Die Religionswissenschaft zählt den antiken Kult des Mithras zu den sogenannten orientalischen Mysterien- und Erlösungsreligionen. Wenngleich in vielen Bereichen noch rätselhaft, haben Forschungen in den 90-er Jahren doch einen erhellenden Blick auf den Ursprung dieser Religion und ihres zentralen Gehaltes ermöglicht.
Ausgehend von altiranischen und indischen Mythen des 7. vorchristlichen Jahrhunderts um den Gott Mit(h)ra, glaubte man lange an eine kohärente Überlieferung bis in hellenistische Zeit. Die alten Mythen beschreiben Herkunft und Taten des Gottes, der die Funktion eines Garanten und Mittlers von Übereinkünften auf Treu und Glauben ausfüllt, was sein "sprechender Name" mit der Bedeutung "Vertrag" bestimmt. So entwickelte sich der Gott zum Mittler zwischen Mensch und göttlicher Sphäre, letztlich auch zum Kämpfer für Gerechtigkeit und das Gute schlechthin. Tatsächlich sind diese Mythen (wenn auch wesentlich modifiziert durch philosophisches Gedankengut platonischer Prägung) in differenzierter Form in die hellenistisch-römische Mithras-Religion eingeflossen.
Beispielhaft sei die häufig dargestellte Geburt Mithras‘ aus einem Felsen herausgegriffen: Viele alte mythologische Vorstellungen sehen den Himmel als steinernes Gewölbe. So bedeutet das altpersische Wort für Stein zugleich Himmel! Der Fels ist auch Synonym für die feste Erde und schafft Mithras schon durch seine Geburt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die meist vom Gott im Moment der Geburt in Händen gehaltene Kugel symbolisiert zusätzlich über die Erdkugel ausgreifend den Kosmos mit seinen Sphären, wie ihn die antike Kosmologie postulierte.
Ein weiteres Moment sind die nach der Überlieferung bei der Geburt anwesenden und ikonografisch niemals fehlenden beiden Begleiter des Mithras, die Hirten Cautes und Cautopates. Sie werden mit je einer gesenkten und einer nach oben gerichteten Fackel dargestellt und symbolisieren (als ein Aspekt unter anderen) Geburt und Tod, Tag und Nacht. Der zwischen ihnen dargestellte Mithras wird so zur kraftvolle Mitte des Lebens, Mittler zwischen Anfang und Ende, Zentrum der Zeit. Der Geburtstag des Gottes wurde folgerichtig am 25.12. begangen, dem dritten Tag nach der Wintersonnenwende, dem Beginn der wieder auflebenden Sonne, die zwischen Ende und Anfang der Jahre steht. So verkörperte Mithras neben der räumlich universellen Gottheit auch eine vergleichbare zeitliche Komponente.
Das zentrale Problem der hergebrachten wissenschaftlichen Deutungsversuche des Kultes lag jedoch bei der zentralen und immer wiederkehrenden Darstellung einer Stiertötung durch Mithras - der Tauroktonie. Dafür boten die alten orientalischen Texte keinerlei Erklärung, gibt es doch dort keine derartige Verbindung zwischen Mithras und einem Stier.
Das Motiv der rituellen Stiertötung ist ein sehr altes, vielleicht sogar aus neolithischer Zeit rührendes Motiv, ein mit so komplex verwobenen Symbolgehalten versehenes Bild, daß es zu weit führte, diese alle wiederzugeben. Nur der grundlegendste Aspekte sei angerissen: Bei dem Stier handelt es sich um den in vielen Mythen auftretenden mit einer Muttergöttin verbundenen heiligen Urstier, Symbol für Lebenskraft und Stärke schlechthin, dessen zyklisches Sterben immer neues Leben erschafft.
Doch woher stammte die Verbindung von Stiertötung und Mithras? Die Lösung brachten die im Zusammenhang mit der Stiertötung stets auf den Kultreliefs erscheinenden Tiere und Gegenstände, deren Bedeutung immer umstritten war, die aber nun zu einer wissenschaftlich anerkannten Deutung des innersten Geheimnisses der Mithras-Religion leiteten.
Die erwähnten Mythen bildeten zwar einen wichtigen Bestandteil des Kultes, nicht aber dessen Kern. Dieser lag in einer astronomischen Beobachtung, die als so tiefgreifend und bedeutsam empfunden wurde, daß daraus eine religiöse Bewegung entstand.
