II. Das Notrecht (ius necessitatis)
[343] Dieses vermeinte Recht soll eine Befugnis sein, im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens, einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen. Es fällt in die Augen, daß hierin ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst enthalten sein müsse – denn es ist hier nicht von einem ungerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch Beraubung des seinen zuvorkomme (ius inculpatae tutelae), die Rede, wo die Anempfehlung der Mäßigung (moderamen) nicht einmal zum Recht, sondern nur zur Ethik gehört, sondern von einer erlaubten Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte.
Es ist klar: daß diese Behauptung nicht objektiv, nach dem, was ein Gesetz vorschreiben, sondern bloß subjektiv, wie vor Gericht die Sentenz gefället werden würde, zu verstehen sei. Es kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennete, der im Schiffbruche, mit einem andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten. Denn die durchs Gesetz angedrohete Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren. Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben; denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch), kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist (nämlich dem Ersaufen), nicht überwiegen. Also ist die Tat der gewalttätigen Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (inpunibile) zu beurteilen und diese subjektive Straflosigkeit wird, durch eine wunderliche Verwechselung, von den Rechtslehrern für eine objektive (Gesetzmäßigkeit) gehalten.
Der Sinnspruch des Notrechts heißt: »Not hat kein Gebot (necessitas non habet legem)«; und gleichwohl kann es keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte.Man sieht: daß in beiden Rechtsbeurteilungen (nach dem Billigkeits- und dem Notrechte) die Doppelsinnigkeit (aequivocatio) aus der Verwechselung der objektiven mit den [344] subjektiven Gründen der Rechtsausübung (vor der Vernunft und vor einem Gericht) entspringt, da dann, was jemand für sich selbst mit gutem Grunde für Recht erkennt, vor einem Gerichtshofe nicht Bestätigung finden, und, was er selbst an sich als unrecht beurteilen muß, von eben demselben Nachsicht erlangen kann; weil der Begriff des Rechts in diesen zwei Fällen nicht in einerlei Bedeutung ist genommen worden. Immanuel Kant "Einleitung in die Rechtslehre"
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