Mit demselben Eifer, den einige religiöse Extremisten hier an den Tag legen, verfolgen sie auch die "Abtrünnigen" aus den eigenen Reihen, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, an was sie zu glauben haben. Besonders unter fanatischen Muslimen kann ein solches Bekenntnis lebensgefährlich sein, da sie die Toleranz, die sie so gern einfordern, nicht selbst zu geben bereit sind. Vielleicht meinen die Haßprediger mit der Phrase "radikale Atheisten" ja nur die "Abtrünnigen" aus den eigenen Reihen?
Trotz der Gefahr, als »Ketzer« aus der Gesellschaft zu fallen, suchen die anonymen Diskussionsteilnehmer ein Gespräch jenseits der Dogmen. Sie sind das exakte Gegenbild zum Typus des glaubensfanatischen Morgenländers, der hierzulande durch die Debatten geistert. Statt arabischer Terroristen also arabische Atheisten, deren Waffe das freie Wort ist. Sie streiten offen über Politik, Wirtschaft, Kunst und entlarven die Rede von der »unüberwindlichen Kluft zwischen Orient und Okzident« als tumbe Kulturkampf-Phrase. Sie sind ein internationaler Debattierklub mit mittlerweile 15.000 eingetragenen Mitgliedern weltweit, die keinen Glauben mehr, aber eschatologische Fragen haben und oft ganz ähnlich über die letzten Dinge räsonieren wie die Philosophen des Abendlandes.
»Was ist der Sinn des Lebens?«, schreibt ein User. »Religionen gaukeln uns doch etwas vor. Das menschliche Leben ist, für sich genommen, leer, wenn wir es nicht selbst mit Sinn füllen.« Darauf ergeht die existenzialistische Antwort: »Das Leben bleibt so oder so sinnlos.« Soll heißen, wir müssen uns mit der Absurdität unserer Existenz abfinden. Camus und Sartre erleben hier, unterm Druck religiöser Denkverbote, ihre arabische Wiedergeburt.
Hinter dem Projekt steckt ein länderübergreifendes Team, das sich im Internet kennengelernt hat und die Seite seit fünf Jahren gemeinsam betreibt. Der Initiator heißt Mohamed, ist Ägypter und lebt heute in Berlin. Außerdem gehören noch ein Mann aus Jordanien sowie zwei weitere Betreiber aus arabischen Ländern dazu, die nicht genannt werden sollen. Denn Atheismus gilt als Apostasie, als Abfall vom Glauben, worauf im islamischen Recht die Todesstrafe steht. Zwar haben sich die meisten islamischen Länder von dieser koranbezogenen Rechtsprechung distanziert. Todesurteile sind nur in Ländern wie Saudi-Arabien oder Iran denkbar, und verhängt werden sie selbst dort nur in Ausnahmefällen. Trotzdem schweben Apostaten auch in jenen Staaten, die als verwestlicht gelten, in ernster Gefahr. Für Ägypten etwa erlangte der Fall des Universitätsdozenten Nasr Hamid Abu Zaid traurige Popularität. Abu Zaid trat für eine literaturkritische Auslegung des Korans ein, was ihm als Ketzerei ausgelegt wurde, da der Koran als Gottes unverfälschtes Wort gilt. Per Gerichtsverfahren wurde Abu Zaid 1995 von seiner Frau zwangsgeschieden und erhält noch heute, im holländischen Exil, Morddrohungen.
Wer angesichts dieser Lage ein Netzwerk für Gotteszweifler betreibt, ist nicht nur mutig, sondern Avantgarde. Allerdings herrscht auf el7ad.com keine Kampfesstimmung, sondern ein starker Friedenswille. Der immense Druck, öffentlich nicht vom Islam abzuweichen, soll nicht in einseitige Schelte gegen Gläubige münden. »Wir sind eine Gruppe von Atheisten, die nach Meinungsfreiheit streben«, heißt es in einer Präambel der Seite, »viele glauben fälschlicherweise, wir seien Feinde der Religion. Dabei wollen wir niemandem unsere Ansicht, dass Gott nicht existiert, aufzwingen. Wir glauben an Frieden.« Solche Spielregeln haben die Betreiber gleich zu Anfang formuliert. Denn das Forum ebenso wie sein Gründer will mit der muslimischen Welt in Kontakt bleiben. Mohamed sitzt in seiner Zweizimmerwohnung in Berlin, in einem düsteren Wohnraum, voll gestapelt mit Festplatten. Der Informatiker hat auch Theaterwissenschaften und BWL studiert; seine Überzeugung, dass es keine Seele und keinen Gott gibt, sondern nur Bewegungen von Molekülen, hat sich über Jahre aufgebaut. Als Jugendlicher war es selbst noch gläubig, bis heute betört ihn die sprachliche Schönheit des Korans, den er, ganz unironisch, sein »Lieblingsbuch« nennt. Er kann Muslime verstehen, weil er selbst einer war, doch Vorschriften, was er zu glauben habe, lässt er sich nicht mehr machen.
http://www.zeit.de/2010/18/Arabische-Atheisten