Der griechische Astronom Hipparchos entdeckte im 2. vorchristlichen Jahrhundert durch die bemerkenswert genaue Messung von Sternpositionen, dass die fiktiv in den Himmel verlängerte Erdachse eine kleine kreisförmige Bewegung ausführt. Dadurch verschieben sich im Verlauf von Jahrhunderten die scheinbaren Polpunkte dieser Achse am Himmel, ändert sich für den irdischen Betrachter die Lage des fiktiven Himmelsäquators gegenüber der unveränderlichen Lage der Ekliptik (scheinbare Ebene der Planeten- und Sonnenbewegung). Folge ist die langsame Verschiebung der Schnittpunkte von Himmelsäquator und Ekliptik. Die beiden Schnittpunkte (Frühjahrs- und Herbstäquinoktien oder Tag-und-Nacht-gleichen) bewegen sich durch die Sternbilder der Ekliptik. So lag der Tag des Frühjahrsäquinoktiums um 4000 v.Chr. noch im Sternbild Stier. In unseren Tagen wandert er gerade ins Sternbild des Wassermanns - das unter Esoterikern und Astrologen gerühmte "Age of Aquarius" beginnt!
Dieses heute Präzession genannte Phänomen widersprach der Theorie von der Unveränderlichkeit des Kosmos. Es mußte wohl ein unbekannter Gott existieren, dessen kosmische Macht zur Bewegung der Weltachse sich in so unermeßlichen Zeiträumen äußerte, daß seine Existenz den Menschen durch die Kürze ihrer Lebenszeit bislang verborgen geblieben war.
Vermutlich ausgehend von der dem geografischen Lebensraum des Hipparchos benachbarten und dem Stoizismus nahestehenden philosophischen Schule in Tarsus begründete sich der Kult dieses verborgenen Gottes: Neben all den mythisch-religiös-ethischen Implikationen und Heilsaspekten (etwa die Frage der Schaffung neuen Lebens durch Tötung unschuldigen Daseins und damit bewußt auf sich genommener moralischer Schuld) ist die Stiertötung vor allem Symbol der "Tötung" des Stierzeitalters durch die Weiterbewegung der Weltenachse - mit dem Stoß des Dolches in den Hals des heiligen Stieres wird Mithras zum wahren Kosmokrator, ist seine Handlung das Zeichen für den Beginn eines neuen Weltalters! Eine Idee, die dem Stoizismus mit seiner Vorstellung von "Weltbränden", die in riesigen zeitlichen Abständen alles zugrunde gehen lassen, damit es neu und rein wieder erstehen könne, sehr nahe lag!
Listet man die zwischen den Sternbildern Stier und Skorpion (korrespondierendes Herbstäquinoktium) liegenden Sternbilder entlang des Himmelsäquators auf, finden sich diese als Symbol auf dem typischen Mithraskultbild der Stiertötung versammelt - eine Kryptierung der astronomischen Entdeckung! Cautes mit seiner aufrechten Fackel symbolisiert dabei den Tage des Frühlings-, Cautopates mit der gesenkten Flamme den des Herbstäquinoktiums!
Die naheliegende Frage nach den Gründen für die Gleichsetzung eines unbedeutenden orientalischen Gottes wie Mithras mit dieser gewaltigen Macht, weist ebenfalls auf die Stadt Tarsus und läßt eine Kultentstehung dort vermuten. Der vergöttlichte Sagenheld und Drachentöter Perseus galt als Gründer der Stadt. Sein himmlisches Sternbild findet sich bildlich gesprochen über dem des Stieres, kniet quasi symbolhaft auf diesem! Perseus nun teilte zahlreiche ikonografische Attribute mit Mithras wie persische Kleidung oder phrygische Mütze. Was lag näher, als allegorisches Symbol des unbekannten und geheimzuhaltenden neuen Gottes das am Himmel sichtbare Perseus-Sternbild zu identifizieren, daß zur zusätzlichen Verschlüsselung und wegen der äußerlich identischen Erscheinung als Mithras bezeichnet wurde. So war der wahre Hintergrund für Unwissende auf keinen Fall zu erkennen!
