" nicht zu respektieren, sondern sie zum Gehorsam aufzufordern, damit sie der ewigen Höllenstrafe entgehen. Monotheismus wird auch bei ihm letztlich zum Totalitarismus. Sein religiöser Eifer bleibt in verdächtiger Nähe zu einem Fanatikertum. So sind die zweifellos auch vorhandenen humanen Züge des Paulus immer durch den höheren Dienst an Gott gebunden und richten sich im Konfliktfall, wie die Geschichte gezeigt hat, unweigerlich gegen den Menschen. Soli Deo Gloria.
Der Akademikergeist neigt immer dazu, an einmal aufgenommenen Meinungen festzuhalten und sich dabei als Hüter der Wahrheit vorzukommen.
Claude Henri Saint-Simon, Graf de Rouvroy (1760 - 1825),