Nach literarischen und archäologischen Zeugnissen dürfte der Kult im 2.- 1. vorchristlichen Jahrhundert in Kleinasien entstanden sein. Funde von Inschriften im zentralen Imperium wie etwa Rom selbst belegen eine größere Verbreitung erst ab dem Ende des 1. Jahrhunderts. Eine deutliche Zunahme an Bodendenkmälern und Inschriften stammt aus dem 2. Jahrhundert und findet seinen Höhepunkt im 3. Jahrhundert. Selbst am kaiserlichen Hof gab es ein Kultheiligtum, ein so genanntes Mithräum. Erst mit dem Aufstieg des Christentums als Staatsreligion begann der Abstieg des Mithras-Kultes, der vermutlich mit dem Verbot aller heidnischen Kulte unter Kaiser Theodosius 391 endgültig endete.
Der Kult
Ausgehend von Archäologie und Texten wie dem "Turiner Papyrus" läßt sich das Kultgeschehen wenigstens in Grundzügen rekonstruieren.
Nach platonischer Seelenlehre stürzt des Menschen Seele von der ewigen Fixsternsphäre hinab in den Kreislauf von Werden und Vergehen und vermischt sich bei ihrem Fall durch die sieben kosmischen Sphären auf die Erde hinunter immer mehr mit unreiner Materie, nimmt bei ihrem Hinabsinken materielle Empfindungen wie Schmerz, Furcht, Begierde etc. auf, bis sie sich letztlich sogar mit der Materie, dem Körper verbindet. Besteht sie die Aufgabe, sich im irdischen Leben von all diesem Aufgenommenen wieder zu befreien, so vermag sie nach dem Tod über die sieben Sphären wieder ins Göttliche zu gelangen.
Entsprechend dieser Vorstellung existierten im Mithraskult sieben Einweihungsgrade: Rabe - Bienenpuppe - Soldat - Löwe - Perser - Sonnenläufer - Vater (=Priester und Vorsteher der jeweiligen Gemeinschaft). Jedem dieser Grade war eine der Sternsphären zugeordnet, so etwa dem Raben als unterstem Grad die Planetensphäre des Merkur. Die Glaubensangehörigen (es durften nur Männer eingeweiht werden) hofften mit fortschreitender Unterweisung und geistiger Erkenntnis, verbunden mit stoisch geprägter und gerechter Lebensführung, die sieben Stufen erklimmen und ihre Seele reinigen zu können. Betrachtete der Gemeindevorsteher einen Mysten als würdig, so erhielt er den nächst höheren Weihegrad, der in einer mystischen Zeremonie verliehen wurde. Vermutlich erst in den letzten Stufen wurde dem Gläubigen die Existenz des "geheimen Gottes" aufgedeckt.
Die Gemeindemitglieder trafen sich regelmäßig zum Gottesdienst, der in bildhafter Nachstellung der Ursprungsmythen des Mithras in einer "Höhle", meist tief gelegene Räumlichkeiten, stattfand. Insbesondere die dabei stattfindenden gemeinsamen Kultmähler zogen heftige christliche Reaktionen nach sich, sah man doch darin eine blasphemische Lästerung des Abendmahls.
Die Glaubensgemeinschaften selbst waren nach der Zahl ihrer jeweiligen Mitglieder recht klein. Überstieg die Anzahl der Mysten den Platz in den Kulträumen, separierte sich ein Teil und bildete eine neue Gemeinschaft. Eine übergeordnete Struktur wie etwa bei der christlichen Kirche gab es nicht, auch wenn man vermutet, das Haupt der in Rom ansässigen Gemeinschaft könnte eine zentrale Position innegehabt haben.
Die große Anziehungskraft der Religion lag neben dem Wissen um den von allen anderen ungekannten geheimen Gott in der steten Forderung nach gerechtem Leben im Kampf gegen das Böse und Schlechte, was besonders für Soldaten von erheblicher Bedeutung war, die darin eine Legitimierung ihres Kämpfens gegen die Feinde des geordneten und gerechten Imperiums erblickten. Letztlich ist dieser weit verbreiteten und sehr moralischen Religion ihre Ähnlichkeit zum Christentum zum Verhängnis geworden, was deren besonderen Ingrimm nach sich zog. Das belegen neben den zahlreichen literarischen Invektiven auch die zahlreichen in kleinste Teile zerschlagenen Kultbilder, die christlichen Bilderstürmern zum Opfer fielen.
Die Wahrheit ist seltsamer als die Fiktion, weil die Fiktion Sinn machen muss.